Charles Dickens
Denkwürdigkeiten des Pickwick-Klubs. Zweiter Teil
Charles Dickens

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweiundfünfzigstes Kapitel

In dem Herr Pickwick einen alten Bekannten trifft

Der Morgen, der um acht Uhr über Herrn Pickwicks Angesicht anbrach, war keineswegs berechnet, seinen Mut zu heben oder die Niedergeschlagenheit, in die ihn der unvorhergesehene Erfolg seiner Gesandtschaft gesetzt hatte, zu vermindern. Der Himmel war düster und trübe, die Luft feucht und rauh, die Straßen naß und kotig. Der Rauch hing schwerfällig über den Schornsteinen, als gebräche es ihm an Mut aufzusteigen; und der Regen fiel langsam und verdrossen herab, als hätte er keine rechte Lust, sich zu ergießen. Im Hof stand der Haushahn, ohne alle Funken seiner gewöhnlichen Lebhaftigkeit, verdrießlich auf einem Bein in einem Winkel. Der Esel träumte gesenkten Hauptes unter dem schmalen Dach des Holzschuppens, und seinem nachdenklichen, jammervollen Gesichte nach zu schließen, schien er auf Selbstmord zu sinnen. Auf der Straße sah man nichts als Regenschirme, und die einzigen Töne, die sich vernehmen ließen, waren das Schlurfen von Gummischuhen und das Plätschern der Regentropfen.

Das Frühstück wurde sehr wenig durch Unterhaltung unterbrochen; selbst Herr Bob Sawyer fühlte den Einfluß des Wetters und die Nachwehen vom gestrigen Tage. Er war, wie er in seiner höchst ausdrucksvollen Sprache erklärte, wie zu Boden geschlagen. Ebenso auch Herr Ben Allen und nicht anders Herr Pickwick.

In einer länger sich hinausziehenden Erwartung, daß das Wetter sich aufklären möchte, wurde das neueste Londoner Abendblatt mit einem Eifer und einem Interesse gelesen, wie sich dies nur in solchen Fällen äußerster Langeweile denken läßt; mit gleicher Beharrlichkeit wurde jeder Zoll des Bodens beim Auf- und Abwandeln ausgemessen. Endlich als der Mittag herankam, ohne daß das Wetter sich geändert hatte, zog Herr Pickwick entschlossen die Klingel und bestellte seinen Wagen.

Obgleich die Straßen schmutzig waren und der Sprühregen heftiger als bisher herabfiel, obgleich der Kot und die Feuchtigkeit durch die offenen Fenster des Wagens hereinspritzten, so daß die darinnen Sitzenden fast ebensosehr dadurch belästigt wurden wie die beiden Reisenden auf dem Rücksitze, so war man doch jedenfalls in der freien Luft. Das Gefühl, unterwegs zu sein und Bewegung zu haben, das so unendlich angenehmer ist, als die Eingeschlossenheit in eine trübe Stube, wo man nur den trüben Regen in eine trübe Straße träufeln sehen kann, ließ sie alle gestehen, daß sie durch den Tausch viel gewonnen hätten und eigentlich selbst nicht wüßten, wie sie dazu gekommen wären, so lange mit dem Aufbruch zu zögern.

Als sie in Coventry anhielten, um die Pferde zu wechseln, stieg der Dampf in solchen Wolken von den Tieren auf, daß der Hausknecht ganz verdunkelt wurde. Aber man hörte ihn aus dem Nebel heraus erklären, er erwarte bei der nächsten Preisverteilung die erste goldene Medaille von dem Rettungsverein dafür, daß er dem Postillion seinen Hut abgenommen habe; denn von dem Rande desselben ströme eine solche Wassermasse herab, daß er, nämlich der Postillion, unfehlbar ertrunken sein würde, wenn er, nämlich der unsichtbare Hausknecht, ihm nicht kraft seiner großen Geistesgegenwart, den Hut schnell vom Kopfe gerissen und das Gesicht des schweratmenden Mannes mit einem Strohwisch abgetrocknet hätte.

»Eine erbauliche Fahrt«, sagte Bob Sawyer, als er seinen Rockkragen umschlug und sich den Schal über dem Munde zusammenzog, um die Düfte eines soeben verschluckten Glases Branntwein nachzukosten.

»Ja, sehr erbaulich«, erwiderte Sam mit Ruhe.

»Sie scheinen sich nicht viel daraus zu machen?« bemerkte Bob.

»Darum sehe ich nicht ein, was es mich nützen würde«, erwiderte Sam.

»Gegen diesen Grund läßt sich freilich nichts einwenden«, meinte Bob.

»Ganz gewiß nicht, Sir«, erwiderte Herr Weller. »Was ist, ist recht, wie der junge Edelmann schmunzelnd bemerkte, als man ihn auf die Pensionsliste setzte, weil der Großvater der Frau von seiner Mutter Onkel einmal dem König mit einem Feuerzeug die Pfeife angesteckt hatte.«

»Nicht übel bemerkt«, sagte Herr Bob Sawyer beifällig.

»Eben das sagte der junge Edelmann auch nachher alle Tage viermal bis an sein seliges Ende«, erwiderte Herr Weller.

»Wurden Sie jemals«, fragte Sam nach einer kurzen Pause mit einem Blick auf den Kutscher, indem er seine Stimme zu einem geheimnisvollen Flüstern dämpfte; »wurden Sie jemals zu einem Postillion gerufen, solange Sie bei einem Knochensäger in der Lehre waren?«

»Ich erinnere mich nicht«, erwiderte Herr Bob Sawyer.

»Haben Sie auch nie einen Postillion in einem Spital gesehen, wenn Sie dort umgingen, wie man von den Geistern sagt?« fragte Sam.

»Nein«, erwiderte Bob Sawyer, »mit Wissen nicht.«

»Oder wissen Sie einen Kirchhof, wo der Leichenstein von einem Postillion ist, oder haben Sie schon einen toten Postillion gesehen?« fuhr Sam fort zu fragen.

»Nein«, sagte Bob.

»Also nicht?« erwiderte Sam triumphierend. »Nun, so werden Sie auch keinen zu sehen bekommen, und es gibt noch ein anderes Ding, das niemand sieht, nämlich einen toten Esel. – Niemand hat je einen toten Esel gesehen, außer der Gentleman in den schwarzen Kniehosen, der das junge Frauenzimmer kannte, das eine Ziege hielt und das war ein französischer Esel, also keiner von der gewöhnlichen Art.«

»Gut, was hat das aber mit den Postillionen zu schaffen?« sagte Bob Sawyer.

»Das will ich Ihnen sagen«, erwiderte Sam. »Ich will nicht so weit gehen und, wie viele sehr gescheite Leute behaupten, daß die Postillione und Esel unsterblich seien. Aber das sage ich, wenn sie spüren, daß sie steif werden und nicht mehr arbeiten können, so machen sie sich, ein Postillon nach dem andern, auf dem gewöhnlichen Wege davon; was aus ihnen wird, weiß niemand; aber es ist sehr wahrscheinlich, daß sie sich entfernen, um ihr Vergnügen in der andern Welt zu suchen; denn kein lebendiger Mensch hat je gesehen, daß ein Postillion oder ein Esel sein Vergnügen in dieser gehabt hätte!«

Sam Weller breitete sich über diese gelehrte und merkwürdige Theorie noch weiter aus, führte zur Unterstützung derselben eine Menge merkwürdiger, statistischer und anderer Tatsachen an, und vertrieb sich damit die Zeit, bis sie nach Dunchurch kamen, wo für einen trockenen Postillion und frische Pferde gesorgt wurde. Die nächste Station war Daventry, die folgende Towcester, und am Ende jeder Station regnete es heftiger als am Anfang derselben.

»Ich sage nur«, bemerkte Bob Sawyer, zum Kutschenfenster hineinsehend, als sie vor dem Türkenkopf in Towcester anhielten, »ich sage nur, daß man so nicht weiterreisen kann.«

»Ja, wahrhaftig«, sagte Herr Pickwick, der eben aus einem Schläfchen erwachte; »ich fürchte, Sie sind durch und durch naß.«

»Ja, ganz unausstehlich«, erwiderte Bob: »und Sie ohne Zweifel auch ein wenig?«

Bob blickte verdrießlich drein, da ihm der Regen von seinem Nacken, von seinen Ellbogen, von den Ärmeln, den Rockschößen und Knien herabströmte: sein ganzer Anzug glänzte so von Feuchtigkeit, daß man ihn leicht hätte für Wachstuch halten können.

»Ja, ich bin naß«, sagte Bob, indem er sich schüttelte und einen Regenschauer aus sich trieb, »ich bin naß wie ein Pudel, den man ins Wasser geworfen hat.«

»Ich halte es für rein unmöglich, heute nacht weiter zu reisen«, fiel Ben ein.

»Ganz ohne Frage, Sir«, bemerkte Sam Weller, der sich gleichfalls zur Konferenz einstellte: »es ist Tierquälerei, Sir, wenn man Ihnen noch mehr zumuten will. Man bekommt hier Betten, Sir«, fügte er gegen seinen Herrn und Meister hinzu: »alles reinlich und behaglich. Ein recht gutes, kleines Mittagessen, Sir, und in einer halben Stunde schon fertig – ein paar Stücke Geflügel, Sir, und Kalbskoteletten, französische Bohnen, Pastetchen und Torten. Sie würden am besten tun, hier zu bleiben, Sir, wenn Sie mich etwas gelten lassen. Nehmen Sie Rat an, Sir, wie der Doktor sagte.«

Zum Glück erschien in diesem Augenblick der Wirt »Zum Türkenkopf«, bestätigte Herrn Wellers Bericht in betreff der Bequemlichkeiten seines Hotels und unterstützte seine Bitten mit allerhand trostlosen Vermutungen über den weiteren Zustand der Straßen, die Wahrscheinlichkeit, daß auf der nächsten Station keine frischen Pferde zu haben seien, die blanke Gewißheit, daß es die ganze Nacht hindurch regnen werde, die ebenso blanke Gewißheit, daß es sich am nächsten Morgen aufhelle, und andern bei den Wirten gebräuchlichen Beweisgründen.

»Schon gut«, sagte Herr Pickwick; »aber ich muß durch irgendeine Gelegenheit einen Brief nach London absenden, so daß derselbe morgen in aller Frühe bestellt wird. Wenn das nicht möglich ist, so müssen wir unter allen Umständen weiterfahren.«

Der Wirt lächelte vergnügt. Nichts sei leichter, als einen Brief in einen Bogen Packpapier einzuwickeln und entweder mit der Post oder mit der Nachtdiligence von Birmingham weiterzubefördern. Wenn dem Herrn so außerordentlich viel an möglichst baldiger Besorgung desselben liege, so dürfe er ja nur auf die Adresse schreiben: »sogleich abzugeben«, was sicher beachtet würde; oder: »dem Überbringer für schleunige Besorgung eine halbe Krone extra«, was noch sicherer sei.

»Sehr gut«, sagte Herr Pickwick: »dann wollen wir also hierbleiben.«

»Lichter in die Sonne, John; mach das Feuer auf: die Herren sind naß. Hierher meine Herren: bekümmern Sie sich nicht mehr um den Postillion, Sir; ich werde ihn zu Ihnen senden, sobald Sie ihm läuten, Sir. Jetzt, John, die Kerzen.

Die Lichter wurden gebracht, das Feuer geschürt und ein frisches Scheit hineingeworfen. In zehn Minuten deckte ein Kellner den Tisch zum Mittagessen: der Vorhang wurde aufgezogen, das Feuer flackerte lustig, und alles sah (wie überhaupt immer in jedem anständigen englischen Gasthof) aus, als ob die Reisenden schon mehrere Tage vorher erwartet worden wären und ihre Bestellungen gemacht hätten.

Herr Pickwick saß an einem Seitentisch und schrieb schnell einen Brief an Herrn Winkle, worin er ihm einfach meldete, daß er durch das Unwetter zurückgehalten sei, aber unfehlbar am folgenden Tag sich in London einfinden werde; bis dahin wolle er den weiteren Bericht über seine Reise ausgesetzt sein lassen. Dieser Brief wurde schnell zusammengelegt und von Samuel Weller weiterbefördert.

Sam übergab ihn der Wirtin, und nachdem er sich selbst am Küchenfeuer getrocknet hatte, wollte er zurückkehren, um seinem Herrn die Stiefel auszuziehen, wobei er zufällig durch eine halboffene Tür hindurch einen rothaarigen Herrn erblickte, der einen großen Packen Zeitungen auf dem Tisch vor sich liegen hatte und den Leitartikel in einer von ihnen mit grimmigem Schmunzeln las, wobei seine Nase und sein ganzes Gesicht sich zu einem majestätischen Ausdruck hochmütiger Verachtung verzogen.

»Ho, ho!« sagte Sam, »den Kopf und dies Gesicht da sollt ich kennen; auch das Augenglas und den breitkrempigen Deckel! Und ich will katholisch werden, wenn's nicht in Eatanswill war.«

Sam wurde auf einmal von einem heftigen Husten befallen, um die Aufmerksamkeit des Herrn auf sich zu ziehen: der Herr fuhr zusammen, erhob seinen Kopf und sein Augenglas und enthüllte dem Blick die tiefen, gedankenvollen Züge des Herrn Pott, Redakteurs der Eatanswiller Zeitung.

»Bitte um Verzeihung, Sir«, sagte Sam; »mein Herr ist hier, Herr Pott.«

»Pst, Pst!« rief Herr Pott, Sam ins Zimmer ziehend und die Tür verschließend, während sich geheimnisvolle Sorge und Beängstigung auf seinem Gesichte malte.

»Was gibt's denn, Sir?« fragte Sam, indem er gleichmütig um sich blickte.

»Nennen Sie nur meinen Namen nicht«, erwiderte Pott – »es ist hier alles gelb. Wenn der aufgeregte und leicht erregbare Pöbel wüßte, daß ich hier bin, er würde mich in Stücke reißen.«

»Meinen Sie wirklich?« fragte Sam.

»Ja, ich würde das Opfer seiner Wut werden«, fuhr Pott fort, »Nun, junger Mann, was macht denn Ihr Herr?«

»Er ist auf der Reise nach London begriffen und übernachtet hier mit einigen Freunden.«

»Ist Herr Winkle dabei?« fragte Pott mit leichtem Stirnrunzeln.

»Nein, Sir«, antwortete Sam: »Herr Winkle bleibt jetzt zu Hause; er ist verheiratet.«

»Verheiratet?« rief Pott auffahrend.

Er schwieg einige Augenblicke, lächelte düster und setzte dann rachsüchtig hinzu: »Das geschieht ihm recht.«

Nachdem Herr Pott dieser grausamen Aufwallung seines tödlichen Hasses und kaltblütigen Triumphes über einen gefallenen Feind Luft gemacht, fragte er, ob Herrn Pickwicks Freunde blau seien: und als er von Sam, der soviel von der Sache wußte, wie Pott selbst, eine befriedigende bejahende Antwort erhalten hatte, entschloß er sich, ihn auf Herrn Pickwicks Zimmer zu begleiten, wo ein herzlicher Empfang seiner wartete, und sogleich die Übereinkunft getroffen wurde, daß sie alle zusammen speisen wollten.

»Und wie steht's denn in Eatanswill?« fragte Herr Pickwick, als Herr Pott einen Stuhl ans Feuer gerückt, und die ganze Gesellschaft die nassen Stiefel ausgezogen und trockene Pantoffel angezogen hatte. »Existiert der Unabhängige noch?«

»Der Unabhängige, Sir«, erwiderte Pott, »schleppt noch immer sein elendes, erlöschendes Dasein hin, verabscheut und verachtet selbst von den wenigen, denen seine schmachvolle, erbärmliche Existenz bekannt ist, erstickt in demselben Schmutz, mit dem er so reichlich um sich wirft. Taub und blind gemacht durch die Ausdünstungen seines eigenen Unrats, versinkt dieses garstige Journal, das sich glücklicherweise seiner Gesunkenheit nicht einmal bewußt ist, rasch in dem verräterischen Schlamme, der, obgleich er ihm bei den niedrigen und verdorbenen Klassen der Gesellschaft einen festen Standpunkt zu geben scheint, dennoch über sein verruchtes Haupt hinauswächst und es bald auf ewig verschlingen wird.«

Nachdem der Redakteur dieses Manifest, das einen Teil eines seiner Leitartikel von der letzten Woche bildete, mit heftiger Betonung von sich gegeben, schwieg er, um Atem zu schöpfen, und blickte Bob Sawyer majestätisch an.

»Sie sind ein junger Mann, Sir«, sagte Pott.

Herr Bob Sawyer nickte.

»Und Sie auch, Sir«, fuhr Pott gegen Herrn Ben Allen fort,

Ben ließ sich diese freundliche Annahme gefallen.

»Und sind Sie auch beide tief durchdrungen von diesen blauen Grundsätzen, zu deren Aufrechthaltung und Verfechtung ich mich, solange ich lebe, gegen die Bevölkerung dieser Königreiche anheischig gemacht habe?« sprach Pott weiter.

»O freilich«, erwiderte Bob Sawyer: »ich verstehe nur die Sache nicht recht, ich bin –«

»Doch nicht gelb, Herr Pickwick?« unterbrach ihn Pott, mit seinem Stuhl zurückweichend. »Ihr Freund ist doch nicht gelb, Sir?«

»Nein, nein«, versetzte Bob; »ich bin in diesem Augenblick gewürfelt, ein Gemisch von allen Farbensorten.«

»Also ein Schwankender«, entgegnete Pott feierlich; »ein Schwankender. Ich möchte Ihnen nur eine Reihe von acht Artikeln vorlegen, Sir, die in der Eatanswiller Zeitung erschienen sind. Ich glaube, behaupten zu dürfen, daß Sie dann bald Ihre Ansichten auf eine feste und solide Basis gründen würden, Sir.«

»Und ich«, antwortete Bob, »glaube behaupten zu dürfen, daß ich sehr blau würde, noch lange ehe ich sie ganz gelesen hätte.«

Herr Pott blickte Bob Sawyer noch einige Sekunden lang zweifelhaft an, wandte sich sofort zu Herrn Pickwick und sagte:

»Sie haben doch die literarischen Artikel gelesen, die im Laufe der letzten drei Monate in der Eatanswiller Zeitung erschienen sind und eine so allgemeine – ich kann wohl sagen, so universale Aufmerksamkeit und Bewunderung erregt haben?«

»Ich muß gestehen«, erwiderte Herr Pickwick, durch die Frage einigermaßen verlegen, »ich muß gestehen, ich war anderweitig so beschäftigt, daß ich wirklich keine Zeit hatte, sie zu lesen.«

»Sie sollten so etwas nicht unterlassen, Sir«, sagte Pott mit strengem Gesichte.

»Ja, Sie haben recht«, meinte Herr Pickwick.

»Sie sind in der Form einer ausführlichen Kritik eines Werks über die chinesische Metaphystik erschienen«, fuhr Pott fort.

»Ah, so?« bemerkte Herr Pickwick – »und hoffentlich aus Ihrer Feder?«

»Aus der meines Rezensenten, Sir«, antwortete Pott mit Würde.

»Und wahrscheinlich sehr gelehrt abgefaßt?« – fragte Herr Pickwick.

»Ja, ungeheuer«, antwortete Pott, unendlich weise um sich blickend. »Er ochste aber auch gehörig, um mich eines technischen, aber ausdrucksvollen Terminus zu bedienen; er las zu diesem Behuf auf mein Verlangen in der Enzyclopaedia britannicaDas altberühmte große Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens und noch heute in England populärste Konversationslexikon.

»Wirklich?« fragte Herr Pickwick. »Ich wußte nicht, daß dieses schätzbare Werk auch Nachweise über die chinesische Metaphysik enthält.«

»Ja, Sir«, erklärte Pott, indem er seine Hand auf Herrn Pickwicks Knie legte und mit einem Lächeln geistiger Überlegenheit um sich blickte: »er las über die Metaphysik unter dem Buchstaben M und über China unter dem Buchstaben C, und produzierte so daraus einen eigenen neuen Artikel.«

Herrn Potts Züge nahmen bei dieser Erinnerung der in besagten gelehrten Ergießungen entwickelten Geistesschärfe und Kenntnissen etwas so Großartiges an, daß einige Minuten verstrichen, bevor Herr Pickwick sich kühn genug fühlte, das Gespräch fortzusetzen. Endlich, als das Gesicht des Redakteurs allmählich wieder in seinen gewöhnlichen Ausdruck moralischer Überlegenheit zurückfiel, wagte er es, die Unterhaltung durch die Frage wieder anzuknüpfen:

»Dürfte ich wohl erfahren, welcher große Zweck Sie so weit von Haus fort und hierher geführt hat?«

»Derselbe Zweck, der mich bei allen meinen riesigen Arbeiten antreibt und beseelt«, erwiderte Pott mit einem ruhigen Lächeln – »das Wohl meines Vaterlandes.«

»Ich dachte, es sei irgendeine öffentliche Mission«, bemerkte Herr Pickwick.

»Ja, Sir, das ist es«, erwiderte Pott.

Hier beugte er sich zu Herrn Pickwick und flüsterte ihm mit tiefer hohler Stimme zu:

»Die Gelben haben morgen abend in Birmingham einen Ball.«

»Wie interessant!« rief Herr Pickwick.

»Ja, Sir, und ein Abendessen«, fügte Pott hinzu.

»Was Sie sagen!« rief Herr Pickwick.

Pott nickte mit unheilverkündender Miene.

Obgleich sich nun Herr Pickwick stellte, als wäre er durch diese Eröffnungen sehr überrascht, so war er doch mit der Lokalpolitik so wenig vertraut, daß er sich schlechterdings keinen angemessenen Begriff von der Wichtigkeit der schrecklichen Verschwörung machen konnte, auf die hier angespielt wurde. Herr Pott bemerkte dies auch, zog die letzte Nummer der Eatanswiller Zeitung aus der Tasche und las zur näheren Aufklärung seines Freundes folgenden Artikel vor:

Höhlen- und Winkelgelbtum.

Ein Ungeziefer, ein böser, schädlicher Wurm von Kollegen hat neulich sein schwarzes Gift ausgespien, in dem eitlen hoffnungslosen Versuch, den schönen Namen unseres ausgezeichneten und vortrefflichen Abgeordneten, des ehrenwerten Herrn Slumkey zu beflecken – desselben Slumkey, von dem wir lange, bevor er seine gegenwärtige edle und erhabene Stellung gewonnen, vorausgesagt, er werde werden, was er jetzt ist, die glänzendste Ehre seines Landes, sein höchster Ruhm, sein kühnster Verteidiger und seine herrlichste Zierde – unser ungezieferartig denkender Kollege, sagen wir, hat sich lustig gemacht über ein plattiertes, herrlich gearbeitetes Kohlengefäß, das diesem glorreichen Manne von seinen entzückten Wählern überreicht worden ist. Zu dessen Ankauf hat, wie der namenlose Wicht lästert, der ehrenwerte Herr Slumkey selbst durch einen vertrauten Freund seines Tafeldeckers mehr als dreiviertel der ganzen Summe beigesteuert. Wie! sieht denn dieses kriechende Geschmeiß nicht, daß selbst, wenn solches wahr wäre, der ehrenwerte Herr Slumkey uns in einem um so freundlicheren und strahlenderen Lichte als vorher erscheinen würde, wofern das überhaupt noch möglich wäre! Sieht sein Stumpfsinn nicht einmal soviel ein, daß dieser liebenswürdige, rührende Wunsch, dem Sehnen seiner Wähler entgegenzukommen, ihn den Herzen und Seelen derer unter seinen Mitbürgern nur noch teurer machen muß, die nicht verächtlicher sind als Schweine, oder mit andern Worten, die nicht ebenso niederträchtig sind als unser Kollege selbst? Aber das sind die elenden betrügerischen Kunstgriffe des Höhlen- und Winkelgelbtums! Indessen beschränkt es sich nicht darauf, Verrat ist das Losungswort. Wir verkünden es kühn, jetzt da wir zu dieser Erklärung genötigt sind und uns unter den Schutz des ganzen Landes und seiner Magistrate stellen dürfen: – wir verkünden es kühn, daß in diesem Augenblick geheime Vorbereitungen getroffen werden zu einem Balle der Gelben, der in einer gelben Stadt mitten im Herzen und Zentrum einer gelben Bevölkerung gehalten, von einem gelben Zeremonienmeister geleitet, von vier ultragelben Parlamentsmitgliedern besucht werden soll, und wozu man den Zutritt nur vermöge gelber Einlaßkarten erlangen kann. Unser feindlicher Kollege wird wohl ein Pfauenrad vor Stolz schlagen. Aber er winde sich in ohnmächtigem Grimm, wenn wir die Worte niederschreiben: »Wir werden auch dabei sein

»Sehen Sie, Sir«, sagte Pott, ganz erschöpft das Blatt zusammenlegend, »so stehen die Sachen.«

In diesem Augenblick traten der Wirt und der Kellner mit den Anfängen des Mittagsmahles herein, und nötigten Herrn Pott, den Finger auf seine Lippen zu legen, zum Zeichen, daß er sein Leben in Herrn Pickwicks Hände gelegt, und daß dasselbe von seiner Schweigsamkeit abhänge. Die Herren Bob Sawyer und Benjamin Allen, die während der Vorlesung des Artikels in der Eatanswiller Zeitung und der darauf folgenden Erörterung unehrerbietigerweise eingeschlafen waren, wurden durch das bloße Geflüster des talismanischen Wortes »Mittagessen« aufgeweckt und machten sich sofort an die Mahlzeit mit einem Appetit, der absonderlich gute Gesundheit und Verdauungskräfte erfordert.

Im Verlaufe des Mittagsmahles und der darauffolgenden Sitzung erklärte Herr Pott, der sich auf einige Augenblicke zu häuslichen Gegenständen herabließ, seinem Freunde, Herrn Pickwick, die Luft in Eatanswill sei seiner Gemahlin nicht gut bekommen, und deswegen mache sie eine Reise in die verschiedenen Luxusbäder, um ihre gewohnte Gesundheit und Munterkeit wieder zu erhalten. Im Grunde aber waren die Mitteilungen des Herrn Pott eine höchst zarte Verhüllung der Tatsache, daß Frau Pott ihre oft wiederholte Scheidungsdrohung endlich ausgeführt, und ihr Bruder, der Leutnant, mit ihrem Manne eine Übereinkunft abgeschlossen hatte, kraft deren sie sich nebst ihrer getreuen Leibwache von ihrem Manne trennte und die Hälfte seines jährlichen Einkommens und Gewinns von seiner Redaktion sowie von dem Verlage der Eatanswiller Zeitung erhielt.

Während der große Herr Pott bei diesen und ähnlichen Gegenständen verweilte und die Unterhaltung von Zeit zu Zeit mit verschiedenen Auszügen aus den Resultaten seiner nächtlichen Studien belebte, fragte ein griesgrämiger Passagier vom Fenster einer von London herkommenden Postkutsche her, die hier anhielt, um Pakete abzugeben, ob er für den Fall, daß er übernachten wolle, die nötigen Bequemlichkeiten, nämlich Bett und Zimmer, bekommen könne.

»Gewiß, Sir«, erwiderte der Wirt.

»Also wirklich?« fragte der Fremde, der aus Gewohnheit in Blick und Manieren argwöhnisch zu sein schien.

»Sie können sich darauf verlassen, Sir«, erklärte der Wirt.

»Gut«, sagte der Fremde. »Postillion, ich bleibe hier. Schaffner, meinen Koffer.«

Er wünschte den andern Passagieren auf eine etwas schnippische Weise gute Nacht und stieg aus. Der Fremdling war untersetzter Statur, hatte ein sehr straffes schwarzes Haar, das nach Stachelschweins- oder Stiefelbürstenart zugeschnitten war und auf seinem ganzen Kopfe, steif sich sträubend, emporstand. Seine Erscheinung war pomphaft und drohend, seine Manieren gebieterisch, seine Augen scharf und unruhig, und sein ganzes Wesen verkündete große Zuversichtlichkeit sowie das Bewußtsein unermeßlicher Überlegenheit über alle Menschenkinder.

Dieser Gentleman wurde in das Zimmer gewiesen, das ursprünglich für den patriotischen Herrn Pott bestimmt war. Der Kellner bemerkte, als er kaum die Lichter angezündet hatte, in dumpfem Erstaunen über das sonderbare Zusammentreffen, daß der Gentleman in seinen Hut griff, eine Zeitung hervorzog und mit demselben Ausdruck unwilliger Verachtung, die eine Stunde zuvor auf Potts majestätischen Zügen dessen ganze Geisteskraft darauf markiert hatte, zu lesen begann. Er bemerkte auch, daß, während Herrn Potts Verachtung durch eine Zeitung, betitelt: »Eatanswiller Unabhängiger«, rege gemacht worden war, der zermalmende Hohn dieses Gentlemans durch ein Presseblatt erweckt wurde, das die »Eatanswiller Zeitung« hieß.

»Holen Sie den Wirt!« sagte der Fremde.

»Sehr wohl, Sir«, versetzte der Kellner.

Der Wirt wurde gerufen und erschien.

»Sind Sie der Wirt?« fragte der Gentleman.

»Aufzuwarten, Sir«, versetzte der Wirt.

»Kennen Sie mich?« fragte der Gentleman.

»Habe nicht das Vergnügen, Sir«, erklärte der Wirt.

»Mein Name ist Slurk«, sagte der Gentleman.

Der Wirt neigte den Kopf ein wenig.

»Slurk, Sir«, wiederholte der Gentleman hochmütig. »Kennen Sie mich jetzt. Mann?«

Der Wirt zog sich ein paar Schritte nach der Tür zurück, und sah dann den Fremdling an und lächelte gezwungen.

»Kennen Sie mich. Mann?« forschte der Fremdling zornig.

Der Wirt strengte sich gewaltig an und erwiderte endlich:

»Nein, Sir, ich kenne Sie nicht.«

»Guter Gott«, sagte der Fremde, die geballte Faust auf den Tisch schlagend, »und das ist Popularität!«

Der Wirt zog sich ein paar Schritte nach der Tür zurück, und der Fremde fuhr, seine Augen auf ihn heftend, also fort –

»Das also – das ist der Dank für jahrelange Bemühungen und Arbeiten zugunsten der Masse. Ich steige durchnäßt und müde aus. Keine enthusiastische Menge drängt sich vorwärts, um ihren Kämpen zu begrüßen. Die Glocken der Kirchen sind stumm; selbst der Name lockt kein entsprechendes Gefühl in solch kaltem Herzen hervor. Es ist genug«, setzte Herr Slurk hinzu, indem er in großer Aufregung auf und ab ging: »man sollte die Tinte in der Feder vertrocknen lassen und ihre Sache für immer aufgeben.«

»Haben Sie Branntwein und Wasser befohlen, Sir?« sagte der Wirt, ein Wort wagend.

»Rum«, erwiderte Herr Slurk, sich trotzig gegen ihn, umwendend. »Haben Sie irgendwo Feuer?«

»Man kann sogleich eines anzünden«, sagte der Wirt.

»Das aber erst Wärme geben wird, wenn es Zeit ist, ins Bett zu gehen«, unterbrach ihn Herr Slurk. »Ist jemand in der Küche?«

»Keine Seele.«

Es war ein schönes Feuer dort; die Leute waren alle gegangen und die Tür für die Nacht geschlossen.

»Ich will«, sagte Herr Slurk, »meinen Grog am Küchenfeuer trinken.«

Somit nahm er seinen Hut und die Zeitung, folgte feierlich dem Wirte nach diesem niederen Gelasse, warf sich auf eine Bank am Herde, nahm sein höhnisches Gesicht wieder an und begann in stiller Würde zu lesen und zu trinken.

Nun flog in diesem Augenblick ein Dämon der Zwietracht über seinen Pfeifenkopf. Dieser Dämon ließ aus bloßer eitler Neugierde seine Augen umherschweifen, erblickte zufällig den behaglich am Küchenfeuer gelagerten Slurk und Herrn Pott, der etwas vom Weine erhitzt in einem andern Zimmer saß. Darauf schoß dieser bösartige Geist mit unbegreiflicher Schnelligkeit in das letzerwähnte Gemach herab, fuhr plötzlich dem Herrn Bob Sawyer in den Kopf und stiftete ihn an, zu seinen (nämlich des Dämons) schlimmen Zwecken folgendermaßen zu sprechen:

»Wir haben das Feuer ausgehen lassen. Nach dem Regen ist es unangenehm kalt hier.«

»Ja, das ist wahr«, versetzte Herr Pickwick schauernd.

»Es wäre meine ich, kein schlechter Einfall, am Küchenfeuer eine Zigarre zu rauchen«, fuhr Bob Sawyer fort, in dem vorgenannter Dämon immer stärker wirkte.

»Ich denke auch, es müßte ganz behaglich sein«, versetzte Herr Pickwick. »Was sagen Sie dazu Herr Pott?«

Herr Pott nickte bereitwillig Beifall, und sämtliche vier Reisende begaben sich, jeder mit seinem Glas in der Hand, nach der Küche, während Sam Weller die Prozession anführte, um den Weg zu zeigen.

Der Fremdling las noch immer; er sah auf und schrak zusammen. Herr Pott schrak ebenfalls zurück.

»Was gibt's?« flüsterte Herr Pickwick.

»Dieses Ungeziefer da!« erwiderte Pott.

»Was für ein Ungeziefer?« fragte Herr Pickwick um sich blickend, aus Furcht, er möchte auf irgendeinen alten Käfer oder eine wassersüchtige Spinne treten.

»Dort, das Ungeziefer«, flüsterte Pott, Herrn Pickwick am Arme fassend und nach dem Fremden deutend. »Das Ungeziefer da – Slurk vom Unabhängigen.«

»Wir würden vielleicht besser tun, uns zurückzuziehen«, flüsterte Herr Pickwick.

»Niemals, Sir!« erwiderte Pott, der sich Mut angetrunken hatte: »niemals!«

Mit diesen Worten nahm er seinen Sitz auf einer entgegengesetzten Bank, zog sich aus einem kleinen Packen Zeitungen eine heraus und begann, seinem Feind gegenüber, zu lesen.

Herr Pott las natürlich den Unabhängigen, Herr Slurk ebenso natürlich die Eatanswiller Zeitung, und jeder der Herren drückte sehr vernehmlich seine Verachtung des jeweiligen fremden Zeitungsinhalts durch bitteres Lächeln und sarkastische Grimassen aus. Bald schritten sie zu noch offeneren Meinungsäußerungen, wie zum Beispiel »abgeschmackt« – »erbärmlich« – »schauderhaft« – »Aufschneiderei« – »Spitzbüberei« – »Kot« – »Mist« – »Schleim« – »Sumpfwasser« und andere kritische Bemerkungen dieser Gattung.

Herr Sawyer sowohl als Herr Ben Allen hatten die Symptome der Eifersucht und des Hasses mit einem Grad von Vergnügen betrachtet, der den Zigarren, die sie recht kräftig rauchten, einen höchst angenehmen Beigeschmack gab. In dem Augenblick, als die zwei Gegner zu ermatten begannen, wandte sich der boshafte Herr Bob Sawyer mit großer Höflichkeit an Slurk und sagte zu ihm:

»Würden Sie mir vielleicht erlauben, Ihr Blatt ein wenig anzusehen, Sir – wenn Sie es nämlich nicht mehr brauchen?«

»Sie werden in dem elenden Dinge da sehr wenig finden, was Sie für Ihre Mühe belohnt«, versetzte Slurk mit einem satanischen Stirnrunzeln gegen Pott.

»Sie können sogleich dieses da haben«, sagte Pott, indem er blaß vor Wut aufschaute und aus demselben Grunde seine Stimme zitterte. »Ha, ha! Die Frechheit dieses Kerls wird Ihnen gewiß Spaß machen.«

Ein schrecklicher Nachdruck war auf die Worte »Ding« und »Kerl« gelegt, und die Gesichter der beiden Zeitungsschreiber begannen vor herausforderndem Trotze zu glühen.

»Die Gemeinheit dieses elenden Menschen ist widerlich und ekelhaft«, sagte Pott, indem er sich an Bob Sawyer wandte, dabei aber Slurk einen giftigen Blick zuwarf.

Hier lachte Slurk recht herzlich, legte die Zeitung so, daß er bequem eine frische Spalte bekam und sagte, der Tölpel ergötze ihn wirklich.

»Wie der Kerl so unverschämt und dabei so dumm ist!« rief Pott, dessen Gesichtsfarbe vom Blaßroten ins Karmoisin überging.

»Haben Sie jemals etwas von den Albernheiten dieses Menschen gelesen, Sir?« fragte Slurk Herrn Bob Sawyer.

»Nie«, erwiderte Bob; »ist es sehr schlecht?«

»O abscheulich! über alle Maßen!« versetzte Slurk.

»Wahrhaftig, das ist zu schauderhaft!« rief Pott, der sich immer noch stellte, als wäre er in seine Lektüre vertieft.

»Wenn es Ihnen möglich ist, durch ein paar Sätze voll Bosheit, Niedertracht, Falschheit, Meineid, Verräterei und Betrügerei zu waten«, sagte Slurk, indem er das Blatt Herrn Bob übergab, »so werden Sie sich vielleicht dadurch belohnt finden, daß Ihnen der Stil dieses ungrammatikalischen Schwätzers ein Lachen abnötigt.«

»Was haben Sie gesagt, Sir?« fragte Pott aufblickend und am ganzen Leibe vor Wut zitternd.

»Was geht es Sie an, Sir?« erwiderte Slurk.

»Ungrammatikalischer Schwätzer, nicht wahr, Sir?« sagte Pott.

»Ja, Sir, so sagte ich, und blaues Rindvieh, Sir, wenn Sie das lieber hören.«

Herr Pott erwiderte auf diese schmerzhafte Beleidigung kein Wort, sondern faltete wohlbedächtig seine Nummer vom Unabhängigen auseinander, legte sie sorgfältig flach auf den Boden, trat sie unter seine Füße, spie mit vieler Feierlichkeit darauf und warf sie dann ins Feuer.

»Sehen Sie, Sir«, sagte Pott, indem er vom Kamin zurücktrat; »ebenso würde ich auch die Viper behandeln, die dieses Gift erzeugt, würde ich nicht zu ihrem Glück durch die Gesetze des Landes daran gehindert.«

»Tun Sie es nur, Sir«, rief Slurk aufspringend: »Man wird diese Gesetze in einer solchen Sache niemals zu Hilfe rufen. Versuchen Sie es einmal, Sir.«

»Hört, hört!« sagte Bob Sawyer.

»Etwas Schöneres ist mir noch nie vorgekommen«, bemerkte Ben Allen.

»Tun Sie es nur, Sir«, wiederholte Slurk mit lauter Stimme.

Herr Pott warf ihm einen verachtungsvollen Blick zu, der einen Anker hätte zermalmen können.

»Tun Sie es nur, Sir«, wiederholte Slurk noch lauter als vorher.

»Ich will nicht, Sir«, versetzte Pott.

»So, so! Sie wollen also nicht?« sagte Herr Slurk in höhnendem Tone. »Sie hören es, meine Herren! Er will nicht: nicht als ob er sich fürchtete; o ganz und gar nicht; aber er will nun einmal nicht: ha ha ha!«

»Ich betrachte Sie, Sir«, sagte Herr Pott, durch diesen Sarkasmus aufgebracht; »ich betrachte Sie als eine Viper. Ich halte Sie für einen Menschen, der sich durch sein höchst freches, schandbares und abscheuliches öffentliches Benehmen außer den Bereich der Gesellschaft gestellt hat. In meinen Augen, Sir, sind Sie sowohl von Ihrem persönlichen, wie von Ihrem politischen Standpunkt aus, weiter gar nichts, als eine nichtswürdige Viper, vor deren giftiger Bosheit man sich hüten muß.«

Der entrüstete Unabhängige wartete das Ende dieser persönlichen Anklage nicht ab, sondern nahm seinen wohlgefüllten Koffer, schwang ihn, als Pott sich eben abwandte, in der Luft, und ließ ihn gerade mit der Ecke, wo zufällig eine tüchtige, dicke Haarbürste eingepackt lag, auf den Kopf seines Gegners fallen, so daß dieser augenblicklich zu Boden stürzte, und man das Gekrach in der ganzen Küche hörte.

»Meine Herren!« rief Herr Pickwick, als Pott wieder aufsprang und sich der Kohlenschaufel bemächtigte; »meine Herren, bedenken Sie doch ums Himmels willen – Hilfe – Sam! he da! – ich bitte, meine Herren, lassen Sie es doch nicht so weit kommen.«

Also rief er erregt und stürzte zwischen die wütenden Kämpfer, gerade im rechten Augenblick, um auf die eine Seite seines Körpers den Koffer und auf die andere die Kohlenschaufel zu bekommen. Ob nun die Repräsentanten der öffentlichen Meinung von Eatanswill durch Leidenschaft gänzlich geblendet waren, oder ob sie als kluge, scharfsinnige Köpfe sogleich den Vorteil einsahen, einen Dritten, der die Streiche auffange, zwischen sich zu haben – so viel ist gewiß, daß sie nicht die mindeste Notiz von Herrn Pickwick nahmen, sondern einander mit viel Mut Trotz boten und Koffer wie Kohlenschaufel aufs furchtbarste handhabten. Herr Pickwick hätte sein menschenfreundliches Dazwischentreten ohne Zweifel schwer zu büßen gehabt, wäre nicht Herr Weller auf das Geschrei seines Herrn im Augenblick hereingestürzt, und hätte dieser nicht dem Kampfe dadurch ein Ende gemacht, daß er einen Mehlsack ergriff, denselben dem mächtigen Pott über Kopf und Schultern herabzog und ihn auf diese Art bis an die Ellenbogen festhielt.

»Nehmen Sie dem andern Tollhäusler den Koffer weg«, sagte Sam zu Ben Allen und Bob Sawyer, die indessen ganz vergnügt müßig zugeschaut und nur eine Lanzette mit schildpattenem Heft in die Hand genommen hatten, um dem ersten, der ohnmächtig würde, zur Ader zu lassen. »Wollen Sie aufhören, Sie elendes, kleines Bürschchen, oder ich drücke Sie zusammen.«

Eingeschüchtert durch diese Drohung und ganz atemlos ließ sich der Unabhängige entwaffnen, worauf Herr Weller den erstickenden Sack von Pott wegnahm und ihn vorsichtig wieder in Freiheit setzte.

»Jetzt gehen Sie beide ruhig ins Bett«, sagte Sam, »oder ich stecke Sie miteinander in den Sack und lasse Sie die Sache mit zugebundener Öffnung ausfechten. Meinetwegen dürfte es ein ganzes Dutzend solcher Leute sein: ich würde mich nicht vor ihnen genieren. Und Sie, haben Sie die Güte, gefälligst hierher zu kommen, Sir.«

Mit diesen Worten nahm Sam seinen Herrn beim Arme und führte ihn fort, während die nebenbuhlerischen Journalisten von dem Wirt unter Aufsicht des Herrn Bob Sawyer und des Herrn Benjamin Allen nach verschiedenen Seiten hin in ihre Schlafzimmer gebracht wurden, wobei sie noch manche blutdürstige Drohungen ausstießen und vage Bestellungen auf einen tödlichen Zweikampf für den nächsten Tag machten. Bei weiterer Überlegung fiel es ihnen jedoch ein, daß sie ihren Kampf weit besser mit Druckerschwärze auskämpfen könnten: sie erneuerten daher ohne Verzug ihre Feindseligkeiten auf Tod und Leben und ganz Eatanswill staunte ob ihrer Kühnheit – auf dem Papier.

Sie waren am andern Morgen in der Frühe, jeder in einer besonderen Kutsche, abgereist, ehe die übrigen Passagiere sich regten, und da das Wetter sich nun wirklich aufgeklärt hatte, so wandte die Pickwicksche Reisegesellschaft aufs neue ihre Front der Stadt London zu.

 


 << zurück weiter >>