Charles Dickens
Master Humphrey's Wanduhr. Erster Band
Charles Dickens

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Master Humphrey von der Wanduhrseite seines Kaminwinkels

Zwei oder drei Abende nach der Constituirung von Herrn Weller's Taschenuhr glaubte ich, bei Gelegenheit eines Spaziergangs im Garten, in einiger Entfernung Herrn Weller's Stimme zu hören. Ich hielt einige Male inne, um desto achtsamer horchen zu können, und fand sodann, daß die Töne aus dem kleinen Zimmer meiner Haushälterin kamen, welches an der Hinterseite des Gebäudes liegt. Ich nahm damals keine weitere Notiz von dem Gegenstande, aber er bildete am andern Morgen das Thema eines Gesprächs zwischen mir und meinem Freund Jack Nedbourn, bei welcher Gelegenheit ich fand, daß ich mich in der Thatsache nicht getäuscht hatte. Jack berichtete mir die nachstehenden Einzelheiten, und da er an dem Erzählen derselben ein besonderes Vergnügen zu finden schien, so bat ich ihn, in Zukunft solche häusliche Scenen und Begebnisse, falls sie seiner Laune entsprächen, ausführlich niederzuschreiben, damit sie in seiner eigenen Manier veröffentlicht werden könnten. Ich muß übrigens gestehen, daß mich hiezu auch der geheime Wunsch veranlaßte, etwas von seinem und von Herrn Pickwick's Treiben zu erfahren, weil ich wußte, daß diese beiden Ehrenmänner bei einander steckten.

An dem genannten Abende war das Zimmer der Haushälterin mit besonderer Sorgfalt arrangirt und die Haushälterin selbst ungewöhnlich herausgeputzt. Die Zurüstungen beschränkten sich jedoch nicht auf bloße Schaudemonstrationen, denn es war auch für drei Personen Thee bereitet, nebst einem kleinen Vorrath von Konfitüren, eingemachten Früchten und süßen Kuchen, welche jedenfalls etwas ganz Ungewöhnliches verkündigten. Miß Benton (dieß ist nämlich der Name meiner Haushälterin) befand sich gleichfalls in einem Zustande großer Spannung, denn sie ging oft nach der Hausthüre und sah ängstlich die Straße hinunter, und mehr als einmal bemerkte sie gegen das Dienstmädchen, sie erwarte Gesellschaft und hoffe, daß doch nichts Unangenehmes vorgefallen sei, weil sie so lange zögere.

Ein bescheidenes Klingeln beschwichtigte endlich alle Besorgnisse; Miß Benton eilte jetzt nach ihrem Zimmer, wo sie sich einschloß, um den Schein der Ueberraschung, der so wesentlich zum höflichen Empfang von Gästen gehört, zu wahren, und erwartete mit lächelndem Gesichte ihre Ankunft.

»Guten Abend, Mamsell,« sagte der alte Herr Weller, indem er nach einem vorläufigen Klopfen zu der Thüre hereinsah; »ich fürchte, wir kommen etwas nach der Zeit, Mamsell, aber der kleine Balg ist voll Bosheit und hat in allen Winkeln und an allen Ecken seine Beine so fleißig gebraucht, daß er, wenn er nicht bald damit abbricht, mir das Herz brechen wird, und dann braucht er nicht weiter, als an der Schrift auf seines Großvaters Grabstein das Buchstabiren zu lernen.«

Mit diesen pathetischen Worten, welche an einen vor der Thüre befindlichen, ungefähr zwei Fuß hohen Gegenstand gerichtet waren, führte Herr Weller einen kleinen Jungen mit ein paar stämmigen Beinen herein, welcher aussah, als ob ihn nichts niederschlagen könnte. Der junge Herr besaß außerdem ein sehr rundes Gesicht, das dem des Herrn Weller auffallend ähnelte, und einen stämmigen Körper, gleichfalls von seines Großvaters Bauart, und pflanzte sich nunmehr, die kleinen Beine weit gespreizt, auf, als wären sie schon ganz daran gewöhnt, Stulpenstiefel zu tragen, wobei er, in Nachahmung seines Großvaters, mit seinem unschuldigen Auge der Haushälterin förmlich zublinzelte.

»Das ist ein nichtsnutziger Junge, Mamsell,« sagte Herr Weller, in ein heftiges Lachen ausbrechend, »das ist ein unmoralischer Tony. Hat man je zuvor erlebt, daß ein kleiner Knirps von vier Jahren und acht Monaten einer fremden Dame zugeblinzelt hätte?«

Eben so wenig durch diese Bemerkung, als durch die frühere Berufung an seine Gefühle gerührt, schwang der junge Herr Weller ein kleines Modell von einer Kutscherspeitsche, das er in der Hand hatte, in die Luft und redete die Haushälterin mit einem schrillen »Hüoh-Hü!« an, indem er die Frage beifügte, ob sie, »die Straße hinunter fahren« wolle. Bei dieser glücklichen Anwendung einer Lektion, die man ihn von dem Wickelbande an gelehrt hatte, konnte Herr Weller seine Gefühle nicht länger zurückhalten, sondern schenkte ihm auf der Stelle zwei Pence.

»Es ist umsonst, es zu leugnen, Mamsell,« sagte Herr Weller, »aber dieser Junge da ist ganz nach dem Herzen seines Großvaters und sticht alle Jungen aus, die je gewesen sind, oder sein werden. Gleichwohl muß ich aber sagen, Mamsell,« fügte Herr Weller bei, indem er es versuchte, gravitätisch auf seinen Liebling hinunter zu sehen, »es war sehr unrecht von ihm, daß er auf dem Herwege über alle Pfosten hinüber wollte, und noch obendrein sehr grausam, daß er seinen armen Großvater zwang, ihm mit gekreuzten Beinen darüber weg zu helfen. Nicht einen einzigen solchen verwünschten Pfosten konnte er unpassirt lassen, Mamsell, und oben in der Gasse sind ihrer siebenundvierzig, alle in einer Reihe und ganz nahe bei einander.«

Herr Weller, dessen Gefühle in beharrlichem Widerstreit mit dem Stolze auf die Talente seines Enkels, dem Bewußtsein seiner eigenen Verantwortlichkeit und der Wichtigkeit, ihm moralische Lehren einzuprägen, standen, brach jetzt in ein lautes Lachen aus, welches er jedoch schnell wieder zügelte, indem er mit strengem Tone bemerkte, daß kleine Jungen, welche sich durch ihre Großväter über Pfosten hinweg helfen ließen, um keinen Preis in den Himmel kämen.

Inzwischen hatte die Haushälterin Thee eingeschenkt und den kleinen Tony, welcher auf einem Stuhle neben ihr saß und sich mit den Augen so ziemlich in gleicher Höhe mit dem Tische befand, mit verschiedenen Leckerbissen versehen, an denen er sich ungemein erlabte. Sodann pätschelte ihn die gute Dame, welche das Kind, ungeachtet ihrer Liebkosungen zu fürchten schien, und erklärte, daß er der hübscheste Junge sei, welchen sie gesehen habe.

»Je nun, Mamsell,« sagte Herr Weller, »ich glaube nicht, daß Sie viele dergleichen zu sehen kriegen werden – das muß wahr sein. Aber, wenn mir mein Sohn Samuel nur den Willen thäte, Mamsell, und ihn dispensirte von seinem – darf ich es wagen, das Wort auszusprechen?«

»Was für ein Wort, Herr Weller?« fragte die Haushälterin mit einem leichten Erröthen.

»Von seinem Unterrock, Mamsell,« entgegnete der Ehrenmann, indem er die Hand auf die Kleider seines Enkels legte. »Wenn mein Sohn Samuel ihn nur hievon dispensiren würde, so würden Sie in seinem Aeußern eine Veränderung entdecken, wie keine Einbildungskraft sie malen kann.«

»Was sollte aber das Kind statt dessen tragen, Herr Weller?« sagte die Haushälterin.

»Ich habe meinem Sohn Samuel immer und alleweil offerirt,« versetzte der alte Herr, »ich wolle ihn auf eigene Kosten mit einem Anzug versehen, der etwas Rechtes aus ihm machen und seinen Geist von frühester Jugend an für ein Gewerbe vorbereiten würde, dem sich, wie ich hoffe, die Familie der Wellers zu allen Zeiten weihen thut. Tony, mein Junge, sage der Dame, von was für Kleidern der Großvater gesprochen hat, die dein Vater dich tragen lassen soll.«

»Einen kleinen weißen Hut und eine kleine bunte Weste und kleine Kniebänder und kleine Stulpenstiefel und einen kleinen grünen Rock, mit kleinen hellen Knöpfen und einem Sammetkragen,« erwiderte Tony mit großer Geläufigkeit und ohne zu stocken.

»Das ist das Costüme, Mamsell,« sagte Herr Weller mit einem stolzen Blick auf die Haushälterin. »Er soll einmal ein solches Modell auf dem Leibe tragen, und Sie werden sagen, daß er ein Engel ist.«

Die Haushälterin mochte wohl denken, der junge Tony möchte so eher wie der Engel von Islington als wie ein anderer dieses Namens aussehen; vielleicht war sie aber auch verlegen, sich in ihren vorgefaßten Ideen gestört zu finden, da Engel in der Regel nicht mit Stulpenstiefeln und bunten Westen abgebildet werden. Sie hustete daher bedenklich und blieb die Antwort schuldig.

»Wie viele Brüder und Schwestern hast du, mein Lieber?« fragte sie nach einer kurzen Pause.

»Einen Bruder und gar keine Schwester,« versetzte Tony. »Er heißt Sam, wie mein Vater. »Kennst du meinen Vater?«

»O ja, ich kenne ihn,« sagte die Haushälterin herablassend.

»Hat dich mein Vater gerne?« fuhr Tony fort.

»Ich hoffe so,« entgegnete die Haushälterin lächelnd.

Tony besann sich einen Augenblick und fragte dann:

»Hat dich mein Großvater auch gerne?«

Diese Frage dürfte vielleicht als sehr leicht zu beantworten erscheinen, aber statt aller Erwiederung lächelte die Haushälterin in großer Verwirrung und sagte, Kinder stellten oft so verfängliche Fragen, daß nichts in der Welt schwerer sei, als mit ihnen zu reden. Demgemäß also übernahm Herr Weller in Person die Beantwortung und sagte, daß er die Dame sehr gerne habe; aber die Haushälterin bat ihn, er möchte doch dem Kinde keine solche Dinge in den Kopf setzen, und Herr Weller schüttelte seinen eigenen, während die Dame in eine andere Richtung schaute. Herr Weller schien dabei nicht wenig durch die Besorgniß beunruhigt zu sein, daß die Eroberung im Fortschreiten begriffen sei, und vielleicht war es diesem Umstande zuzuschreiben, daß er den Gegenstand der Unterhaltung wechselte.

»Es ist sehr übel von kleinen Jungen, sich über ihre Großväter lustig zu machen – nicht wahr, Mamsell?« sagte Herr Weller, indem er schalkhaft den Kopf schüttelte, bis Tony an ihm hinauf sah, was ihn veranlaßte, die Miene der tiefsten Niedergeschlagenheit und Bekümmerniß anzunehmen.

»Allerdings sehr traurig!« pflichtete die Haushälterin bei; »aber ich hoffe, kein kleiner Junge thut so etwas!«

»Es gibt so einen jungen Türken, Mamsell,« sagte Herr Weller; »der sieht einmal seinen Großvater ein bischen benebelt, weil er den Geburtstag eines Freundes mitgefeiert hat, und da geht er hin, wankt und wackelt im Haus herum, und will die Leute glauben machen, daß er der alte Herr sei.«

»Das ist ja ganz herzbrechend!« rief die Haushälterin.

»Ja, Mamsell,« fuhr Herr Weller fort, »und ehe der junge Strick das thut, zerklopft er sich seine kleine Nase, um sie roth zu machen, conterfeit dann einen Schlucksen und sagt: ›bei mir ist Alles in Ordnung!‹ sagt er; ›noch ein anderes Lied!‹ Ha, ha! ›Noch ein Lied!‹ sagt er. Ha, ha!«

In seinem überschwänglichen Entzücken vergaß Herr Weller seiner moralischen Verantwortlichkeit ganz und gar, bis der kleine Tony mit seinen Beinen an die Stuhlfüße trommelte und mit einem übermäßigen Lachen ausrief: »das war ich, das war ich,« worauf der Großvater in Folge einer kräftigen Anstrengung ungemein feierlich wurde.

»Nein, Tony, nicht du,« sagte Herr Weller. »Ich hoffe nicht, daß du es warst, Tony. Es muß der nichtsnutzige kleine Galgenstrick gewesen sein, der bisweilen aus dem leeren Schilderhäuschen um die Ecke kommt – derselbe kleine Spitzbube, der einmal auf dem Tisch vor dem Spiegel stand und that, als ob er sich mit dem Austermesser rasire.«

»Er hat sich doch hoffentlich nicht beschädigt?« bemerkte die Haushälterin.

»Nicht doch, Mamsell,« sagte Herr Weller stolz. »Gott segne Ihr gutes Herz. Sie dürfen jenem Jungen kecklich eine Dampfmaschine anvertrauen, so gescheidt ist er.«

Der alte Herr erinnerte sich jedoch plötzlich und konnte es auch wahrnehmen, daß Tony das Compliment wohl verstand und zu schätzen wußte, weßhalb er mit einem schweren Seufzer bemerkte, daß es »herzbrechend – ganz herzbrechend« wäre.

»O, es ist ein böser Bube,« sagte Herr Weller, »ein bitterböser Bube, der aus dem Schilderhäuschen: macht er nicht einen Lärm und Rumor im Hinterhof, führt hölzerne Pferde zur Tränke und füttert sie mit Gras, wirft beständig einen kleinen Bruder aus dem Schubkarren und jagt seine Mutter in demselben Augenblick in Todesängsten, wo sie die Vermehrung seines Glücks mit einem weiteren Spielgefährten beabsichtigt! Ja, es ist ein grundböser Bursche; geht er einmal gar so weit, eine papierne Brille aufzusetzen, die ihm sein Vater machen mußte, und spaziert im Garten auf und ab, die Hände auf dem Rücken, um Herrn Pickwick nachzumachen – aber Tony thut so was nicht, o nein!«

»O nein!« echote Tony.

»Da ist er zu gescheidt dazu,« sagte Herr Weller; »er weiß, daß, wenn er solche Schelmenstreiche üben wollte, kein Mensch ihn lieben würde, und daß besonders sein Großvater ihn nicht mehr ansehen thäte; aus diesen Gründen ist Tony immer gut.«

»Immer gut,« wiederholte Tony.

Und sofort nahm ihn sein Großvater auf die Kniee und küßte ihn, indem er zugleich unter vielem Nicken und Blinzeln verstohlen mit dem Daumen nach dem Kopfe des Kindes deutete, damit die Haushälterin, welche sonst durch die bewunderungswürdige Weise, womit Herr Weller seinen Charakter aufrecht erhielt, getäuscht werden konnte, nicht glauben möchte, es sei von einem andern jungen Gentleman die Rede gewesen, denn es war ihm darum zu thun, ihr begreiflich zu machen, der Schilderhausjunge sei nur ein imaginäres Geschöpf, ein Abbild des jungen Tony selber, das zu seiner Besserung und Belehrung erfunden wurde.

Herr Weller beschränkte sich nicht auf eine bloße Beschreibung der Fähigkeiten seines Enkels, sondern veranlaßte ihn auch nach dem Thee durch etliche Schenkungen von Pencen und Halbpencen, eingebildete Pfeifen zu rauchen, imaginäres Bier aus wirklichen Krügen zu trinken, seinen Großvater ohne Rückhalt nachzumachen, und besonders die Trunkenheitsscene darzustellen, welche den alten Herrn in Ekstase und die Haushälterin in Staunen versetzte. Herrn Weller's Stolz war jedoch durch diese Zurschaustellung noch nicht befriedigt, denn nachdem er sich verabschiedete, nahm er das Kind wie ein merkwürdiges, seltenes Wunderthier zuerst mit zu dem Barbier und dann mit zu dem Tabakskrämer, woselbst es seine Vorstellungen mit ungemeiner Wirkung vor einem beifallklatschenden und entzückten Auditorium preisgab. Um halb zehn Uhr sah man Herrn Weller, das Kind auf der Schulter nach Hause gehen, und die Leute wollten wissen, daß um diese Zeit der kleine Tony ziemlich betrunken war.



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