Charles Dickens
Master Humphrey's Wanduhr. Erster Band
Charles Dickens

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Der Raritätenladen.

Fünfzehntes Kapitel

Oft noch, während sie am Morgen ihrer Flucht durch die schweigenden Straßen der Stadt wanderten, zitterte das Kind unter dem gemischten Gefühle von Hoffnung und Furcht, wenn ihre rege Phantasie in irgend einer fernen Gestalt, die sie ungeachtet des klaren Himmels nur undeutlich zu unterscheiden vermochte, eine Aehnlichkeit mit dem ehrlichen Kit zu erkennen glaubte. Aber obgleich sie ihm gerne die Hand gereicht, und ihren Dank für das, was er bei der letzten Begegnung zu ihr gesagt, gegen ihn ausgedrückt haben würde, so war es ihr doch immer ein Trost, wenn sie beim Näherkommen sah, daß sie sich getäuscht hatte; denn abgesehen von der Furcht vor den Folgen, welche ein solcher Anblick auf ihren Reisegefährten hätte hervorbringen können, fühlte sie auch, daß jetzt ein Abschied, und vor Allem ein Abschied von Dem, der sich so treu und ergeben gegen sie erwiesen, mehr war, als sie ertragen konnte. Es war genug, stumme Dinge zurückzulassen – Gegenstände, die sowohl gegen ihre Liebe, als gegen ihren Schmerz unempfindlich waren. Ein Abschied aber von ihrem einzigen anderen Freunde bei dem Beginne ihrer abenteuerlichen Wanderung würde ihr in der That das Herz gebrochen haben.

Wie kömmt es doch, daß wir ein Lebewohl im Geist weit besser ertragen können, als ein persönliches, und daß wir, trotz des Muthes zur Trennung, nicht die Kraft haben, die Scheideworte auszusprechen? Am Vorabende langwieriger Reisen, oder einer Abwesenheit von vielen Jahren trennen sich Freunde, die sich zärtlich lieben, mit dem gewöhnlichen Blicke und dem herkömmlichen Händedrucke, zugleich noch eine Schlußzusammenkunft für den Morgen verabredend, während doch Jeder recht wohl weiß, daß es nur eine arme Finte ist, um sich den Schmerz des Lebewohls zu ersparen, und daß die nochmalige Begegnung nicht stattfinden wird. Sind denn Möglichkeiten schwerer zu ertragen, als die Gewißheit? Wir scheuen uns nicht, an das Sterbelager unserer Freunde zu treten, und von Einem derselben nicht ausdrücklich Abschied genommen zu haben, verbittert Einem oft den ganzen Rest des Lebens, obgleich man sich mit aller Liebe und Zärtlichkeit von ihm getrennt hatte.

Die Stadt prunkte heiter im Glanze des Morgens; Plätze, welche die Nacht über häßlich und verdächtig anzusehen gewesen, trugen jetzt ein freundliches Lächeln zur Schau, und glitzernde Sonnenstrahlen, die in den Kammerfenstern tanzten und durch die Läden und Vorhänge vor den Augen der Schläfer zitterten, gossen Licht sogar in die Träume, und verscheuchten die Schatten der Nacht. Vögel, in ihren dumpfigen Käfichten dicht verhüllt, fühlten, daß es Morgen war, und flatterten unruhig in ihren kleinen Behausungen umher; helläugige Mäuschen krochen in ihre winzigen Wohnungen zurück und nestelten sich scheu zusammen; die geleckte Hauskatze, ihrer Beute vergessend, saß blinzelnd in den Strahlen der Sonne, die durch Schlüsselloch und Thürritzen drangen, und sehnte sich, verstohlen hin und her zu rennen, oder sich in der Sonne zu wärmen. Die edleren, auf Ställe angewiesenen Thiere standen regungslos hinter ihren Raufen und sahen mit Augen, in denen alte Wälder leuchteten, auf die wehenden, vom Lichte vergoldeten blätterreichen Zweige vor dem kleinen Fenster, traten dann ungeduldig in die Spuren, welche ihr gefangener Huf geschlagen, hielten wieder inne und sahen abermals hin. Menschen in ihren Kerkern streckten krampfhaft ihre kalten Gliedmaßen und verwünschten den Stein, welchen kein heiterer Himmel erwärmen konnte. Die zur Nachtzeit schlafenden Blumen öffneten ihre zarten Augen und wandten sich dem Tage zu. Das Licht, die Seele der Schöpfung, war allenthalben, und alle Dinge erkannten seine Macht an.

Die beiden Pilger drückten sich oft gegenseitig die Hände, wechselten ein Lächeln, oder warfen sich einen freudigen Blick zu und setzten schweigend ihren Weg fort. So hell und heiter auch der Tag war, so lag doch etwas Feierliches in den langen verödeten Straßen, aus denen, wie aus seelenlosen Körpern, der gewohnte Ausdruck und Charakter gewichen war, ohne etwas Anderes zurückzulassen, als jene todte, einförmige Ruhe, in welcher sich Alle glichen. Es war überall so still um diese frühe Stunde, daß die wenigen blassen Leute, welchen sie begegneten, eben so wenig für die Scene zu passen schienen, als die dahinsiechende Lampe, welche hin und wieder noch brannte, sich ohnmächtig und kraftlos gegenüber der vollen Sonnenglorie erwies.

Ehe sie noch sehr weit in das Labyrinth der Menschenwohnungen eingedrungen waren, welches zwischen ihnen und den Vorstädten lag, begann dieser Anblick dahin zu schmelzen und Lärm und rühriges Treiben an seine Stelle zu treten. Einzelne vorbeirasselnde Karren und Kutschen unterbrachen zuerst den Zauber; dann kamen Andere und wieder Andere – zuletzt eine rührige Masse. Anfangs war es ein Wunder, einen Krämerladen offen zu sehen, aber bald gehörte es zu den Seltenheiten, wenn man einen geschlossenen fand; dann stieg der Rauch langsam aus den Schornsteinen auf, und Schiebefenster wurden zurückgezogen, um die Luft einzulassen; die Thüren gingen auf, und Dienstmädchen, die schläfrig in alle Richtungen, nur nicht nach ihrem Besen, sahen, kehrten schwarze Staubwolken in die Augen der sich zurückziehenden Vorübergehenden, oder horchten trostlos den Milchmädchen zu, welche von den Jahrmärkten auf dem Lande erzählten, oder von Wagen in den Gehägen nebst ihren Leinwandplanen und allem Möglichen sprachen, natürlich die galanten Bauernbursche nicht ausgenommen, – lauter Dinge, welche ihnen die nächstkommende Stunde bringen sollte.

Als sie diesen Theil der Stadt hinter sich hatten, kamen sie an die Orte des kaufmännischen Verkehrs und des Großhandels, wo viele Leute in Thätigkeit und die Geschäfte bereits in vollem Gange waren. Der alte Mann sah mit entsetztem und verwirrtem Blicke um sich, denn dieß waren Plätze, die er nicht schauen mochte; er drückte seinen Finger auf die Lippen, zog das Kind durch enge Höfe und gewundene Nebenwege mit sich fort und schien nicht eher ruhig werden zu können, bis all' dieß weit hinter ihm lag, wobei er oft zurückschaute und vor sich hin murmelte, Verderben und Selbstmord laure hier auf jeder Straße, um ihn zu verfolgen, sobald sie ihn ausgewittert hätten, weßhalb sie nicht geschwind genug fliehen könnten.

Als sie diesen Stadttheil zurückgelegt hatten, kamen sie zu vereinzelten Häusergruppen, wo die schlechten Wohnungen, nach Stuben abgetheilt, und die mit Lumpen und Papier verklebten Fenster, von der volkreichen Armuth, die hier ihr Unterkommen hatte, Zeugniß ablegte. Die Läden wiesen nur solche Waaren auf, welche der Dürftige kaufen konnte, und Käufer wie Verkäufer suchten sich in der gleichen Weise zu übervortheilen. Da waren elende Straßen, wo entschwundener Wohlstand auf sparsamem Raume mit den aus dem Schiffbruche geretteten Mitteln seinen letzten schwachen Stand zu behaupten suchte; auch Steuerbeamte und Gläubiger kamen hierher, wie an andere Orte, und die Armuth, die noch schwach ankämpfte, war kaum weniger unfläthig und augenfällig, als diejenige, welche schon längst allen Widerstand aufgegeben hatte.

Dieß war ein weiter, weiter Strich – denn das niedrige Feldlagergefolge des Reichthums steckt seine Zelte auf Meilen in die Runde auf – aber sein Charakter blieb sich immer gleich. Feuchte, verfaulende Häuser, manche zu vermiethen, manche noch auszubauen, viele erst halb gebaut und schon wieder vermodernd – Wohnungen, wo man schwer sagen konnte, ob der Vermiether oder der Miether mehr zu bedauern war – Kinder, dürftig genährt und gekleidet, die auf jeder Straße herumlungerten und sich im Staube wälzten – scheltende Mütter, die unter lärmenden Drohungen mit ihren Holzschuhen das Pflaster stampften – schäbige Väter, mit glanzlosen Blicken an das Geschäft eilend, welches ihnen das »tägliche Brod« und nichts weiter einbrachte – Mangweiber, Wäscherinnen, Schuhflicker, Schneider, Lichterzieher, die in Stuben und Küchen, Hinterräumen und Dachkammern (bisweilen all' dieß unter demselben Dache) ihr Gewerbe trieben – Ziegelfelder, an Gärten gränzend, die mit alten Faßdauben oder bei einem Brande gestohlenen, halb verkohlten Balken verzäunt waren – Wälle von Seegras, Nesseln, Schilf und Austerschaalen, in wilder Verwirrung aufgehäuft – kleine Dissenterkapellen für den Unterricht, denen es nicht fehlen konnte, mittelst des nahe genug liegenden Elends der Erde und unter Beistand der mit einigem überflüssigem Reichthum in Fülle erbauten neuen Kirchen den Weg nach dem Himmel zu zeigen.

Endlich wurden diese Straßen immer dünner und dünner besäet, bis nur noch kleine Gartenstücke an den Weg gränzten, in denen sich hin und wieder ein ungeschminkt aus altem Gebälk oder den Bruchstücken eines Bootes gebautes Sommerhaus befand, grün angelaufen, wie die zähen Kohlstrünke, die umherwuchsen, und an den Fugen grottenartig mit giftigen Pilzen und an einander klebenden Schnecken verziert. Dann folgten zu zwei und zwei naseweise Landhäuschen, vorne mit einem Bodenstück versehen, das in eckige, mit steifen Buchseinfassungen und dazwischen liegenden engen Wegen ausgestattete Beete abgetheilt ward, ohne daß sich je ein Fußtritt dahin verirrte, um den Kies rauh zu machen. Dann kam das Wirthshaus, frisch grün und weiß gemalt, mit Theegärten und einer Kegelbahn, welches seinen alten Nachbar durch den Pferdetrog, vor welchem die Wagen hielten, höhnte; dann Felder, und dann einige Häuser von ziemlicher Größe mit Höfen, einige sogar mit einem Vorhause, wo ein Portier mit seinem Weibe wohnte. Dann kam ein Schlagbaum; dann wieder Felder mit Bäumen und Heuschobern; dann ein Hügel, auf dessen Spitze der Wanderer Halt machen und – zurücksehen kann, nach dem alten Saint Paulsthurme, wie er durch den Rauch kaum sichtbar wird, während an schönen Tagen sein Kreuz über der Wolke wegsieht und in der Sonne gleist: wenn er dann seine Blicke auf das Babel wirft, aus welchem die Cathedrale auftaucht, und dessen Spuren hinab bis zu den äußersten Vorposten der herandringenden Armee von Ziegelsteinen und Mörtel verfolgt, die beinahe zu seinen Füßen liegen‹ – dann mag er endlich fühlen, daß er Londons ledig geworden ist.

In der Nähe eines solchen Ortes und in einem angenehmen Felde ließen sich der alte Mann und seine kleine Führerin (wenn von Führen die Rede sein kann, wo man nicht weiß, wohin man gehen will) nieder, um auszuruhen. Sie hatte die Vorsicht beobachtet, ihren Korb mit einigen Stückchen Fleisch und Brod zu versehen, und hier hielten sie ein frugales Frühstück.

Die Frische des Tages, der Gesang der Vögel, die Schönheit des wallenden Grases, das tiefe Grün der Blätter, die wilden Blumen und die tausend herrlichen Düfte und Töne, welche in der Luft schwammen – erhebende Genüsse für die Meisten von uns, besonders aber für die Mehrzahl derjenigen, welche im Strudel oder in der Einsamkeit großer Städte, wie in dem Eimer eines Menschenbrunnens, leben – senkten sich in ihre Herzen und machten ihre Seelen freudig. Das Kind hatte an diesem Morgen schon einmal sein kunstloses Gebet gesprochen, vielleicht mit mehr Ernst, als es je zuvor geschehen war; aber im Gefühle des Zaubers der Gegenwart erhob es sich abermals zu ihren Lippen. Der alte Mann nahm seinen Hut ab – er hatte kein Gedächtniß für die Worte – aber er sagte sein Amen dazu, und meinte, daß sie sehr gut wären.

Auf einem Gesimse ihrer vormaligen Heimath hatte ein alter Abdruck von »des Pilgers Reise«Von Bunyon. mit sonderbaren Bildern, gelegen, ob dem sie oft ganze Abende zugebracht hatte und dabei gerne hätte wissen mögen, ob jedes Wort darin wahr wäre und wo wohl die fernen Gegenden mit ihren seltsamen Namen liegen möchten. Als sie jetzt auf den verlassenen Ort zurückblickte, kam ihr eine Stell des Buches wieder lebhaft in's Gedächtniß.

»Lieber Großvater,« sagte sie, »es ist mir fast, als wären wir Beide jener Christian und legten auf diesem Grase alle jene Sorten und Mühen, die wir mitgebracht haben, nieder, um sie nicht mehr aufzunehmen, nur daß dieser Ort viel hübscher und besser aussieht, als der eigentliche, wenn nämlich der im Buche getroffen ist.«

»Nein – wir wollen nie wieder zurückkehren – nie wieder zurückkehren,« versetzte der alte Mann, gegen die Stadt hinwinkend. »Du und ich, wir beide haben uns jetzt losgemacht, Nell. Sie sollen uns nicht mehr zurücklocken.«

»Sind Sie müde?« fragte das Kind. »Fühlen Sie sich auch gewiß nicht unwohl von dem langen Gehen?«

»Ich werde mich nie wieder unwohl fühlen, nun wir einmal fort sind,« war seine Antwort. »Wir müssen uns rühren – wir müssen noch weiter fort – noch viel, viel weiter. Wir sind noch zu nahe, um zu halten und auszuruhen, komme!«

Auf dem Felde befand sich ein Weiher mit klarem Wasser, in welchem die Kleine Hände und Gesicht wusch und ihre Füße abkühlte, ehe sie weiter gingen. Sie wollte haben, daß sich der alte Mann gleichfalls auf diese Weise erfrischte; sie veranlaßte ihn daher, sich auf's Gras zu setzen, goß Wasser mit den Händen über ihn und trocknete ihn sodann mit ihrem einfachen Anzuge.

»Ich selbst kann nichts für mich thun, meine Liebe,« sagte der Großvater. »Ich weiß nicht, wie es kommt; ich konnte es einmal, aber diese Zeit ist vorbei. Verlaß mich nicht, Nell – sage mir, daß du mich nicht verlassen willst. Ich habe dich immer geliebt, gewiß, ich liebte dich immer. Wenn ich auch dich noch verliere, mein Herz, so muß ich sterben!«

Er legte seinen Kopf auf ihre Schulter und stöhnte kläglich. Es gab eine Zeit, und zwar kaum noch vor ein paar Tagen, wo das Kind es nicht vermocht hätte, seiner Thränen zu wehren, sondern mit ihm geweint haben würde. Jetzt aber beruhigte sie ihn mit sanften und zärtlichen Worten, lächelte über seinen Einfall, daß sie sich je trennen könnten, und neckte ihn deßhalb mit heiteren Scherzreden. Er wurde bald wieder ruhig und verfiel in Schlaf, sich selbst leise zusingend, wie ein kleines Kind. Er erwachte neugestärkt und Beide nahmen ihre Wanderung wieder auf. Der Weg war lieblich: er führte durch schöne Auen und Fruchtfelder, ob denen hoch am klaren, blauen Himmel sich die Lerche wiegte und ihr frohes Liedchen trillerte. Die Luft führte ihnen Düfte zu, welche sie unterwegs gefunden, und die Bienen, getragen von ihrem würzigen Odem, summten in schläfrigem Behagen, als sie vorüberschwammen.

Sie befanden sich nun in dem offenen Lande; Häuser gab es nicht viele, und auch diese standen in langen, oft meilenweiten Zwischenräumen. Hin und wieder trafen sie auf eine Gruppe armseliger Hütten, deren offene Thüren zum Theil durch eine Bank, oder ein niedriges Brett verlegt waren, um die herumkrabbelnden Kinder von der Straße abzuhalten, während man andere geschlossen hatte, weil die ganze Familie auf dem Felde arbeitete. Dieses war oft der Anfang eines kleinen Dorfes, hinter denen man in einiger Entfernung auch die Werkstätte eines Wagners, oder die Esse eines Hufschmieds traf; dann kam vielleicht eine blühende Meierei, wo schläfrige Kühe in dem Hof herum lagen, während Pferde über die niedrige Mauer sahen und, als wollten sie über ihre Freiheit triumphiren, davon rannten, wenn Rosse in ihren Geschirren des Weges kamen. Auch träge Schweine waren da, die die den Boden nach leckerer Kost durchwühlten und ihr monotones Grunzen ausstießen, wenn sie umherschnupperten, oder sich bei ihrem Suchen gegenseitig in's Gehäge kamen; fette Tauben schwirrten um das Dach, oder putzten sich auf den Traufen; und Enten und Gänse, die sich für gar anmuthig halten mochten, watschelten tölpisch an dem Rande des Weihers hin oder schwammen hurtig über dessen Oberfläche. Hinter der Meierei kam das kleine Gasthaus, die unbedeutendere Bierschenke und der Laden des Krämers; dann die Wohnungen des Advokaten und des Pfarrers, bei deren gefürchteten Namen die Bierschenke zitterte; dann schaute die Kirche bescheiden aus einer Gruppe von Bäumen heraus, dann kamen noch einige Bauernhütten, dann die Triller und der Pfandstall, und nicht selten ganz am Wege ein tiefer, staubiger Brunnen – nach diesem zu beiden Seiten die eingehägten Felder, und endlich wieder die offene Landstraße.

Sie gingen den ganzen Tag fort und schliefen die Nacht über in einem kleinen Bauernhause, wo Betten für Reisende zu vermiethen waren. Am andern Morgen waren sie zeitig wieder auf den Beinen, und obgleich sie anfangs noch sehr ermüdet waren, so erholten sie sich doch bald und schritten rüstig weiter.

Sie machten oft Halt, um auszuruhen, aber immer nur eine kleine Weile, worauf sie wieder aufbrachen, obschon sie am Morgen nur eine geringe Erfrischung zu sich genommen halten. Es war beinahe fünf Uhr des Nachmittags, als sie sich abermals einem Haufen von Arbeiterhütten näherten. Das Kind sah sehnsüchtig jede an, zweifelhaft, in welcher sie sich ein kurzes Ruheplätzchen erbitten und einen Trunk Milch kaufen wollte.

Es wurde ihr nicht leicht, zu einem Entschlusse zu kommen, denn sie war schüchtern und fürchtete eine Zurückweisung. Hier weinte ein Kind und dort keifte eine Frau; in der einen waren ihr die Leute zu arm, in der andern waren ihrer zu viele.

Endlich machte sie vor einen Hause Halt, wo die Familie um einen Tisch herum saß – sie that es hauptsächlich deßhalb, weil ein alter Mann in einem Polsterstuhle neben dem Herd saß; sie dachte ihn als einen Großvater, und hoffte, er werde auch für den ihrigen Mitgefühl haben.

Außerdem war der Bauer und sein Weib da, mit drei jungen, kräftigen Kindern, braun wie Beeren. Ihrer Bitte wurde unverzüglich willfahrt. Der älteste Knabe eilte hinaus, um etwas Milch zu holen, der zweite schleppte zwei Schemel an die Thüre, und der jüngste klammerte sich an das Gewand seiner Mutter und sah durch die sonnenverbrannten Finger auf die Fremdlinge.

»Grüß Euch Gott, Meister,« sagte der alte Hüttenbewohner mit dünner, pfeifender Stimme. »Geht die Reise weit?«

»Ja, Herr; wir haben einen langen Weg zu machen,« versetzte das Kind, denn ihr Großvater hatte sich an sie gewendet.

»Von London?« fragte der alte Mann.

Das Kind bejahte diese Frage.

Ah! Er war oft in London gewesen – hatte seiner Zeit nicht selten mit Wagen dahin müssen. Seit zweiunddreißig Jahren hatte er es aber nicht wieder gesehen, und er wollte gehört haben, daß seitdem Vieles anders geworden sei. Wohl möglich! War ja seitdem auch mit ihm Vieles anders geworden! Zweiunddreißig Jahre sind eine lange Zeit, meinte er, und vierundachtzig ein hohes Alter, obgleich er von Leuten erzählen konnte, die fast hundert erlebt hatten und lange nicht so rüstig waren, als er – nein, nicht entfernt.

»Setzt Euch da in den Lehnstuhl, Meister,« sagte der alte Mann, indem er mit seinem Stock auf den gepflasterten Boden stieß und dieses Manöver recht kräftig auszuführen versuchte. »Nehmt eine Prise aus dieser Dose; ich schnupfe zwar nicht viel, denn der Tabak ist theuer; aber ich finde, daß er mich manchmal aufweckt, und Ihr seid nur ein Junge gegen mich. Ich könnte jetzt einen Sohn haben, der fast so alt wäre, als Ihr, wenn er noch lebte, aber sie nahmen ihn zum Soldaten weg – er kam freilich wieder heim, aber nur mit einem einzigen armseligen Bein. Er hat immer gesagt, er wolle bei der Sonnenuhr begraben werden, an der er so gerne heran kletterte, als er noch ein Kind war – ja, so sagte der arme Junge, und seine Worte sind wahr geworden – Ihr könnt von hier aus den Platz sehen; wir haben seitdem den Rasen immer in gutem Stand erhalten.«

Er schüttelte den Kopf, sah mit thränenfeuchten Augen seine Tochter an und sagte, sie brauche nicht zu fürchten, daß er weiter davon spreche; er wolle Niemand beunruhigen, und wenn er dieß durch seine Worte gethan habe, so könne er nichts weiter thun, als um Verzeihung bitten.

Jetzt langte die Milch an; die Kleine brachte ihr Körbchen hervor, wählte die besten Bissen für ihren Großvater aus, und so hielten sie eine erfrischende Mahlzeit. Die Möbel der Stube waren natürlich sehr ländlich – ein paar rauhe Stühle und ein Tisch, ein Wandschrank mit seinem kleinen Vorrath von Töpfergeschirr und Steingut, eine Theekanne, auf welcher eine Dame in schreiend rothem Kleide in einem sehr blauen Sonnenschirm spazieren ging, ein paar gewöhnliche, colorirte Bibelbilder in Rahmen an der Wand und dem Kamin, ein alter, zwergartiger Kleiderschrank und eine Achttaguhr nebst einigen blanken Pfannen und einem Kessel – hieraus bestand der ganze Vorrath. Aber alles war nett und reinlich, und als sich das Kind umsah, fühlte es eine so behagliche und zufriedene Ruhe, wie es sich derselben lange nicht mehr erfreut hatte.

»Wie weit ist's bis zu einer Stadt oder einem Dorfe?« fragte sie den Hauswirth.

»Man spricht davon guten fünf Meilen, meine Gute,« lautete die Antwort. »Aber Ihr wollt doch nicht diesen Abend noch hingehen?«

»Ja, ja, Nell,« sagte der alte Mann hastig, indem er durch Zeichen in sie drang. »Wir müssen weiter, weiter, mein Kind – immer weiter, und wenn wir bis Mitternacht gehen müßten.«

»Wir haben eine gute Scheuer in der Nähe, Meister,« entgegnete der Bauer; »auch können Reisende in dem Wirthshaus ›Pflug und Egge‹ ein Unterkommen finden. Ihr müßt entschuldigen, aber Ihr scheint mir ein Bischen müde, und wenn es Euch nicht sehr daran gelegen ist, fortzukommen –«

»Ja, ja, es ist uns sehr daran gelegen,« erwiederte der alte Mann ärgerlich. »Mache, daß wir weiter kommen, liebe Nell; ich bitte, beeile dich.«

»Wir müssen in der That fort,« sagte das Kind, dem Drängen des Großvaters nachgebend. »Wir danken Euch recht sehr, aber wir dürfen nicht so bald Halt machen. Ich bin bereit, Großvater.«

Die Frau hatte jedoch an dem Gange der jungen Pilgerin bemerkt, daß einer ihrer kleinen Füße Blasen hatte, und da sie ein Weib und zugleich Mutter war, so wollte sie die arme Nell nicht ziehen lassen, bis sie die Stelle gewaschen und irgend ein einfaches Hausmittel darauf angewendet hatte, was sie so sorgfältig und mit so zarter Hand vollführte (obgleich dieselbe rauh und hart von der Arbeit war), daß das Kind in der Ueberfülle ihres Herzens nicht mehr, als ein glühendes »Gott lohne es Euch!« auszusprechen vermochte; auch konnte sie nicht zurücksehen, oder auch nur Worte finden, bis sie die Hütte weit hinter sich hatten. Als sie sich jetzt umwandte, sah sie, wie die ganze Familie, selbst den alten Großvater nicht ausgenommen, auf dem Wege stand und ihnen nachsah; und so verabschiedete sie sich unter vielen Handschwenkungen und grüßendem Zunicken – aber auch nicht ohne Thränen, wenigstens von einer Seite.

Sie hatten sich – freilich langsam und beschwerlicher als es bisher der Fall gewesen – ungefähr eine Stunde oder etwas darüber weiter geplackt, als sie hinter sich Rädergerassel vernahmen, und ein Rückblick belehrte sie, daß ihnen ein leerer Karren rasch nachkam. Als er bei ihnen anlangte, ließ der Treiber sein Pferd Halt machen und sah Nelly ernst an.

»Habt Ihr in einer Hütte dort ausgeruht?« fragt er.

»Ja, Sir,« versetzte das Kind.

»Ah! Man hat mir dort gesagt, ich solle mich nach Euch umsehen,« versetzte der Mann. »Ich fahre den gleichen Weg. Gebt mir Eure Hand. Hinauf mit Euch, Meister.«

Dieß war eine große Erleichterung, denn sie waren sehr müde und konnten sich kaum weiter schleppen. Der Karren erschien ihnen daher trotz seines Stoßens als eine üppige Equipage und die Fahrt selbst als der köstlichste Genuß von der Welt. Nell hatte sich kaum in eine Ecke niedergesetzt, als sie in Schlaf verfiel – das erste Mal an diesem Tag.

Sie wurde durch das Anhalten des Karrens geweckt, der eben im Begriff war, in einen Seitenweg einzubiegen. Der Kärrner stieg freundlich aus, um ihr herunter zu helfen, deutete auf einige Bäume in kurzer Entfernung von ihnen und sagte, daß dort die Stadt läge; sie würden übrigens gut thun, den Pfad einzuschlagen, der durch den Kirchhof führe und den sie nicht verfehlen könnten. Demgemäß lenkten sie ihre müden Schritte der angedeuteten Stelle zu.



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