Charles Dickens
Denkwürdigkeiten des Pickwick-Klubs. Zweiter Teil
Charles Dickens

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Fünfundvierzigstes Kapitel.

Handelt von verschiedenen Kleinigkeiten, die im Fleet vorfielen und von Herrn Winkles geheimnisvollem Benehmen; zeigt auch, wie der Kanzleigefangene endlich erlöst wird.

Herr Pickwick war von Sams inniger Anhänglichkeit zu sehr gerührt, um über seinen raschen Schritt, nämlich seine freiwillige Gefangengebung auf unbestimmte Zeit, Zorn oder Mißfallen zu äußern. Der einzige Punkt, worüber er beharrlich Aufschluß verlangte, war der Name von Sams Gläubiger; aber gerade das wollte Herr Weller beharrlich verschweigen.

»Das bringt durchaus keinen Nutzen«, sagte er nur immer und immer wieder. »Es ist ein nichtsnutziger, schlechtgesinnter, weltlich denkender, bösartiger, rachsüchtiger Kerl mit einem harten Herzen, das nichts zu erweichen imstande ist, wie der tugendhafte Geistliche von dem alten wassersüchtigen Gentleman sagte, als dieser der Meinung war, im ganzen halte er es für besser, seine Habe seinem Weibe zu hinterlassen, als eine Kapelle damit zu bauen.«

»Aber bedenke, Sam«, setzte Herr Pickwick auseinander, »die Summe ist so unbedeutend, daß sie leicht bezahlt werden kann, und wenn du dir vorgenommen hast, bei mir zu bleiben, so solltest du auch daran denken, daß du mir weit mehr zu nützen vermagst, wenn du außerhalb dieser Mauern spazierengehen kannst.«

»Ich bin Ihnen sehr verbunden, Sir«, versetzte Herr Weller ernst, »aber ich habe das nicht im Sinn.«

»Was nicht im Sinn, Sam?«

»Nun, Sir, ich habe nicht im Sinn, mich so weit zu demütigen, um diesen gewissenlosen Feind um Gnade zu bitten.«

»Aber das heißt nicht um Gnade bitten, wenn du ihm sein Geld gibst, Sam«, urteilte Herr Pickwick.

»Bitte um Verzeihung, Sir«, versetzte San»: »aber eine sehr große Gnade wäre es für ihn, wenn ich es ihm gäbe, und die verdient er nicht; da liegt der Hase im Pfeffer.«

Als sich Herr Pickwick mit einer verlegenen Miene an der Nase rieb, fand es Herr Weller für gut, das Thema der Unterhaltung zu verändern.

»Ich fasse meine Entschlüsse aus Grundsatz, Sir«, bemerkte Sam, »und Sie fassen die ihrigen aus dem nämlichen Grunde, und dabei fällt mir der Mann ein, der sich aus Grundsatz tötete, wovon Sie natürlich schon gehört haben werden, Sir.«

Hier verstummte Herr Weller und warf einen verschmitzt-komischen Blick auf seinen Herrn.

»Ich finde darin nichts Natürliches«, erwiderte Herr Pickwick, trotz der Unbehaglichkeit, in die ihn Sams Beharrlichkeit versetzt hatte, in ein Lächeln übergehend. »Der Ruf des fraglichen Mannes ist mir noch nie zu Ohren gekommen.«

»Nicht doch, Sir«, rief Herr Weller. »Sie setzen mich in Erstaunen, Sir: es war ein Schreiber bei einer Regierungsbehörde, Sir.«

»So«, entgegnete Herr Pickwick.

»Ja, das war er, Sir«, versetzte Herr Weller: »und ein sehr artiger Herr dazu – einer von jener exakten und empfindlichen Art, der bei nasser Witterung seine Füße in wärmende Hüllen steckte und keine anderen Busenfreunde hatte als Hasenbälge. Er sparte sein Geld aus Grundsatz, trug jeden Tag ein frisches Hemd aus Grundsatz, sprach nie mit einem von seinen Verwandten aus Grundsatz (denn er fürchtete, sie möchten ihm etwas abborgen), und war in der Tat ein ganz scharmanter Mann. Er ließ sich aus Grundsatz alle vierzehn Tage das Haar schneiden und trug enge Kleider aus ökonomischem Grundsatz – drei Anzüge des Jahrs, die abgelegten schickte er zurück. Da er ein sehr ordnungsliebender Herr war, so speiste er jeden Tag an dem gleichen Orte, wo das Gedeck einen Schilling und neun Pence kostete, und es war wirklich einen Schilling und neun Pence wert, wie der Wirt mit Tränen in den Augen oft bemerkte, wenn der Herr zur Winterszeit das Feuer anzuschüren pflegte, was täglich wenigstens ein Verlust von fünfthalb Pence für ihn war, um gar nicht den Verdruß zu erwähnen, den ihm dieser Anblick verursachte. Dabei war er auch außerordentlich vornehm. ›Die Post nach dem nächsten Herrn‹, singt er täglich dem Kellner vor, wenn er hereintritt. ›Sehen Sie nach den Times, Thomas; bringen Sie mir den Morning-Herald, wenn er frei ist, vergessen Sie nicht, mir das ChronicleAlles englische Tageszeitungen, die der wirtschaftliche Herr dann im Gasthaus umsonst zu lesen bekam. zu bestellen: und holen Sie mir auch das Wochenblatt, wollen Sie so gut sein?‹ Und dann setzt er sich nieder, heftet seine Augen starr auf die Uhr und rennt gerade eine Viertelstunde vor der Zeit hinaus, um dem Boy in den Weg zu stehen, wenn er mit den Abendzeitungen kommt. Diese liest er dann mit einer Aufmerksamkeit und Beharrlichkeit, die die andern Gäste an den Rand der Verzweiflung und des Wahnsinns bringen, besonders aber einen reizbaren alten Herrn, auf den der Kellner während dieser Zeit ein besonders wachsames Auge haben muß, weil zu befürchten steht, er möge versucht sein, mit dem Tranchiermesser eine allzu rasche Handlung zu begehen. Gut, Sir: und hier sitzt er drei Stunden lang auf dem besten Platz und erquickt sich nach seinem Mittagessen mit nichts anderm mehr, als mit Schlaf. Dann geht er in ein Kaffeehaus, das einige Straßen weiter oben ist, und läßt sich eine kleine Kanne Kaffee und vier Milchwecken geben, worauf er nach seiner Wohnung zu Kensington schlendert und sich zur Ruhe legt. Eines Abends fühlt er sich sehr unwohl; schickt nach dem Doktor. Der Doktor kommt in einem grünen Fly mit einer Art von Robinson-Crusoe-Leiter, die er niederlassen konnte, wenn er ausstieg, und heraufziehen, wenn er eingestiegen war, um den Kutscher der Notwendigkeit zu überheben, ihm herauszuhelfen, damit das Publikum nicht gewahr werde, daß derselbe nur einen Livreerock, aber keineswegs dazu passende Hosen anhatte. ›Was fehlt Ihnen?‹ fragte der Doktor. – ›Ich bin sehr krank‹, sagte der Patient. – ›Was haben Sie gegessen?‹ fragte der Doktor. – ›Kalbsbraten‹, sagte der Patient. – ›Was haben Sie zuletzt zu sich genommen?‹ fragte der Doktor. – ›Milchwecken‹, sagte der Patient. – ›Da haben wir's‹, sagte der Doktor. ›Ich will Ihnen sogleich ein Schächtelchen voll Pillen schicken, und nehmen Sie nie wieder etwas der Art zu sich‹, sagte er. – ›Was soll ich nie wieder zu mir nehmen?‹ fragte der Patient: ›Pillen?‹ – ›Nein, Milchwecken‹, sagte der Doktor. – ›Warum?‹ fragte der Patient, sich schnell aufrichtend. ›Fünfzehn Jahre lang habe ich aus Grundsatz jeden Abend vier Milchwecken gegessen.‹ – ›Nun, so lassen Sie es aus Grundsatz künftig bleiben‹, sagte der Doktor. – ›Milchwecken sind gesund, Sir‹, sagte der Patient. – ›Milchwecken sind nicht gesund, Sir‹, sagte der Doktor mit sehr strengem Tone. – ›Aber sie sind so wohlfeil‹, sagte der Patient, etwas verstimmt, ›und so sättigend für ihren Preis.‹ – ›Für Sie sind sie um jeden Preis zu teuer gewesen, zu teuer, weil Sie jetzt dafür büßen müssen‹, sagte der Doktor. ›Vier Milchwecken an einem Abend‹, sagte er, ›werden Sie in sechs Monaten vollends liefern!‹ – Der Patient sieht ihm fest ins Gesicht, überlegt sich das Ding lange und sagte endlich: ›Wissen Sie gewiß, daß die Wecken ungesund sind, Sir?‹ – ›Ich setze meinen ärztlichen Ruf zum Pfande‹, sagte der Doktor. – ›Wie viele Milchwecken müßte ich wohl auf einem Sitz essen, um auf einmal umzukommen?‹ fragte der Patient. – ›Ich weiß nicht‹, sagte der Doktor. – ›Glauben Sie, mit Wecken für eine halbe Krone wäre es geschehen?‹ fragte der Patient. – ›Ich denke fast‹, sagte der Doktor. – ›Können es nicht auch drei Schilling tun?‹ fragte der Patient. – ›Jawohl‹, sagte der Doktor. – ›Schon recht‹, sagte der Patient; ›gute Nacht.‹ Am nächsten Morgen steht er auf, macht Feuer, läßt für drei Schilling Milchwecken kommen, bäht sie alle, ißt sie alle und haucht seinen Geist aus.«

»Warum tat er das?« fragte Herr Pickwick plötzlich; denn er war durch den tragischen Ausgang der Erzählung außerordentlich ergriffen.

»Warum er das tat, Sir?« wiederholte Sam. »Nun, aus Treue gegen seinen erhabenen Grundsatz, daß Milchwecken gesund seien, und um zu zeigen, daß er sich von niemandem seine Meinung rauben lasse!«

Mit dergleichen Wendungen und Abschweifungen im Gange der Unterhaltung begegnete Herr Weller den Fragen seines Herrn den ganzen ersten Abend über, an dem er seine Residenz im Fleet aufgeschlagen hatte; und als sich Herr Pickwick von der Nutzlosigkeit aller seiner Gegenvorstellungen überzeugte, erlaubte er es endlich, daß er sich für eine Woche bei einem kahlköpfigen Schuhflicker einlogierte, der in einem der oberen Gänge ein kleines, schmales Gemach bewohnte. In dieses bescheidene Kämmerchen schaffte Herr Weller eine Matratze und ein Bett, die er von Herrn Roker mietete. Als er während der Nacht darauf lag, fühlte er sich so heimisch, als ob er im Kerker erzogen worden wäre und seit drei Menschenaltern seine ganze Familie darin gehaust hätte.

»Raucht Ihr immer, nachdem Ihr zu Bett gegangen seid, alter Kautz?« fragte Herr Weller seinen Zimmergenossen, als sie sich beide zur Ruhe gelegt hatten.

»Ja, das tue ich, junger Mann«, versetzte der Schuhmacher.

»Gestatten Sie mir die Frage, warum Sie Ihr Bett unter diesem tannenen Tische aufschlagen?« sagte Sam.

»Weil ich immer an einen Vierpfosten gewöhnt war, bevor ich hierher kam, und ich finde, daß es diese vier Beine ebenso gut tun«, versetzte der Schuhmacher.

»Sie sind ein Mann von Charakter, Sir«, meinte Sam.

»Ich habe noch nie etwas Derartiges an mir entdeckt«, sagte der Schuhflicker mit Kopfschütteln, »und wenn Sie einen guten haben, so fürchte ich, es möchte Ihnen schwer fallen, sich mit diesem Bureau zu befreunden.«

Dies kurze Zwiegespräch fand statt, als Herr Weller an dem einen und der Schuhmacher an dem andern Ende des Gemachs auf seinem Bett ausgestreckt lagen, während das Kämmerchen von dem Schein eines Nachtlichtes und der Pfeife des Schuhmachers, die wie eine rotglühende Kohle unter dem Tische schimmerte, erleuchtet war. So kurz die Unterhaltung auch war, so nahm sie doch Herrn Weller sehr für seinen Zimmergenossen ein. Sich auf den Ellbogen stützend, schenkte er seinem Äußern eine weit längere Aufmerksamkeit, als er bisher dazu Zeit oder Neigung gehabt hatte.

Es war ein schmutzig aussehender Mann – alle Schuhmacher sind es – und hatte eine starken, struppigen Bart – alle Schuhmacher haben ihn; sein Gesicht war ein seltsames, gutmütiges, krummgezogenes Exemplar aus der Tagelöhnersippschaft, mit einem Paar Augen, die einst einen sehr jovialen Ausdruck gehabt haben mußten, denn sie glänzten auch jetzt noch. Das Alter hatte den Mann auf sechzig und das Gefängnis, der Himmel weiß, auf wieviel Jahre gebracht, so daß sein an Heiterkeit oder Zufriedenheit grenzendes Gesicht sonderbar genug aussah. Es war ein kleiner Mann, und da er durch sein Bett in zwei Hälften geteilt war, so erschien er ungefähr gerade so groß, wie er ohne Beine gewesen sein mußte. Er hatte eine große, rote Pfeife im Munde stecken, aus der er kräftige Wolken blies, und starrte mit einem Ausdrucke beneidenswerter Behaglichkeit ins Licht.

»Sind Sie schon lange hier?« fragte Sam, das Stillschweigen unterbrechend, das seit einiger Zeit drückend auf ihnen lastete.

»Zwölf Jahre«, versetzte der Schuhmacher, bei diesen Worten an dem Mundstück seiner Pfeife kauend.

»Wahrscheinlich einen Befehl des Gerichtshofes verachtet?« fragte Sam.

Der Schuhmacher nickte.

»Schön«, versetzte Sam ernst; »warum beharren Sie in Ihrem Starrsinn, daß Sie Ihr kostbares Leben in diesem großartigen Pfandstall dahinschwinden lassen? Warum geben Sie nicht nach und erklären der Kanzlerschaft, es tue Ihnen sehr leid, daß Sie den Gerichtshof verachtet hätten; Sie wollten es aber nicht wieder tun?«

Der Schuhmacher schob lächelnd seine Pfeife in einen Mundwinkel, brachte sie dann wieder an ihren alten Platz zurück und sagte nichts.

»Warum tun Sie es nicht?« fragte Sam mit eindringlicherem Ernste.

»Ach«, erwiderte der Schuhmacher, »das verstehen Sie nicht. Was glauben Sie, das mich zugrunde gerichtet hat?«

»Nun«, sagte Sam, das Nachtlicht putzend, »vermutlich begann die Sache damit, daß Sie in Schulden kamen, nicht wahr?«

»Noch nie schuldete ich einen Heller«, versetzte der Schuhmacher; »raten Sie noch einmal.«

»Wohlan, Sie kauften vielleicht Häuser, was hier zu Land schwierig genug ist, um wahnsinnig zu werden; oder bauten gar, was ein medizinischer Kunstausdruck für Unheilbarkeit ist?«

Der Schuhmacher schüttelte den Kopf und sagte: »Raten Sie weiter.«

»Sie prozessierten doch hoffentlich nicht?« sagte Sam argwöhnisch.

»In meinem Leben nie«, versetzte der Schuhmacher. »Die Sache ist die, ich wurde durch eine Erbschaft ruiniert.«

»Gehen Sie, gehen Sie«, sagte Sam; »das ist nicht wahr. Ich wünschte mir einen reichen Feind, der mich auf diese Art zu ruinieren suchte. Ich ließe ihn gewähren.«

»Ich dachte mir wohl, Sie würden's nicht glauben«, fuhr der Schuhmacher, ruhig seine Pfeife rauchend, fort. »An Ihrer Stelle ginge es mir ebenso; aber es ist bei all'dem wahr.«

»Wie ist das aber möglich?« fragte Sam, durch den Blick, den ihm der Schuhmacher zuwarf, schon in seiner Zweifelsucht wankend gemacht.

»Es kam so«, versetzte der Schuhmacher: »Ein alter Herr im Lande drunten, für den ich arbeitete, und von dem ich eine arme Verwandte heiratete – sie starb, Gott habe sie selig, und Dank sei ihm dafür gesagt – ward vom Schlag getroffen und ging heim.«

»Wohin?« fragte Sam, den die zahlreichen Ereignisse des Tages schläfrig gemacht hatten.

»Was weiß ich, wohin er ging?« erwiderte der Schuhmacher, im Hochgenusse seiner Pfeife durch die Nase sprechend. »Er ging zu den Toten.«

»Ah, so meinen Sie's?« bemerkte Sam. »Gut.«

»Gut«, sagte der Schuhmacher; »er hinterließ fünftausend Pfund.«

»Und das war sehr schön von ihm«, fiel Sam ein.

»Wovon er mir eintausend vermachte«, fuhr der Schuhmacher fort, »weil ich seine Verwandte geheiratet hatte. Sie verstehen mich?«

»Sehr gut«, murmelte Sam.

»Und von einer großen Menge Nichten und Neffen umringt, die sich unaufhörlich um das Vermögen stritten und zankten, machte er mich zum Vollstrecker seines letzten Willens und gab mir das übrige in Verwahrung, um es vorschriftsmäßig unter sie zu verteilen.«

»Was meinen Sie mit dem ›in Verwahrung geben?‹« fragte Sam, etwas wach werdend. »Wenn es kein bar Geld ist, wozu nützt es dann?«

»Es ist ein juristischer Fachausdruck, weiter nichts«, antwortete der Schuhmacher.

»Daran dachte ich nicht«, sagte Sam, den Kopf schüttelnd. »In diesem Gewölbe liegt wenig in Verwahrung. Indessen, fahren Sie nur fort.«

»Gut«, sagte der Schuhmacher, »als ich im Begriff war, einen gerichtlichen Bestätigungsschein ausfertigen zu lassen, gaben die Nichten und Neffen, die über die Enttäuschung, daß sie nicht alles erhalten sollten, in Verzweiflung waren, ein Caveat ein.«

»Was ist das?« fragte Sam.

»Eine gerichtliche Eingabe, die so viel sagen will, wie ›wir leiden's nicht‹«, erwiderte der Schuhmacher.

»Ich verstehe«, sagte Sam: »eine Art Stiefbruder von dem hafis corpusVerdrehung des lateinischen »Habeas corpus«, womit gesetzliche Bestimmungen anfingen.. Gut.«

»Aber«, fuhr der Schuhmacher fort, »als sie fanden, daß sie untereinander selbst nicht eins werden und folglich auch das Testament nicht anfechten konnten, zogen sie das Caveat wieder zurück, und ich bezahlte sämtliche Vermächtnisse aus.

Kaum habe ich dies getan, als ein Neffe eine Schrift eingibt, die auf Umstoßung des Testaments anträgt. Der Fall kommt einige Monate darauf vor einen alten tauben Herrn in einem Hinterzimmer in der Gegend vom Pauls-Kirchhof; und nachdem ihn vier Advokaten einen Tag lang schrecklich überlaufen haben, um ihn noch künstlich zu betäuben, zieht er die Sache acht bis vierzehn Tage lang in Erwägung und entlehnt seine Entscheidung aus sechs Bänden, die dahin ausfällt, daß der Erblasser im Oberstübchen nicht recht zu Haus gewesen sei und ich das ganze Geld wieder herausgeben und alle Kosten bezahlen müsse. Ich appellierte; die Sache kam vor drei oder vier Schlafmützen, die die Verhandlung schon im ersten Gerichtshofe mit angehört hatten, wo sie Anwälte ohne Geschäft sind; der einzige Unterschied bestand darin, daß sie hier Doktoren und im andern Gerichtshofe Delegaten heißen, wenn Sie das verstehen; und sie bestätigten pflichtschuldigst das Urteil des alten Herrn. Daraufhin wanderten wir in die Kanzlei, wo wir noch sind, und wo ich zeitlebens bleiben werde. Meine Anwälte hatten sich schon lange vorher in den Besitz meiner sämtlichen tausend Pfund gesetzt, und was den Stand, wie sie es nennen, und die Kosten betrifft, so sitze ich hier für zehntausend, und werde hier sitzen, bis meine letzten Schuhe geflickt sind. Einige Herren haben davon gesprochen, die Sache dem Parlamente vorzulegen, und ich glaube, sie würden es getan haben; aber sie hatten keine Zeit, zu mir zu kommen, und ich keine Erlaubnis, zu ihnen zu gehen; und der langen Episteln wurden sie müde, und so ließen sie die Sache fallen. Das ist Gottes Wahrheit und kein Jota zu wenig oder zu viel, wie fünfzig Personen, sowohl in als außer diesen Mauern, sehr genau wissen.«

Der Schuhmacher schwieg, um die Wirkung zu beobachten, die seine Erzählung auf Sam gemacht hatte: aber da er sah, daß derselbe eingeschlafen war, so klopfte er die Asche aus seiner Pfeife, seufzte, legte sie beiseite, zog die Bettlaken über den Kopf und überließ sich gleichfalls dem Schlafe.

Am folgenden Morgen war Sam im Kämmerchen des Schuhmachers eifrig damit beschäftigt, seines Herrn Schuhe zu wichsen und dessen schwarze Gamaschen auszubürsten. Herr Pickwick saß allein beim Frühstück, als jemand an seine Tür pochte. Ehe Herr Pickwick »Herein« rufen konnte, wurde ein Kopf sichtbar, der von Haar umwallt und mit einer Mütze von Baumwollsamt bedeckt war – Bekleidungsstücke, die man ohne große Schwierigkeit als persönliches Eigentum Herrn Smangles erkannte.

»Wie geht es Ihnen?« fragte der würdige Mann, seine Frage mit einem oder zwei Dutzend Bücklingen begleitend. »Erwarten Sie heute morgen jemand? Drei Herren – verteufelt gentlemanmäßige Burschen – haben unten nach Ihnen gefragt und auf der Hausflur an jede Tür gepocht, so daß sie von den Mitgliedern des hiesigen Kollegiums, die aufmachen mußten, ganz teuflisch angefahren wurden.«

»Lieber Himmel, wie töricht von ihnen«, sagte Herr Pickwick aufstehend. »Ja, ich zweifle nicht, es sind Freunde von mir, die ich schon gestern erwartete.«

»Freunde von Ihnen?« rief Smangle, Herrn Pickwick bei der Hand fassend. »Sprechen Sie nicht weiter. Bei Gott, von diesem Augenblick an sind es auch Freunde von mir und Freunde von Mivins. Ein verteufelt fixer, gentlemanmäßiger Bursche, der Mivins, nicht wahr?« sagte Smangle voller Empfindung.

»Ich kenne diesen Herrn zu wenig«, sagte Herr Pickwick zögernd, »als daß ich – –«

»Ich weiß es«, unterbrach ihn Smangle, Herrn Pickwick auf die Schulter klopfend. »Sie werden ihn besser kennenlernen. Sie werden entzückt von ihm sein. Dieser Mann, Sir«, sagte Smangle mit feierlichem Gesichte, »hat Anlagen zum Komiker, die dem Drury-Lane-TheaterEin beliebtes Theater in London Ehre machen würden.«

»Wirklich?« entgegnete Herr Pickwick.

»Ja, beim Zeus, das hat er!« versetzte Smangle. »Hören Sie ihn einmal die vier Kater auf dem Schiebkarren spielen – vier ausgezeichnete Kater, Sir, ich gebe Ihnen mein Ehrenwort. Nun, Sie wissen, es ist verteufelt hübsch; Gott verdamme mich. Sie müssen einen Mann liebgewinnen, wenn Sie solche Eigenschaften an ihm entdecken. Er hat nur einen Fehler – das Fehlerchen, von dem ich Ihnen gesagt habe. Sie wissen es.«

Als Herr Smangle bei diesen Worten seinen Kopf auf eine vertrauliche, Beifall fordernde Weise schüttelte, fühlte Herr Pickwick, daß man eine Antwort von ihm erwartete. Er sagte deshalb »Ja« und sah unverwandt nach der Tür.

»Ja«, wiederholte Herr Smangle mit einem langen Seufzer. »Er ist ein trefflicher Gesellschafter, dieser Mann, Sir – ich kenne keinen besseren Gesellschafter; aber er hat die eine abstoßende Eigenschaft: wenn ihm heute der Geist seines Großvaters erschiene, so würde er ihn um ein Darlehen von achtzehn Pence ersuchen.«

»Ach du mein Himmel!« rief Herr Pickwick aus.

»Ja«, setzte Herr Smangle hinzu, »und wenn er Macht hätte, ihn wieder zu rufen, so würde er ihn zwei Monate und drei Tage nach diesem Zeitpunkt um die gleiche Summe bitten.«

»Das sind äußerst merkwürdige Eigenschaften«, sagte Herr Pickwick, »aber ich fürchte, meine Freunde möchten, während wir hier miteinander sprechen, in großer Verlegenheit sein, wenn sie mich nicht finden.«

»Ich will ihnen den Weg zeigen«, sagte Smangle, nach der Tür gehend. »Guten Tag. Ich möchte Sie nicht stören, während sie hier sind, Sie wissen es. Beiläufig gesagt – –«

Bei den beiden letzten Worten blieb Herr Smangle stehen, drückte die Tür, die er geöffnet hatte, wieder zu, kehrte zu Herrn Pickwick zurück, stellte sich dicht neben ihm auf die Zehenspitzen und flüsterte ihm ganz leise ins Ohr –

»Könnten Sie mir nicht bis gegen Ende der nächsten Woche eine halbe Krone vorstrecken?«

Herr Pickwick konnte sich kaum des Lächelns enthalten, zwang sich jedoch, seinen Ernst beizubehalten, zog das Geld hervor und legte es Herrn Smangle in die Handfläche, worauf dieser Herr mit verschiedenem Winken und Gebärden, die auf Geheimhaltung des großen Mysteriums hindeuteten, verschwand, um die drei Fremden aufzusuchen. Mit diesen kehrte er im nächsten Augenblick zurück, und nachdem er dreimal gehustet und ebensooft genickt hatte, um Herrn Pickwick zu verstehen zu geben, er werde es nicht vergessen, das Geliehene wieder heimzugeben, schüttelte er allen Anwesenden sehr verbindlich die Hand und ging endlich ab.

»Meine teuren Freunde«, sagte Herr Pickwick, Herrn Tupman, Herrn Winkle und Herrn Snodgrass – denn das waren die drei fraglichen Gäste – nacheinander die Hand drückend: »ich bin entzückt. Sie zu sehen.«

Das Triumvirat war sehr gerührt. Herr Tupman schüttelte kläglich sein Haupt: Herr Snodgrass zog mit unverstellter Bewegung sein Taschentuch hervor und Herr Winkle trat ans Fenster und schluchzte laut.

»Guten Morgen, meine Herren«, sagte Sam, in diesem Augenblick mit den Schuhen und Gamaschen eintretend: »weg mit der Melancholie, wie der kleine Junge sagte, als seine Schulmeisterin starb. Willkommen in der Akademie, meine Herren!«

»Dieser närrische Bursche«, sagte Herr Pickwick, Sam an den Kopf tätschelnd, als er niederkniete, um seinem Herrn die Gamaschen zu knöpfen – »dieser närrische Bursche hat sich selbst festsetzen lassen, um in meiner Nähe zu sein.«

»Was?« riefen die drei Freunde.

»Ja, meine Herren«, sagte Sam: »ich bin – halten Sie gefälligst Ihren Fuß ruhig, Sir – ich bin ein Gefangener, meine Herren; ein bißchen in der Soße, wie die Dame sagte.«

»Ein Gefangener!« rief Herr Winkle mit unaussprechlicher Empörung.

»Holla, Sir!« versetzte Sam in die Höhe sehend. »Was gibt's, Sir?«

»Ich hatte gehofft, Sam, daß – nichts, nichts«, sagte Herr Winkle plötzlich.

In Herrn Winkles Benehmen lag etwas so Hastiges und Unentschlossenes, daß Herr Pickwick unwillkürlich einen um Aufschluß bittenden Blick auf seine beiden Freunde warf.

»Wir wissen nichts«, sagte Herr Tupman, diese stumme Aufforderung laut erwidernd. »Er ist schon seit zwei Tagen außerordentlich aufgeregt, und sein ganzes Benehmen ist anders, als es bisher zu sein pflegte. Wir fürchteten, es möchte etwas vorgefallen sein, aber er leugnet hartnäckig.«

»Nein, nein«, sagte Herr Winkle, unter Herrn Pickwicks Forscherblick errötend: »es ist wirklich nichts: ich versichere Sie, es ist nichts, mein Teuerster. Ich werde wegen eines Privatgeschäftes in kurzem die Stadt verlassen müssen, und ich hatte gehofft, Sie zu der gütigen Erlaubnis bewegen zu können, Sam mitgehen zu lassen.«

Herrn Pickwicks Gesicht drückte noch größeres Erstaunen aus als zuvor.

»Ich glaubte«, stammelte Herr Winkle, »Sam würde nichts dagegen haben. Aber natürlich, wenn er Gefangener ist, so ist die Sache unmöglich und ich muß allein gehen.«

Während Herr Winkle also sprach, fühlte Herr Pickwick mit einigem Erstaunen, daß Sams Finger an den Gamaschen zitterten, als ob er überrascht oder bestürzt wäre. Er sah auch auf Herrn Winkle, als dieser geredet hatte, und obgleich der Blick, den sie wechselten, nur die Zeit eines Augenblicks wegnahm, so schienen sie einander doch zu verstehen.

»Weißt du etwas von dieser Sache, Sam?« fragte Herr Pickwick scharf.

»Nein, Sir«, versetzte Herr Weller, mit außerordentlicher Emsigkeit zu knöpfen anfangend.

»Gewiß, Sam?« sagte Herr Pickwick.

»Nun, Sir«, antwortete Herr Weller: »so viel ist wenigstens gewiß, daß ich vor diesem Augenblick noch nie etwas über diesen Gegenstand gehört habe. Wenn ich auch etwas errate«, fügte Sam mit einem Blick auf Herrn Winkle hinzu, »so bin ich nicht befugt, es zu sagen, denn ich könnte auch falsch geraten haben.«

»Ich habe kein Recht, weiter in die Privatangelegenheiten meines Freundes zu dringen, und wenn wir auch noch so vertraut sind«, sagte Herr Pickwick nach kurzem Schweigen. »Laßt mich nur noch soviel sagen, daß ich von all dem nicht das mindeste verstehe. Es – doch genug über diesen Punkt.«

Hierauf lenkte Herr Pickwick das Gespräch auf verschiedene Dinge, und Herr Winkle wurde allmählich unbefangener, wiewohl er immer noch weit von der eigentlichen Behaglichkeit entfernt war. Sie hatten so viel miteinander zu besprechen, daß der Vormittag schnell verfloß, und als Herr Winkle um drei Uhr auf dem kleinen Tische eine Hammelkeule und eine ungeheure Fleischpastete mit verschiedenen Platten Gemüse und Flaschen Porter aufstellte, die auf den Stühlen oder auf dem Ruhebette oder wo sonst Platz war, standen, fühlte sich jeder in die Stimmung versetzt, dem Mahle Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, obgleich es die abstoßende Küche des Gefängnisses war, wo das Fleisch gekauft und zubereitet und die Pastete gemacht und gebacken worden war.

Den Nachtisch bildeten ein paar Flaschen vorzüglichen Weines, die Herr Pickwick aus dem Kaffeehaus Horn in Doktor Commons hatte holen lassen. Die paar Flaschen hätte man eigentlich richtiger ein Halbdutzend nennen können, und als der Wein getrunken und der Tee vorüber war, läutete die Glocke zum Zeichen, daß sich die Fremden jetzt entfernen müßten.

Aber war Herrn Winkles Benehmen am Morgen unerklärlich gewesen, so wurde es jetzt völlig übersinnlich und feierlich, als er sich unter dem Einflüsse seiner Gefühle und seines Anteils an dem Halbdutzend zum Abschied vorbereitete. Er blieb zurück bis die Herren Tupmann und Snodgrass verschwunden waren, und drückte dann Herrn Pickwick feurig die Hand, mit einem Gesicht, auf dem feste Entschlossenheit und Gram zusammen brennend kämpfen.

»Gute Nacht, mein Teuerster«, murmelte Herr Winkle zwischen den Zähnen.

»Gott segne Sie, mein lieber Freund«, versetzte der gerührte Herr Pickwick, als er den Händedruck seines jungen Freundes erwiderte.

»Rasch, rasch!« erscholl Herrn Tupmans Stimme im Gang.

»Ja, ja, im Augenblick«, antwortete Herr Winkle. »Gute Nacht.«

»Gute Nacht«, sagte Herr Pickwick.

Es wurde noch einmal gute Nacht gesagt und noch einmal, und nach diesem noch ein Halbdutzendmal, und immer noch hielt Herr Winkle die Hand seines Freundes fest und sah ihm mit demselben seltsamen Ausdruck ins Gesicht.

»Ist denn etwas vorgefallen?« fragte Herr Pickwick, als ihm vor lauter Schütteln sein Arm weh tat.

»Nichts«, erwiderte Herr Winkle.

»Nun denn, gute Nacht«, sagte Herr Pickwick, seine Hand loszumachen suchend.

»Mein Freund, mein Wohltäter, mein verehrter Gefährte«, murmelte Herr Winkle, ihn am Handgelenk fassend; »beurteilen Sie mich nicht hart; tun Sie das nicht, wenn Sie hören, daß ich, durch unüberwindliche Hindernisse dazu genötigt – –«

»Wird's bald?« sagte Herr Tupman, sich wieder in der Tür zeigend. »Kommen Sie oder sollen wir eingesperrt werden?«

»Ja, ja, ich bin bereit«, erwiderte Herr Winkle.

Und mit furchtbarer Anstrengung riß er sich los.

Als ihnen Herr Pickwick mit stummem Erstaunen durch den Gang nachblickte, erschien Sam Weller oben an der Treppe und flüsterte einen Augenblick Herrn Winkle etwas ins Ohr.

»O gewiß, verlassen Sie sich auf mich«, sagte dieser Herr laut.

»Danke Ihnen, Sir; aber Sie vergessen es doch nicht, Sir?« bemerkte Sam.

»Auf keinen Fall«, erwiderte Herr Winkle.

»Wünsche Ihnen Glück, Sir«, sagte Sam, an seinen Hut greifend. »Es hätte mich recht sehr gefreut. Sie begleiten zu können, Sir; aber die Herrschaft kommt natürlich zuerst.«

»Es ist ein sehr empfehlender Zug von Ihnen, daß Sie hier bleiben«, versetzte Herr Winkle.

Mit diesen Worten ging das Kleeblatt die Treppe hinab und verschwand.

»Höchst sonderbar«, sagte Herr Pickwick, in sein Zimmer zurückkehrend und sich in nachdenklicher Haltung an den Tisch setzend. »Was kann der junge Mann vorhaben?«

Er hatte einige Zeit über diesen Punkt nachgedacht, als die Stimme Rokers, des Schließers, fragte, ob er eintreten dürfe.

»Ich bringe Ihnen hier ein weicheres Kissen, Sir«, sagte Roker, »statt des bisherigen, das Sie gestern nacht gehabt haben.«

»Ich danke Ihnen«, versetzte Herr Pickwick. »Wollen Sie ein Glas Wein trinken?«

»Sie sind sehr gütig, Sir«, erwiderte Herr Roker, das dargebotene Glas annehmend. »Ihre Gesundheit, Sir.«

»Ich danke Ihnen«, sagte Herr Pickwick.

»Ich bedaure. Ihnen sagen zu müssen, daß es Ihrem Gefährten diesen Abend sehr schlecht geht, Sir«, bemerkte Roker, das Glas niederstellend und das Futter seines Hutes musternd, um den Hut zum Aufsetzen vorzubereiten.

»Was? der Kanzleigefangene?« rief Herr Pickwick.

»Er wird nicht mehr lange Kanzleigefangener sein, Sir«, erwiderte Roker, seinen Hut umwendend, so daß er oben auf der rechten Seite den Namen des Hutmachers erblickte, wenn er hinein sah.

»Ich bin starr!« sagte Herr Pickwick. »Was meinen Sie damit?«

»Er ist schon lange schwindsüchtig gewesen«, versetzte Herr Roker, »und diesen Abend hat er außerordentliche Atmungsbeschwerden bekommen. Der Arzt sagt schon seit einem halben Jahre, nur eine Luftveränderung könne ihn retten.«

»Großer Gott!« rief Herr Pickwick; »so ist dieser Mann ein halbes Jahr lang von der Gerechtigkeit langsam gemordet worden?«

»Das verstehe ich nicht, Sir«, erwiderte Roker, den Hut zwischen beiden Händen an der Krempe wägend. »Es wäre ihm vermutlich an jedem andern Orte auch so gegangen. Diesen Morgen kam er aufs Krankenzimmer. Der Doktor sagt, man müsse ihm so viel als möglich stärkende Sachen geben, und der Vorsteher schickt ihm Wein, Fleischbrühe und dergleichen aus seinem eigenen Hause. Der Vorsteher ist unschuldig, das wissen Sie, Sir.«

»Natürlich«, erwiderte Herr Pickwick schnell.

»Ich fürchte jedoch«, sagte Roker kopfschüttelnd, »es ist alles umsonst. Ich bot Neddy soeben erst eine Wette von zwei Gläsern Schnaps gegen eines an, aber er wollte nicht, und da hatte er ganz recht. Danke Ihnen, Sir. Gute Nacht, Sir.«

»Halt«, rief Herr Pickwick mit ernstem Tone. »Wo ist das Krankenzimmer?«

»Gerade über Ihrem Schlafgemach, Sir«, antwortete Roker. »Ich will es Ihnen zeigen, wenn Sie mitkommen wollen.«

Herr Pickwick ergriff in Eile schweigend seinen Hut und folgte auf der Stelle.

Der Schließer ging still voran, und die Türklinke leise aufdrückend, forderte er Herrn Pickwick auf, einzutreten. Es war ein großes, kahles, ödes Zimmer mit einer Menge eiserner Halbbettstellen, auf deren einer der Schatten eines Menschen lag – bleich und geisterhaft. Er atmete hart und schwer und ächzte vor Schmerzen, so oft sich die Brust hob und so oft sie sich senkte. Am Bette saß ein kleiner, alter Mann in einer Schuhmacherschürze, der eine Hornbrille auf der Nase hatte und laut aus der Bibel vorlas. Es war jener uns bekannte »glückliche« Testamentsvollstrecker.

Der Kranke legte seine Hand auf den Arm seines Trösters und bat ihn innezuhalten. Dieser machte das Buch zu und legte es aufs Bett.

»Öffnen Sie doch das Fenster«, sagte der Kranke.

Er tat es. Das Gepolter der Wagen und Karren, das Gerassel der Räder, das Geschrei der Männer und Kinder, der ganze Lärm des Lebens und Webens einer geschäftigen Menge wogte in dumpfem Gemurmel in das Zimmer. Aus dem dumpfen Summen erhob sich von Zeit zu Zeit ein schallendes Gelächter, oder schlug das Bruchstück eines fröhlichen Liedes, das von einem lustigen Haufen gesungen wurde, auf einen Augenblick ans Ohr und verhallte dann im allgemeinen Lärm der Stimmen und Fußtritte – die Brandung der rastlosen See des Lebens, die draußen ihre Wogen wälzt. Das sind jederzeit melancholische Töne für einen ruhigen Zuhörer, aber wie melancholisch müssen sie dem Ohre des Menschen klingen, der am Sterbebette wacht.

»Es fehlt an Luft hier«, sagte der Kranke mit schwacher Stimme. »Der Ort verpestet sie; sie war ringsum frisch, als ich vor Jahren hierher kam; aber sie wird schwül und drückend auf ihrem Wege durch diese Mauern. Ich kann sie nicht atmen.«

»Wir haben sie lange miteinander geatmet«, versetzte der Alte. »Es wird schon wieder besser werden.«

Es folgte eine kurze Pause, während der die beiden Zuschauer näher ans Bett traten. Der Kranke zog eine von den beiden Händen seines alten Mitgefangenen an sich, drückte sie zärtlich zwischen den seinen und hielt sie lange umschlungen.

»Ich hoffe«, stöhnte er nach einiger Zeit mit so schwacher Stimme, daß man das Ohr hart ans Bett halten mußte, um die halben Laute zu vernehmen, die über seine blauen Lippen zitterten – »ich hoffe, mein gnädiger Richter wird meiner schweren Buße auf Erden gedenken. Zwanzig Jahre, mein Freund, zwanzig Jahre in diesem scheußlichen Grabe! Mein Herz brach, als mein Kind starb, und ich konnte es nicht einmal küssen in seinem kleinen Sarge. Meine Verlassenheit seitdem ist, trotz all dieses Lärmens und Tosens, wahrhaft fürchterlich gewesen. Möge mir Gott vergeben! Er hat meine Einsamkeit, meinen langsamen Tod gesehen.«

Er faltete die Hände, und noch etwas murmelnd, was man nicht verstehen konnte, fiel er in Schlaf – nur in Schlafanfang; denn sie sahen ihn lächeln.

Eine kurze Zeit lang flüsterten sie miteinander und der Schließer, der das Kissen hinaufziehen wollte, fuhr schnell zurück.

»Bei Gott, er ist erlöst!« sagte der Mann.

Er war es. Aber er war schon im Leben so totenähnlich geworden, daß sie nicht wußten, wann er gestorben war.

 


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