Charles Dickens
Denkwürdigkeiten des Pickwick-Klubs. Zweiter Teil
Charles Dickens

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Fünfunddreißigstes Kapitel

Das einzig und allein einem ausführlichen und wahrheitsgemäßen Bericht über die denkwürdige Gerichtsverhandlung in der Sache Bardell gegen Pickwick gewidmet ist.

»Ich möchte nur wissen, was der Obmann der Geschworenen heute gefrühstückt hat«, sagte Herr Snodgrass an dem verhängnisvollen Morgen des 14. Februar, um ein Gespräch anzuknüpfen.

»Nun«, meinte Perker, »ich hoffe, er wird etwas Gutes bekommen haben.«

»Und warum hoffen Sie das?« fragte Herr Pickwick.

»Das ist sehr wichtig, mein lieber Herr, sehr wichtig«, erwiderte Perker; »denn von einem wohlgesättigten, zufriedenen Geschworenen läßt sich etwas Tüchtiges erwarten. Übelgelaunte oder hungrige Geschworene aber, mein lieber Herr, sind schon von vornherein für den Kläger eingenommen.«

»Aber woher mag denn das kommen?« fragte Herr Pickwick, sehr mutlos dareinblickend, »warum sind sie so?«

»Das weiß ich selbst nicht«, erwiderte der kleine Mann gleichgültig; »ohne Zweifel, um Zeit zu sparen. Wenn die Stunde des Mittagessens heranrückt und die Geschworenen sich zurückgezogen haben, zieht der Obmann seine Uhr heraus und sagt: ›Bei Gott, meine Herren, nur noch zehn Minuten bis fünf. Ich speise um fünf Uhr, meine Herren.‹ – ›Ich auch‹, sagt dann einer nach dem andern, bis auf zwei, die um drei Uhr gespeist haben und deshalb schon eher geneigt sind, auszuhalten. Der Obmann lächelt und steckt seine Uhr wieder ein. ›Nun gut, meine Herren, was wollen wir sagen? – Kläger oder Beklagter, meine Herren? – Was mich betrifft, meine Herren, so dächte ich – ich sage: ich dächte – aber Sie brauchen sich dadurch nicht bestimmen zu lassen – ich dächte, der Kläger hat recht.‹ Hierauf erklären sicherlich zwei oder drei andere, sie dächten ebenso, wie es auch wirklich der Fall sein mag, und so kommt leicht ein einstimmiger Beschluß zustande. Zehn Minuten über neun«, fügte der kleine Mann, auf seine Uhr sehend, hinzu. »Es ist Zeit, aufzubrechen, mein lieber Herr; ein gebrochenes Eheversprechen – bei solchen Fällen ist der Gerichtssaal gewöhnlich sehr voll. Sie sollten nach einem Wagen schicken, lieber Herr, sonst kommen wir zu spät.«

Herr Pickwick klingelte alsbald; der Wagen kam, die vier Pickwickier und Herr Perker schlüpften hinein und fuhren nach Guildhall: Sam Weller, Herr Lowten und der blaue Sack folgten in einer Droschke.

»Lowten«, sagte Perker, als sie in die Vorhalle des Gerichtshofs kamen, »führen Sie Herrn Pickwicks Freunde zu den Sitzen der Studenten: Herr Pickwick selbst bleibt besser bei mir. Hierher, lieber Herr, hierher.«

Dabei faßte der kleine Mann Herrn Pickwick am Rockärmel und führte ihn an eine niedrige Bank, gerade unter das Pult des königlichen Prokurators, das zur Bequemlichkeit der Sachwalter angebracht ist, damit sie von hier aus dem Hauptanwalt ins Ohr flüstern können, wenn sie während des Fortgangs der Verhandlung noch einige Instruktionen für nötig erachten. Der großen Masse der Zuschauer sind die hier Sitzenden unsichtbar, da die Bank viel niedriger ist als der Platz für die Anwälte oder für das Publikum. Letzeren kehren sie also den Rücken, dem Richter dagegen das Gesicht zu.

»Dies ist wohl die Zeugenloge?« fragte Herr Pickwick, links auf eine Art Katheder mit messingenem Geländer zeigend.

»Ja, mein lieber Herr«, erwiderte Perker, eine Menge Papiere aus dem blauen Sack hervorziehend, die Lowton soeben zu seinen Füßen niedergelegt hatte.

»Und dort«, fragte Herr Pickwick, auf ein paar Sperrsitze zur Rechten zeigend, »dort sitzen wohl die Geschworenen?«

»Erraten, mein lieber Herr«, erwiderte Perker, auf den Deckel seiner Schnupftabaksdose klopfend.

Herr Pickwick stand in großer Unruhe auf und überschaute den ganzen Saal. Es hatten sich bereits eine bunte Schar von Zuschauern auf der Galerie und zahlreiche Exemplare von Herren mit Perücken auf den Bänken der Anwälte eingefunden, die als eine Körperschaft jene lustige und reiche Mannigfaltigkeit an Nasen und Backenbärten darboten, wodurch der englische Advokatenstand mit Recht so berühmt ist. Diejenigen von den Herren, die einen Prozeß zu führen hatten, trugen die Aktenstücke so sehr wie möglich zur Schau und kratzten sich gelegentlich die Nasen damit, um auf die beobachtenden Blicke der Zuschauer einen starken Eindruck zu machen. Andere, die keine Prozeßinstruktionen aufzuweisen vermochten, trugen gewaltige Oktavbände unter den Armen, mit einem Einband, der unter dem technischen Namen »Juristen-Kalbsleder« bekannt ist. Wieder andere, die weder Akten noch Bücher hatten, steckten ihre Hände in die Taschen und blickten so weise um sich, wie sie ziemlicherweise nur konnten, während noch andere mit großer Unruhe und unendlicher Wichtigtuerei hin- und herliefen, zufrieden, die Bewunderung und das Erstaunen der uneingeweihten Fremdlinge zu erregen. Zu Herrn Pickwicks großer Verwunderung hatte sich die ganze Zunft in kleine Gruppen zerteilt, wo sie so gleichgültig wie möglich über die Tagesneuigkeiten hin und her schwatzten, als ob es sich im Augenblicke nicht über einen bedeutenden Rechtsstreit gehandelt hätte.

Eine Verbeugung von Herrn Phunky, der eintrat und sich hinter die für den königlichen Anwalt bestimmte Bank setzte, zog Herrn Pickwicks Aufmerksamkeit auf sich. Er hatte sie kaum erwidert, als der Herr Prokurator Snubbin erschien, gefolgt von Herrn Mallard, der einen gewaltigen karmoisinroten Beutel auf den Tisch legte, wodurch der Prokurator beinahe verdeckt wurde. Nachdem er Perker die Hand gedrückt, entfernte er sich. Sodann kamen noch zwei oder drei Prokuratoren herein, und unter ihnen einer mit einem dicken Bauch und einem roten Gesicht, der dem Herrn Prokurator Snubbin freundlich zuwinkte und zu ihm sagte:

»Ein schöner Morgen, heute.«

»Wer ist der Herr mit dem roten Gesicht, der unserm Anwalt zuwinkte und sagte, es sei ein schöner Morgen?« flüsterte Herr Pickwick.

»Das ist der Herr Prokurator Buzfuz«, erwiderte Perker; »der erste Sachwalter unserer Gegenpartei. Der Herr hinter ihm heißt Skimpin und ist sein Assistent.«

Herr Pickwick stand eben im Begriff, mit großem Abscheu vor der kaltblütigen Schlechtigkeit des Mannes zu fragen, wie Herr Prokurator Buzfuz, der Anwalt der Gegenpartei, so unverschämt sein könne, zum Herrn Prokurator Snubbin, seinem eigenen Sachwalter, zu sagen: es sei ein schöner Morgen, als er durch allgemeines Aufstehen der Anwälte und lautes Stillgebot seitens der Gerichtsdiener daran verhindert wurde. Er sah um sich und fand, daß soeben der Richter eingetreten war.

Herr Stareleigh, der an diesem Tage die Stelle des wegen Krankheit abwesenden Lord-Oberrichters einnahm, war ein auffallend kleiner Mann, und dabei so kugelrund, daß man nichts als Gesicht und Bauch zu sehen glaubte. Er watschelte auf zwei kleinen krummen Beinen herein, und nachdem er sich gravitätisch gegen die Advokaten und die Advokaten sich gegen ihn verbeugt hatten, streckte er die kleinen Beine unter den Tisch und legte seinen kleinen dreispitzigen Hut auf den Tisch. Nun aber konnte man nichts mehr von ihm sehen als zwei wunderlich kleine Äuglein und ein breites rosiges Gesicht, das zur Hälfte aus einer großen, höchst possierlichen Perücke hervorblickte.

Kaum hatte der Richter seinen Sitz eingenommen, als ein Gerichtsdiener mit gebieterischem Tone im Saale Schweigen gebot, worauf ein anderer Diener auf der Galerie mit zorniger Stimme »Still!« rief, und sodann drei oder vier andere Stimmen in unwillig tadelndem Tone ebenfalls Ruhe befahlen. Als das geschehen war, rief ein schwarzgekleideter, etwas niedriger als der Richter sitzender Herr die Namen der Geschworenen auf, und nach langem Geschrei ergab es sich, daß nur zehn Mitglieder der Spezial-Jury zugegen waren. Prokurator Buzfuz trug die Wahl von Ersatzmännern an, worauf der schwarzgekleidete Herr zwei Mitglieder der allgemeinen Jury in das Spezial-Geschworenengericht preßte, indem er geradezu einen Gewürzkrämer und einen Apotheker dafür bestimmte.

»Geben Sie Antwort auf den Namenaufruf, meine Herren, damit man Sie vereidigen kann«, sagte der schwarz gekleidete Herr. »Richard Upwitch!«

»Hier!« sagte der Gewürzkrämer.

»Thomas Groffin!«

»Hier!« erwiderte der Apotheker.

»Nehmen Sie das Buch, meine Herren. Sie wollen gut und gewissenhaft untersuchen – –«

»Ich bitte den Gerichtshof um Nachsicht«, sagte der Apotheker, ein langer, hagerer Mann von gelber Gesichtsfarbe, »aber ich hoffe, der Gerichtshof wird mir dies Geschäft erlassen.«

»Was haben Sie für Gründe, Sir?« fragte der Richter Stareleigh.

»Ich habe keinen Gehilfen, Mylord«, antwortete er.

»Da kann ich nicht helfen, Sir«, erwiderte Herr Stareleigh. »Sie sollten sich einen halten.«

»Ich kann die Kosten nicht erschwingen, Mylord«, versetzte der Apotheker.

»Dann sollten Sie sich Mühe geben, sie erschwingen zu können, Sir«, sagte der Richter und wurde feuerrot: denn sein, nämlich Herrn Stareleighs Temperament war sehr reizbarer Natur, und er konnte keinen Widerspruch ertragen.

»Ich weiß wohl, daß ich es sollte, wenn es mir nach Verdienst erginge; aber das ist nicht der Fall, Mylord«, antwortete der Apotheker.

»Vereidigen Sie den Herrn«, sagte der Richter gebieterisch.

Der Beamte kam mit der Verlesung der Eidesformel nicht weiter als eben vorhin, denn der Apotheker unterbrach ihn aufs neue.

»Ich soll also vereidigt werden, Mylord?« sagte er.

»Allerdings, Sir«, erwiderte der eigensinnige kleine Richter.

»Sehr gut, Mylord«, sagte der Apotheker in ergebungsvollem Ton. »Aber Sie haben weiter nichts davon, als daß es noch vor Ende der Sitzung einen Mord gibt. Vereidigen Sie mich immerhin, Sir, wenn Sie wollen.«

Und der Apotheker war vereidigt, bevor der Richter noch Worte finden konnte.

»Ich wollte nur noch bemerken, Mylord«, sagte der Apotheker, indem er mit großer Fassung seinen Sitz einnahm, »daß ich niemand, als einen Laufbuben in meinem Laden zurückgelassen habe. Es ist ein recht wackerer Knabe, Mylord, der sich aber auf die Arzneimittel noch nicht ganz versteht, und ich weiß, daß er besonders die Eigenheit hat, Sauerkleesäure für Epsomsalz und Laudanum für Sennessyrup anzusehen. Das ist alles, Mylord.«

Nach dieser Rede setzte sich der lange Apotheker in eine behagliche Stellung, nahm eine zufriedene Miene an und schien auf das Schlimmste gefaßt zu sein.

Herr Pickwick betrachtete ihn eben mit Gefühlen des tiefsten Grauens, als im Hintergrund des Saales eine Bewegung entstand, und unmittelbar darauf wurde Frau Bardell, gestützt auf Frau Cluppins, in einem schmachtenden Zustande hereingeführt und ihr am andern Ende derselben Bank, worauf Herr Pickwick saß, ein Platz angewiesen. Herr Dodson reichte ihr einen Schirm von ungewöhnlicher Größe, Herr Fogg ein paar Überschuhe, und diese beiden Herren hatten für die heutige Sitzung höchst mitleidsvolle und melancholische Gesichter angenommen. Sodann erschien Frau Sanders, die den jungen Bardell hereinführte. Beim Anblick ihres Kindes fuhr Frau Bardell auf, dann aber faßte sie sich schnell wieder und küßte es wie wahnsinnig. Sofort versank die gute Dame aufs neue in einen Zustand hysterischer Stumpfheit und fragte, wo sie denn eigentlich sei? Statt aller Antwort wandten Frau Cluppins und Frau Sanders die Köpfe von ihr ab und weinten, während die Herren Dodson und Fogg die Klägerin baten, sie möchte sich doch beruhigen. Prokurator Buzfuz rieb sich mit einem großen, weißen Taschentuche die Augen beinahe wund und warf einen appellierenden Blick auf die Geschworenen. Der Richter aber schien sichtlich ergriffen zu sein, und mehrere von den Zuschauern versuchten, ihre Rührung hinweg zu husten.

»Wahrhaftig, ein herrlich angelegter Plan«, flüsterte Perker Herrn Pickwick hinzu. »Das sind Haupthähne, dieser Dodson und dieser Fogg; wirklich, eine vortreffliche Effektberechnung, mein lieber Herr.«

Während Perker so sprach, begann Frau Bardell allmählich wieder zu sich zu kommen, während Frau Cluppins den jungen Herrn Bardell nach sorgfältiger Musterung seiner Knöpfe und der Knopflöcher, in die sie gehörten, gerade vor seine Mutter stellte – eine gebietende Stellung, in der er nicht verfehlen konnte, das volle Erbarmen und Mitgefühl sowohl des Richters als der Geschworenen zu erwecken. Das geschah aber nicht ohne bedeutende Widersetzlichkeit. Auch nicht ohne eine Menge Tränen des jungen Herrn, der eine gewisse Ahnung hatte, diese seine unmittelbare Ausstellung vor den Augen der Richter sei bloß ein formelles Vorspiel zu seiner baldigen Hinrichtung oder allerwenigstens zu seiner Strafversendung über das Meer für die ganze Zeit seines leiblichen Lebens.

»Bardell und Pickwick«, rief der schwarzgekleidete Herr, den Prozeß anmeldend, der als der erste auf der Liste stand.

»Ich trete für die Klägerin auf, Mylord«, sagte der Herr Prokurator Buzfuz.

»Wer assistiert Ihnen, Kollege Buzfuz?« fragte der Richter.

Herr Skimpin verbeugte sich zum Zeichen, daß er es sei.

»Ich bin für den Beklagten erschienen, Mylord«, sagte der Herr Prokurator Snubbin.

»Und wer ist Ihr Assistent, Kollege Snubbin?« fragte der Richter.

»Herr Phunky, Mylord«, erwiderte der Advokat.

»Prokurator Buzfuz und Herr Skimpin für die Klägerin«, sagte der Richter, indem er die Namen in sein Notizbuch einschrieb und zugleich vorlas, »für den Beklagten Prokurator Snubbin und Herr MonkeyAffe.

»Bitte um Verzeihung, Mylord, Phunky.«

»Ah, sehr gut«, sagte der Richter; »ich hatte noch nie das Vergnügen, den Namen des Herrn zu hören.«

Herr Phunky verbeugte sich und lächelte. Der Richter verbeugte sich ebenfalls und lächelte, und Herr Phunky, der bis in das Weiße seiner Augen rot wurde, suchte sich das Ansehen zu geben, als wisse er nicht, daß alle Augen auf ihn gerichtet seien: ein Bestreben, womit sich noch niemand aus der Verlegenheit geholfen hat und aller Wahrscheinlichkeit nach auch niemand helfen wird.

»Beginnen wir jetzt«, sagte der Richter.

Die Gerichtsdiener geboten abermals Stillschweigen, und Herr Skimpin schritt zur Eröffnung der Verhandlung. Der Fall schien sehr wenig Redestoff darzubieten; denn der Advokat behielt die ihm bekannten besonderen Umstände gänzlich für sich und setzte sich nach drei Minuten wieder, so daß er die Geschworenen ganz auf derselben hohen Stufe der Weisheit ließ, die sie zuvor innehatten.

Prokurator Buzfuz erhob sich sofort mit aller Majestät und Würde, die die ernste Natur der Verhandlung erheischte. Nachdem er Dodson einige Worte zugeflüstert, auch mit Fogg ein wenig konferiert hatte, zupfte er seinen Mantel über die Schultern, machte seine Perücke zurecht und hielt seine Rede an die Geschworenen.

Er begann mit der Erklärung, daß ihm während seiner ganzen Praxis, ja vom ersten Augenblick an, da er sich auf das Studium und die Ausübung des Rechtes gelegt, noch nie ein Fall vorgekommen sei, der ihn so im Innersten ergriffen oder mit einem solch klaren Bewußtsein der auf ihm lastenden Verantwortlichkeit erfüllt habe, – einer Verantwortlichkeit, unter deren Gewicht er erlegen wäre, hätte ihn nicht die feste, ja einer positiven Gewißheit gleichkommende Überzeugung aufrechterhalten, daß die Sache der Wahrheit und Gerechtigkeit, oder mit andern Worten, die Sache seiner schwer verletzten und auf schmähliche Art hintergangenen Klientin bei den edelgesinnten und einsichtsvollen zwölf Männern, die er vor sich sehe, obsiegen müsse.

Die Sachwalter beginnen in der Regel auf diese Art, weil sie sich dadurch bei den Geschworenen in ein gutes Licht setzen, und ihnen eine ungeheure Meinung von ihrem eigenen Scharfsinn beibringen. Auch hatte diese Einleitung sogleich eine sichtbare Wirkung, denn mehrere Geschworene fingen mit dem größten Eifer an, lange Notizen aufzuzeichnen.

»Sie haben von meinem gelehrten Freunde vernommen«, fuhr Prokurator Buzfuz fort, obgleich er wohl wußte, daß die Herren von der Jury von seinem gelehrten Freunde so gut wie nichts vernommen hatten. »Sie haben von meinem gelehrten Freunde vernommen, meine Herren, daß es sich hier um den Bruch eines Eheversprechens handelt und ein Schadenersatz von 1500 Pfund verlangt wird. Aber die näheren Tatsachen und Umstände haben Sie von meinem gelehrten Freunde nicht vernommen, wie es meinem gelehrten Freunde auch nicht zukam, sie Ihnen zu sagen. Diese Tatsachen und Umstände, meine Herren, werde ich Ihnen nunmehr ausführlich auseinandersetzen und Ihnen eine unverwerfliche Zeugin vorführen, die sie beweisen wird.«

Um dem Wort »beweisen« einen kraftvollen Nachdruck zu geben, schlug Herr Prokurator Buzfuz gewaltig auf den Tisch und blickte die Herren Dodson und Fogg an, die ihm Bewunderung seines Talents und dem Beklagten eine trotzige Herausforderung zuwinkten.

»Die Klägerin, meine Herren«, fuhr Prokurator Buzfuz mit einer sanften, melancholischen Stimme fort, »die Klägerin ist eine Witwe; ja, meine Herren, eine Witwe. Der selige Herr Bardell schied, nach dem er sich viele Jahre lang als Wächter der königlichen Einkünfte der Achtung und des Vertrauens seines Souveräns erfreut, sanft und lautlos aus dieser Welt, um in einer andern die Ruhe und den Frieden zu suchen, die ein Zollhaus nimmermehr gewähren kann.«

Bei dieser pathetischen Beschreibung vom Abscheiden des Herrn Bardell, der in einem Wirtshauskeller mit einer Bierkanne in den Kopf geschlagen worden war, bebte die Stimme des gelehrten Anwalts, und er fuhr mit großer Rührung also fort:

»Einige Zeit vor seinem Tode erblickte er noch sein Ebenbild in einem Söhnlein, und mit diesem Söhnlein, dem einzigen Liebespfand von ihrem entschlafenen Zollbeamten, zog sich Frau Bardell von der Welt zurück, suchte die Abgeschiedenheit und Ruhe der Goswellstraße, und dort hing sie an ihrem vorderen Fenster eine Anzeige aus, des Inhalts: ›Möblierte Zimmer für einen ledigen Herrn. Zu erfragen drinnen.‹«

Prokurator Buzfuz hielt hier inne, während mehrere Herrn von der Jury sich dieses Dokument aufzeichneten.

»Hatte die Anzeige kein Datum?« fragte einer der Geschworenen.

»Nein, mein Herr«, erwiderte Prokurator Buzfuz, »aber ich bin ermächtigt zu sagen, daß sie gerade vor drei Jahren ans Fenster der Klägerin gesteckt wurde. Ich muß die Aufmerksamkeit der Herren Geschworenen auf die wörtliche Abfassung dieses Dokuments lenken. ›Möblierte Zimmer für einen ledigen Herrn.‹ Frau Bardells Ansichten über das andere Geschlecht gründeten sich auf eine lange Beobachtung der unschätzbaren Eigenschaften ihres verstorbenen Gatten. Sie hatte keine Furcht – sie hegte kein Mißtrauen – sie hegte keinen Verdacht – sie war voll argloser Zuversicht. ›Herr Bardell‹, sagte die Witwe, ›Herr Bardell war ein Mann von Ehre – Herr Bardell war ein Mann von Wort – Herr Bardell war kein Betrüger – Herr Bardell war auch einmal ein lediger Herr; bei ledigen Herren will ich daher Schutz, Beistand, Hilfe und Trost suchen – in ledigen Herren werde ich beständig etwas sehen, was mich daran erinnert, wie Herr Bardell war, als er das erstemal die Neigung meines jungen, unerfahrenen Herzens gewann; an einen ledigen Herrn will ich also meine Wohnung vermieten.‹ Beseelt von diesem schönen, rührenden Beweggrund (einer der besten Beweggründe unserer unvollkommenen Natur) trocknete die einsame, verlassene Witwe ihre Tränen, möblierte ihren untern Stock, drückte ihren unschuldigen Knaben an den mütterlichen Busen und hing die Anzeige an das Fenster. Blieb sie lange dort? Nein. Die Schlange war bereits auf der Lauer, die Linie war gezogen, die Mine war gegraben, der Pionier und Mineur waren in voller Arbeit. Kaum hing die Anzeige drei Tage am Fenster – drei Tage, meine Herren – als ein zweibeiniges Wesen, das ganz die äußere Gestalt eines Mannes, nicht die eines Ungeheuers hatte, an Frau Bardells Haustür anklopfte. Er erkundigte sich, mietete die Wohnung und nahm am nächstfolgenden Tage Besitz davon. Dieser Mann war Pickwick – Pickwick der Beklagte.«

Prokurator Buzfuz hatte mit solcher Zungenfertigkeit gesprochen, daß sein Gesicht ganz karmoisinrot geworden war und er innehalten mußte, um Atem zu schöpfen. Sein Schweigen erweckte den Herrn Richter Stareleigh, der sogleich mit einer uneingetunkten Feder etwas schrieb und ganz außerordentlich vertieft aussah, um die Geschworenen glauben zu machen, er habe mit geschlossenen Augen der Sache bis in ihren innersten Grund nachgeforscht. Prokurator Buzfuz fuhr fort:

»Von diesem Pickwick werde ich nicht viel sagen: die Person bietet nicht sehr viel Anziehendes, und ich, meine Herren, bin nicht der Mann, so wenig wie Sie, meine Herren, die Männer sind, bei der Betrachtung empörender Herzlosigkeit und systematischer Schlechtigkeit mit Lust zu verweilen.«

Hier fuhr Herr Pickwick, der sich seit einiger Zeit ruhig Notizen aufgeschrieben hatte, heftig auf, wie wenn sich ihm ein vager Wunsch aufgedrängt hätte, in Gegenwart des versammelten ehrwürdigen Gerichtshofes dem Prokurator Buzfuz zu Leibe zu gehen. Eine abmahnende Geberde von Perker hielt ihn jedoch zurück, und er hörte den ferneren Vortrag des gelehrten Herrn mit einer Entrüstung an, die den stärksten Gegensatz zu den von Bewunderung strahlenden Gesichtern der Frauen Cluppins und Sanders bildete.

»Ich sage, systematische Schlechtigkeit, meine Herren«, fuhr Prokurator Buzfuz fort, indem er Herrn Pickwick mit seinen Blicken durchbohren zu wollen schien, »und wenn ich ›systematische Schlechtigkeit‹ sage, so lassen Sie mich dem beklagten Pickwick, wenn er sich, wie ich gehört habe, im Saale befindet, erklären, daß es weit anständiger und schicklicher, weit gescheiter und vernünftiger gewesen wäre, er hätte sich ferngehalten. Lassen Sie mich ihm sagen, meine Herren, daß alle Zeichen von Meinungsverschiedenheit oder Mißbilligung, die er sich im Gerichtssaale erlauben könnte, bei Ihnen nichts fruchten werden, und daß Sie dieselben wohl zu schätzen und zu würdigen wissen: und lassen Sie mich ihm ferner sagen, wie Seine Lordschaft Ihnen, meine Herren, ebenfalls sagen wird, daß ein Anwalt in Erfüllung seiner Pflichten gegen seinen Klienten sich weder einschüchtern noch betäuben oder zum Schweigen bringen läßt, und daß jeder Versuch, das eine oder das andere, das erste oder das letzte zu tun, auf das Haupt dessen zurückfällt, der den Versuch wagt, sei es nun der Kläger oder der Beklagte, möge er nun Pickwick oder Noakes, Stoakes oder Stiles, Brown oder Thompson heißen.«

Diese kleine Abschweifung von der Sache konnte die beabsichtigte Wirkung nicht verfehlen, aller Augen auf Herrn Pickwick zu lenken. Nachdem Prokurator Buzfuz der moralischen Entrüstung, zu der er sich hatte hinreißen lassen, wieder einigermaßen Meister geworden war, fuhr er fort:

»Ich werde Ihnen nachweisen, meine Herrn, daß Pickwick zwei Jahre lang dauernd, ohne Unterbrechung im Hause der Frau Bardell gewohnt hat. Ich werde Ihnen nachweisen, daß ihn Frau Bardell diese ganze Zeit über bediente, auf jede Art für seine Behaglichkeit sorgte, ihm kochte, seine Wäsche zur Wäscherin schickte, sie flickte, lüftete und überhaupt wieder instandsetzte, mit einem Wort, daß sie sich seines vollkommensten Vertrauens erfreute. Ich werde Ihnen nachweisen, daß er ihrem kleinen Knaben manchmal einen halben Penny, einige Male sogar sechs Pence schenkte, und ich werde Ihnen durch einen Zeugen, dessen Aussagen mein gelehrter Freund weder zu entkräften, noch zu bestreiten imstande sein wird, dartun, daß er einmal den Knaben auf den Kopf tätschelte, und nachdem er ihn gefragt, ob er neulich viele Marmeln oder Murmeln (beides, wie ich höre, besondere Arten von Marmorkugeln, die von der Jugend unserer Stadt sehr geschätzt werden,) gewonnen habe, sich der bemerkenswerten Äußerung bediente: ›würde es dich freuen, wenn du wieder einen Vater bekämest?‹ Ich werde Ihnen ferner nachweisen, meine Herren, daß Pickwick vor etwa einem Jahre plötzlich mehrere Male auf längere Zeit verreiste, wie wenn er im Sinn hätte, allmählich mit meiner Klientin zu brechen. Aber ich werde Ihnen auch dartun, daß er sich in seinem Entschluß damals noch nicht gehörig befestigt hatte, oder daß seine besseren Gefühle, wenn er überhaupt deren fähig ist, obsiegten, oder daß die Reize und Vorzüge meiner Klientin seinen unwürdigen Plan über den Haufen warfen. Denn ich werde Ihnen beweisen, daß er eines Tages, als er vom Lande zurückkehrte, ihr in ganz deutlichen Worten und Ausdrücken einen Heiratsantrag machte, wobei er freilich die besondere Vorsicht gebraucht hatte, daß bei dem feierlichen Versprechen keine Zeugen zugegen waren. Ja, ich bin imstande, durch das Zeugnis von dreien seiner eigenen Freunde – höchst unfreiwillige Zeugen, meine Herren, höchst unfreiwillige Zeugen – zu beweisen, daß man ihn an demselbigen Morgen antraf, wie er eben die Klägerin in seinen Armen hielt und ihre Aufregung durch Schmeicheleien und Liebkosungen zu beschwichtigen suchte.«

Dieser Teil der Rede des gelehrten Prokurators brachte einen sichtlichen Eindruck auf das Publikum hervor. Er zog nun zwei ganz schmale Papierstreifen aus der Tasche und sprach also weiter:

»Und nun, meine Herren, nur noch ein Wort: Es sind zwischen den Parteien zwei Briefe gewechselt worden, Briefe, deren Handschrift der Beklagte als die seinige anerkennt und deren Inhalt von höchster Wichtigkeit ist. Diese Briefe werfen ein helles Licht auf den Charakter des Mannes. Es sind keine offenen, feurigen, beredten Episteln, die nichts als die Sprache leidenschaftlicher Liebe atmen: nein, es sind versteckte, schlaue, zweideutige Mitteilungen, die aber glücklicherweise mehr Aufschlüsse geben, als wären sie in der glühendsten Sprache und in den poetischsten Bildern abgefaßt – Briefe, die man mit vorsichtigem, argwöhnischem Auge betrachten muß – Briefe, durch die Pickwick offenbar etwaige dritte Personen, denen sie vielleicht in die Hände geraten könnten, hinters Licht zu führen und auf eine falsche Spur zu leiten beabsichtigte. Lassen Sie mich den ersten vorlesen:

›Garraway um 12 Uhr.

Liebe Frau B.!

Kotelettes und Tomatensauce.

Der Ihrige

Pickwick.‹

Was soll man davon denken, meine Herren? ›Kotelettes und Tomatensauce. Der Ihrige, Pickwick!‹ Koteletten! Gütiger Gott! und Tomatensauce! Meine Herren, darf das Glück einer gefühlvollen und arglosen Frau durch so elende Kunstgriffe zu Boden getreten werden? Das zweite Billett hat gar kein Datum, wodurch es schon von selbst verdächtig wird.

»›Liebe Frau B., ich werde erst morgen nach Hause kommen. Langsame Kutsche.‹ Und dann folgt noch der sehr bemerkenswerte Zusatz: ›Machen Sie sich keine Sorge wegen der Bettflasche.‹ – Die Bettflasche! Wie, meine Herren, wer macht sich denn Sorgen wegen einer Bettflasche? Wann wurde je der Seelenfriede eines Mannes oder einer Frau durch eine Bettflasche gestört oder vernichtet, die an sich selbst ein harmloses, nützliches und, meine Herren, ich will noch hinzufügen, ein komfortables Hausgerät ist? Warum wird Frau Bardell so angelegentlich ersucht, sich wegen der Bettflasche keine Sorgen zu machen, wenn diese nicht (wie hier offenbar der Fall ist) ein verborgenes Feuer bedecken soll – wenn sie nicht bloß die Stelle eines zärtlichen Wortes oder Versprechens vertritt, gemäß einem verabredeten Korrespondenzensystem, das Pickwick behufs seiner längst beabsichtigten Treulosigkeit mit Vorbedacht ausgeheckt hat und das ich nicht näher erklären kann? Und was soll diese Anspielung auf die langsame Kutsche bedeuten? So weit ich die Sache zu durchschauen vermag, bezieht sie sich auf Pickwick selbst, der in der Tat während dieses ganzen Verhältnisses eine verdammt langsame Kutsche gewesen ist, eine Kutsche, die indessen sehr unerwartet in schnellen Lauf gebracht, und deren Räder, wie er auf seine Kosten erfahren wird, von Ihnen sehr bald geschmiert werden dürften.«

Hier machte Herr Prokurator Buzfuz eine Pause, um zu sehen, ob die Geschworenen zu seinem Witz lächelten: da dies aber niemand tat als der Gewürzkrämer, dessen Empfänglichkeit dafür höchst wahrscheinlich dadurch hervorgerufen wurde, daß er erst diesen Morgen noch an einer Kutsche obgedachtes Geschäft verrichtet hatte, so hielt es der gelehrte Redner für ratsam, vor dem Schlusse seines Vortrags noch ein wenig auf die Rührung der Richter zu wirken.

»Doch genug hiervon, meine Herren«, sprach Herr Prokurator Buzfuz; »es ist schwer, mit blutendem Herzen zu lächeln, es scherzt sich nicht leicht, wenn unsere tiefsten Sympathien aufgeregt sind. Alle Hoffnungen und Aussichten meiner Klientin sind vernichtet, und es ist keine bloße Phrase, wenn ich sage, daß es um ihren Lebensunterhalt geschehen ist. Die Anzeige hängt nicht mehr am Fenster, und doch wohnt kein Herr im Hause. Es kommen ledige Herren, unter denen man auswählen könnte, genug am Hause vorüber – aber es ist keine Einladung mehr vorhanden, einzuziehen. Düsteres Schweigen herrscht setzt in dieser Wohnung. Selbst die Stimme des Knaben ist verhallt; seine kindlichen Spiele machen ihm kein Vergnügen mehr, wenn seine Mutter weint! seine Marmeln und Murmeln sind ihm gleichgültig geworden. Er überhört die Aufforderung seiner Kameraden zum ›Wolf heraus‹, und wollen sie ›Gerade oder Ungerade‹ mit ihm spielen, so rührt er seine Hand nicht. Aber Pickwick, meine Herren, Pickwick, der mitleidslose Zerstörer dieser häuslichen Oase in der Wüste der Goswellstraße – Pickwick, der die Quelle verstopft und auf den grünen Rasen Asche gestreut hat – Pickwick, der mit seiner herzlosen Tomatensauce und seiner Bettflasche heute vor Ihnen erscheint – Pickwick erhebt noch immer mit frecher Schamlosigkeit sein Haupt und blickt ohne einen Seufzer auf die Verwüstung hin, die er angerichtet hat. Eine Geldentschädigung, meine Herren, eine bedeutende Geldentschädigung ist die einzige Strafe, womit Sie ihn heimsuchen, der einzige Ersatz, den Sie meiner Klientin gewähren können. Um diese Geldentschädigung nun wendet sie sich hiermit an eine erleuchtete, großherzige, taktbegabte, gewissenhafte, leidenschaftslose, mitfühlende und einsichtsvolle Jury ihrer gebildeten Mitbürger.«

Mit dieser schönen Wendung setzte sich der Herr Prokurator Buzfuz nieder, und der Herr Stareleigh erwachte zum zweiten Male. Nach einer Minute erhob sich Prokurator Buzfuz wieder mit erneuter Kraft und verlangte, daß Elisabeth Cluppins gerufen würde.

Der nächststehende Gerichtsdiener rief Elisabeth Tuppins, ein anderer in einiger Entfernung fragte nach Elisabeth Jupkins und ein dritter rannte atemlos in die Königstraße und schrie sich heiser nach einer Elisabeth Muffins.

Mittlerweile wurde Frau Cluppins durch die vereinigte Hilfe der Frauen Bardell und Sanders, sowie der Herren Dodson und Fogg in die Zeugenloge gebracht, und als sie sicher auf die oberste Stufe gelangt war, stellte sich Frau Bardell an die unterste, mit dem Taschentuch und den Überschuhen in der einen Hand, und einer Flasche, die ungefähr ein Viertelpfund Riechsalz enthalten mochte, in der andern, um für alle Fälle bereit zu sein. Frau Sanders, deren Augen unverwandt am Gesichte des Richters hingen, pflanzte sich mit dem großen Regenschirm dicht neben sie und hielt mit ernstem Gesicht ihren rechten Daumen an das Schloß ihrer Tasche gedrückt, um nötigenfalls sogleich ein Stärkungsmittel hervorzuholen.

»Frau Cluppins«, redete Prokurator Buzfuz sie an, »ich bitte Sie, beruhigen Sie sich doch, Madame.«

Und diese Erinnerung war keineswegs unnötig, denn Frau Cluppins schluchzte und seufzte, daß sich ein Stein hätte erbarmen mögen, ja es stellten sich mehrere beunruhigende Symptome einer herannahenden Ohnmacht ein, denn sie konnte, wie sie später sagte, ihre Gefühle kaum meistern.

»Erinnern Sie sich, Frau Cluppins«, sagte Prokurator Buzfuz nach einigen unwichtigen Fragen, »erinnern Sie sich, an einem gewissen Morgen des vergangenen Juli in einem Hinterstübchen der Frau Bardell gewesen zu sein, als sie eben das Zimmer des Herrn Pickwick ausstäubte?«

»Ja, Mylord und meine Herrn Geschworenen, ich erinnere mich«, erwiderte Frau Cluppins.

»Aber Herrn Pickwicks Wohnzimmer war ja, wie ich glaube, im ersten Stock und nach der Straße zu?«

»Ja, Sir«, antwortete Frau Cluppins.

»Was hatten Sie denn im Hinterstübchen zu schaffen, Madame?« fragte der kleine Richter.

»Mylord und meine Herren Geschworenen«, sagte Frau Cluppins in rührender Aufregung, »ich will Sie nicht täuschen.«

»Sie würden auch nicht wohl daran tun«, bemerkte der kleine Richter.

»Ich war dort«, erzählte Frau Cluppins, »ohne daß Frau Bardell es wußte. Ich war mit einem kleinen Korb ausgegangen, meine Herren, um drei Pfund rote Kartoffeln zu kaufen, was im Ganzen dritthalb Pence ausmacht, als ich die Haustür der Frau Bardell offen sah. Ich ging also hinein, meine Herren, um ihr guten Morgen zu wünschen, lief aber in Gedanken die Treppe hinauf und in das Hinterzimmer. Meine Herren, da hörte ich im Vorderzimmer mehrere Stimmen, und –«

»Und Sie horchten ohne Zweifel, Frau Cluppins?« unterbrach sie Prokurator Buzfuz.

»Bitte um Verzeihung, Sir«, erwiderte Frau Cluppins in majestätischem Ton; »so etwas zu tun, dafür bin ich mir zu gut! Die Stimmen waren sehr laut, Sir, und drängten sich mit Gewalt meinen Ohren auf.«

»Nun gut, Frau Cluppins, Sie horchten also nicht, hörten aber dennoch die Stimmen. War eine derselben die des Herrn Pickwick?«

»Ja, Sir.«

Und Frau Cluppins trug jetzt, nachdem sie deutlich angegeben, daß Herr Pickwick mit Frau Bardell gesprochen habe, langsam und mit vielen Umschweifen die unsern Lesern bereits bekannte Unterhaltung vor.

Die Geschworenen sahen bedenklich drein und Herr Prokurator Buzfuz setzte sich lächelnd. Noch unheimlicher wurden aber ihre Mienen, als Herr Prokurator Snubbin erklärte, er könne die Zeugin nicht mehr ausfragen, denn Herr Pickwick selbst müsse eingestehen, daß ihre Aussage im wesentlichen richtig sei.

Da nun Frau Cluppins einmal das Eis gebrochen hatte, so hielt sie dies für eine günstige Gelegenheit, sich auf eine kurze Darstellung ihrer eigenen häuslichen Verhältnisse einzulassen; sie benachrichtigte daher den Gerichtshof geradezu, daß sie in diesem Augenblick Mutter von acht Kindern sei und die zuversichtliche Hoffnung nähren dürfe, nach etwa sechs Monaten Herrn Cluppins mit einem neunten zu beschenken. Bei dieser interessanten Mitteilung legte sich der kleine Richter voll Zorn ins Mittel, und die Folge davon war, daß sowohl die würdige Dame, als auch Frau Sanders unter Begleitung des Herrn Jackson ohne weitere Umstände aus dem Gerichtssaal hinausgeführt wurden.

»Nathaniel Winkle!« rief Herr Skimpin.

»Hier!« erwiderte eine schwache Stimme.

Herr Winkle trat in die Zeugenloge und verbeugte sich, nachdem er den vorgeschriebenen Eid geschworen, ehrfurchtsvoll gegen den Richter.

»Sehen Sie mich nicht an, Sir«, sagte der Richter, statt für den Gruß zu danken, in verweisendem Tone: »sehen Sie nur auf die Geschworenen!«

Herr Winkle gehorchte dem Befehl und sah nach dem Platze, wo seiner Wahrscheinlichkeitsberechnung nach die Geschworenen sein mußten, denn in seinem verwirrten Geisteszustand war es ihm schlechterdings unmöglich, etwas genau zu sehen.

Herr Winkle wurde sofort von Herrn Skimpin, einem vielversprechenden jungen Manne von 42 bis 43 Jahren, verhört, dem natürlich alles daran gelegen sein mußte, einen bekanntermaßen für die Gegenpartei eingenommenen Zeugen so sehr wie möglich aus dem Konzept zu bringen.

»Nun, Sir«, sagte Herr Skimpin, »haben Sie die Güte, Seine Lordschaft und die Jury Ihren Namen wissen zu lassen.«

Und Herr Skimpin neigte den Kopf auf die eine Seite, um die Antwort recht genau zu hören, indessen er den Geschworenen einen Seitenblick zuwarf, der deutlich genug sagte, bei Herrn Winkles natürlichem Hange zur Lüge könne man von ihm auch die Angabe eines falschen Namens erwarten.

»Winkle«, antwortete der Zeuge.

»Ihr Taufname, Sir?« fragte der kleine Richter ärgerlich.

»Nathaniel, Sir.«

»Daniel – vielleicht noch andere Taufnamen?«

»Nathaniel, Sir – Mylord, wollte ich sagen.«

»Nathaniel Daniel oder Daniel Nathaniel?«

»Nein, Mylord, blos Nathaniel, nicht Daniel.«

»Warum sagten Sie denn vorhin. Sie hießen Daniel, Sir?« fragte der Richter.

»Das habe ich nicht gesagt, Mylord«, antwortete Herr Winkle.

»Freilich haben Sie es gesagt, Sir«, erwiderte der Richter mit strengem Stirnrunzeln; »wie hätte ich denn Daniel aufschreiben können, wenn Sie nicht so gesagt hätten, Sir?«

Auf diesen Beweisgrund ließ sich natürlich nichts antworten.

»Herr Winkle hat ein kurzes Gedächtnis, Mylord«, fiel Herr Skimpin mit einem abermaligen Blick auf die Geschworenen ein; »ich denke aber, wir sollten Mittel finden, es aufzufrischen, bevor wir mit ihm fertig sind.«

»Nehmen Sie sich in acht, Sir«, rief der kleine Richter mit einem unheimlichen Blick nach dem Zeugen hin.

Der arme Herr Winkle verneigte sich und gab sich alle Mühe, unbefangen zu scheinen, gewann aber in seiner Verlegenheit weit eher das Aussehen eines aufs Eis geführten Taschendiebs.

»Jetzt, Herr Winkle«, sagte Herr Skimpin, »geben Sie gefälligst auf meine Fragen acht, Sir, und folgen Sie um Ihrer selbst willen meinem Rat, der Ermahnungen Seiner Lordschaft eingedenk zu sein. So viel ich weiß, sind Sie ein vertrauter Freund Herrn Pickwicks, des Angeklagten, nicht wahr?«

»Wenn ich mich in diesem Augenblick recht erinnere, so kenne ich Herrn Pickwick beinahe –«

»Ich muß bitten, Herr Winkle, daß Sie keine ausweichende Antworten geben. Sind Sie wirklich ein vertrauter Freund des Angeklagten, oder sind Sie es nicht?«

»Ich wollte soeben sagen, daß –«

»Wollen Sie meine Frage beantworten, Sir, oder nicht?«

»Wenn Sie nicht antworten, so laß ich Sie einsperren, Sir«, fiel der kleine Richter ein, indem er über sein Notizbuch herüberblickte.

»Nur vorwärts, Sir«, sagte Herr Skimpin. »Ja oder Nein.«

»Ja, ich bin's«, antwortete Herr Winkle.

»Sie sind es freilich. Warum haben Sie es nicht sogleich gesagt, Sir? Vielleicht kennen Sie auch die Klägerin – wie, Herr Winkle?«

»Nein, ich kenne sie nicht; aber gesehen habe ich sie schon.«

»So, Sie kennen sie nicht, haben sie aber gesehen? Nun, so haben Sie die Güte, den Herren Geschworenen zu sagen, was Sie damit meinen, Herr Winkle.«

»Ich meine damit, daß ich nicht genauer mit ihr bekannt bin, sie aber gesehen habe, wenn ich Herrn Pickwick in der Goswellstraße besuchte.«

»Wie oft haben Sie sie gesehen, Sir?«

»Wie oft?«

»Ja, Herr Winkle, wie oft? Ich will Ihnen die Frage ein Dutzendmal wiederholen, Sir, wenn Sie es verlangen, Sir.«

Dabei stemmte der gelehrte Herr mit einem entschiedenen Stirnrunzeln die Hände in die Seite und lächelte den Geschworenen verschmitzt zu.

Diese Frage führte das erbauliche Stirnrunzeln herbei, das bei solchen Gelegenheiten gewöhnlich ist. Zuvörderst sagte Herr Winkle, es sei ihm rein unmöglich, anzugeben, wie oft er Frau Bardell gesehen habe. Dann fragte man ihn, ob er sie vielleicht zwanzigmal gesehen, und er erwiderte: »gewiß – auch noch öfter.« Hierauf wollte man wissen – ob er sie hundertmal gesehen – ob er nicht schwören könne, daß er sie mehr als fünfzigmal gesehen – ob er nicht angeben könne, daß er sie mehr als fünfundsiebzigmal gesehen – und so fort; wodurch man endlich zu dem befriedigenden Schlusse gelangte, ihn nochmals zu ermahnen, er solle sich wohl in acht nehmen und bedenken, was er sage. Nachdem nun der Zeuge auf diese Art so verwirrt worden war, daß er kaum mehr wußte, wo ihm der Kopf stand, wurde das Verhör folgendermaßen fortgesetzt.

»Erinnern Sie sich, Herr Winkle, an einem gewissen Morgen im vergangenen Juli den beklagten Pickwick in seiner Wohnung bei der Klägerin in der Goswellstraße besucht zu haben?«

»Ja, ich erinnere mich.«

»Hatten Sie damals einen Freund, Namens Tupman, und einen andern, Namens Snodgrass bei sich.«

»Ja.«

»Sind sie hier?«

»Ja«, erwiderte Herr Winkle, sehr angelegentlich nach dem Platz blickend, wo seine Freunde saßen.

»Sehen Sie gefälligst mich an, Herr Winkle, und nicht Ihre Freunde«, sagte Herr Skimpin mit einem neuen ausdrucksvollen Lächeln auf die Jury. »Die Herren müssen ihre Aussagen ohne vorherige Beratung mit Ihnen ablegen, falls solche etwa nicht schon stattgefunden hat (abermals ein Blick auf die Jury). Nun, Sir, sagen Sie jetzt den Herren Geschworenen, was Sie am selbigen Morgen beim Eintritt ins Zimmer des Beklagten gesehen haben? Nur heraus damit, Sir, wir müssen es früher oder später doch erfahren.«

»Der Beklagte, Herr Pickwick, hielt die Klägerin in seinen Armen und hatte mit seinen Händen ihren Leib umschlungen«, erwiderte Herr Winkle mit natürlichem Zögern, »und die Klägerin schien in Ohnmacht gefallen zu sein.«

»Hörten Sie Beklagten etwas sprechen?«

»Ja, ich hörte, daß er Madame Bardell ›liebe Frau‹ nannte und sie bat, sich zu beruhigen; dann, was man glauben müßte, wenn jemand käme, und ähnliche Redensarten.«

»Jetzt, Herr Winkle, habe ich nur noch eine einzige Frage an Sie zu richten, und ich bitte Sie, hierbei der Ermahnung seiner Gnaden wohl eingedenk zu sein. Wollen Sie beschwören, daß beklagter Pickwick bei dieser Gelegenheit nicht gesagt hat: ›meine gute Bardell, Sie sind eine liebe Frau; beruhigen Sie sich, es wird schon noch dazu kommen‹, oder dem ähnliche Redensarten?«

»Ich – ich – habe es wahrhaftig nicht so verstanden«, sagte Herr Winkle, erstaunt über die sinnreiche Verdrehung der wenigen Worte, die er gehört hatte. »Ich war noch auf der Treppe und konnte es nicht deutlich hören; aber der Eindruck, den es auf mich machte, ist –«

»Die Herren Geschworenen wollen nichts von den auf Sie gemachten Eindrücken, Herr Winkle, die, fürchte ich, ohnehin ehrlichen und rechtschaffenen Leuten wenig nützen würden«, unterbrach ihn Herr Skimpin. »Sie waren also auf der Treppe und hörten es nicht deutlich, wollen aber nicht beschwören, daß Pickwick sich der von mir erwähnten Ausdrücke nicht bedient hat? Habe ich es so zu verstehen?«

»Nein, ich will es nicht beschwören«, erwiderte Herr Winkle, und Herr Skimpin setzte sich mit triumphierender Miene.

Herrn Pickwicks Sache hatte bis jetzt keinen so überaus günstigen Verlauf gehabt, daß sie noch neue Verdachtsgründe ertragen konnte. Da sie jedoch möglicherweise noch in ein besseres Licht zu stellen war, so erhob sich Herr Phunky, um seinerseits Herrn Winkle auch einige wichtige Aufschlüsse zu entlocken. Ob ihm das glückte oder nicht, wird sich sogleich ergeben.

»Ich glaube, Herr Winkle«, begann er, »Herr Pickwick ist kein junger Mann mehr?«

»O nein«, erwiderte Herr Winkle, »er könnte mein Vater sein.«

»Sie haben meinem gelehrten Freunde gesagt, Sie kennen Herrn Pickwick schon lange. Hatten Sie jemals Grund zu vermuten oder zu glauben, er beabsichtige, sich zu verheiraten?«

»Nein, niemals«, antwortete Herr Winkle mit solchem Eifer, daß ihn Herr Phunky so schnell wie möglich aus der Zeugenloge hätte entfernen mögen. In den Augen der Rechtsgelehrten gibt es zwei Arten besonders schlechter Zeugen: solche, die gar nichts, und solche, die zu viel aussagen. Herrn Winkles Schicksal wollte, daß er beide Arten in sich vereinigte.

»Ich will sogar noch weiter gehen, Herr Winkle«, fuhr Phunky in einem sehr freundlichen und gefälligen Tone fort. »Bemerkten Sie in Herrn Pickwicks Benehmen gegen das andere Geschlecht je etwas, was Sie hätte auf den Glauben bringen können, daß er in den letzten Jahren überhaupt Heiratsgedanken hege?«

»O nein, nicht das mindeste«, erwiderte Herr Winkle.

»War sein Benehmen in Gesellschaft von Damen nicht das eines Mannes, der, an Jahren schon ziemlich vorgerückt, nur noch an seine Geschäfte oder Vergnügungen denkt und sie bloß behandelt, wie ein Vater seine Töchter?«

»Daran ist kein Zweifel«, antwortete Herr Winkle in der Fülle seines Herzens. »Das heißt – ja – o ja –«

»Sie haben also in seinem Benehmen gegen Frau Bardell oder sonst gegen eine Dame nie etwas auch nur im mindesten Verdächtiges wahrgenommen?« fragte Herr Phunky und wollte sich eben niedersetzen, denn Prokurator Snubbin hatte ihm einen Wink gegeben.

»Nein, nein«, erwiderte Herr Winkle; »außer in einem einzigen unbedeutenden Fall, der sich aber, wie ich nicht zweifle, leicht wird aufklären lassen.«

Hätte sich der unglückliche Phunky sogleich gesetzt, als Sergeant Snubbin ihm zuwinkte, oder wäre Prokurator Buzfuz gleich im Anfang gegen dieses unstatthafte Zeugenverhör aufgetreten (allein er hütete sich wohl, es zu tun, da er Herrn Winkles Ängstlichkeit bemerkte und alle Hoffnung hatte, diese zu seinem Vorteil ausbeuten zu können), so wäre dieses unglückselige Geständnis Herrn Winkle nicht entlockt worden. Kaum aber waren diese Worte seinen Lippen entschlüpft, so setzte sich Phunky, und Prokurator Snubbin rief ihm im größten Eifer zu, er solle die Zeugenloge verlassen, wozu er sich auch mit aller Bereitwilligkeit anschickte, als Prokurator Buzfuz es verhinderte.

»Bleiben Sie, Herr Winkle«, sagte er: »bleiben Sie. Wollen Eure Gnaden die Güte haben, ihn zu fragen, was dieser einzige Fall war, wo ihm das Benehmen dieses Herrn, der sein Vater sein könnte, gegen Damen verdächtig vorkam?«

»Sie hören, was der gelehrte Anwalt sagt«, bemerkte der Richter, sich gegen den armen, von neuem Schreck ergriffenen Winkle wendend. »Erklären Sie sich näher über den Fall, den Sie angedeutet haben.«

»Mylord«, sagte Herr Winkle, zitternd vor Angst, »ich – ich möchte es lieber nicht sagen.«

»Das ist wohl möglich«, sagte der kleine Richter, »aber Sie müssen.«

Unter dem tiefsten Schweigen der ganzen Versammlung erklärte also Herr Winkle mit stotternder Stimme: der einzige unbedeutende Vorfall, der Verdacht erregen könne, sei, daß man Herrn Pickwick einmal um Mitternacht im Schlafzimmer einer Dame gefunden habe, und, soviel er wisse, sei infolge dieser Entdeckung die projektierte Heirat besagter Dame rückgängig gemacht worden; auch wisse er bestimmt, daß alle dabei Beteiligten mit Gewalt vor Georg Nupkins, Esquire, den Friedensrichter, und Mayor von Ipswich, geführt worden.

»Jetzt können Sie die Zeugenloge verlassen, Sir«, sagte Prokurator Snubbin.

Herr Winkle tat es und rannte wie besessen nach dem George und Geier, allwo der Kellner ihn einige Stunden nachher jammervoll stöhnend und ächzend, den Kopf in die Sofakissen begraben, entdeckte.

Tracy Tupman und Augustus Snodgrass wurden hierauf hintereinander in die Zeugenloge gerufen. Beide bestätigten die Aussage ihres unglücklichen Freundes, und beide wurden durch verfängliche Fragen aus der Fassung gebracht.

Jetzt wurde Susanna Sanders aufgerufen und zuerst von Prokurator Buzfuz, sodann von Prokurator Snubbin befragt. Sie habe, erklärte sie, immer gesagt und geglaubt, Herr Pickwick werde Frau Bardell heiraten. Sie wisse, daß nach der Ohnmachtsgeschichte im Juli die ganze Nachbarschaft von nichts gesprochen habe, als von dem Verlöbnis zwischen Frau Bardell und Herrn Pickwick; sie habe es Frau Muderry, die eine Wäschemangel besitze, und Frau Bunkin, die Weißnäherin sei, mehr als einmal sagen hören, obgleich sie keine von beiden hier im Saale erblicke. Sie habe gehört, wie Herr Pickwick das Kind gefragt, ob es sich freuen würde, wenn es wieder einen Vater bekäme. Sie wisse nichts davon, daß Frau Bardell um diese Zeit ein vertrautes Verhältnis mit dem Bäcker gehabt, nur soviel könne sie sagen, daß der Bäcker damals ledig gewesen sei, sich aber jetzt verheiratet habe. Sie könne nicht darauf schwören, daß Frau Bardell nicht sehr verliebt in den Bäcker gewesen sei, glaube aber, der Bäcker müsse nicht sehr verliebt in Frau Bardell gewesen sein, weil er sonst gewiß keine andere geheiratet hätte. Sie glaube, Frau Bardell sei an jenem Julimorgen in Ohnmacht gefallen, weil Herr Pickwick in sie gedrungen habe, den Hochzeitstag zu bestimmen; sie erinnere sich wohl noch, daß sie (die Zeugin) wie tot niedergefallen sei, als Herr Sanders sie gebeten, den Tag festzusetzen, und sie glaube, daß es jeder anständigen Dame unter ähnlichen Umständen ebenso ergehen werde. Sie habe ferner gehört, wie Herr Pickwick den Knaben wegen seinen Marmeln gefragt habe, sie könne aber bei einem Eid nicht einmal den Unterschied zwischen Marmeln und Murmeln angeben.

Auf weitere Fragen des Richters erzählte sie noch, sie habe während ihres Verhältnisses mit Herrn Sanders auch Liebesbriefe von ihm erhalten wie andere Damen. Herr Sanders habe sie in seiner Korrespondenz zwar oft eine Gans genannt, niemals aber Kotelettes oder Tomatensauce. Er habe die Gänse für sein Leben gern gegessen. Vielleicht würde er, wenn er ebenso gern Kotelettes und Tomatensauce gegessen hätte, sie in seiner Zärtlichkeit auch so geheißen haben.

Prokurator Buzfuz erhob sich jetzt, wenn es möglich gewesen wäre, mit größerer Wichtigkeit, als er jemals an den Tag gelegt, und rief:

»Samuel Weller soll jetzt kommen.«

Es war höchst unnötig, so laut zu schreien, denn Samuel Weller befand sich in der Zeugenloge, als sein Name kaum ausgesprochen war. Er legte seinen Hut neben sich auf den Boden, die Arme auf das Geländer, besah sich die Anwälte aus einer Vogelperspektive und nahm mit merkwürdiger Unbefangenheit und Heiterkeit einen umfassenden Überblick über die Herren Richter.

»Wie heißen Sie, Sir?« fragte der Richter.

»Sam Weller, Mylord«, erwiderte dieser Gentleman.

»Schreiben Sie sich mit dem V oder mit dem W?« fragte der Richter weiter.

»Das kommt ganz auf den Geschmack und das Belieben des Schreibenden an, Mylord«, erwiderte Sam: »ich selbst habe bloß ein paarmal in meinem Leben Veranlassung gehabt, meinen Namen zu schreiben, aber ich machte immer ein V.«

Hier rief eine Stimme von der Galerie herab laut:

»Ganz recht, Samuel, ganz recht: machen Sie ein V, Mylord, machen Sie ein V.«

»Wer ist es, der es wagt, den Gerichtshof anzureden?« rief der kleine Richter, in die Höhe blickend. »Gerichtsdiener!«

»Hier, Mylord!«

»Führt diese Person sogleich vor.«

»Sehr wohl, Mylord.«

Da aber der Gerichtsdiener die Person nicht fand, so führte er sie auch nicht vor. Unter großem Geräusch setzten sich die Leute alle wieder, die aufgestanden waren, um den Verbrecher zu sehen. Das Richterlein wandte sich aufs neue an den Zeugen, sobald seine Entrüstung ihm zu sprechen erlaubte und sagte:

»Wissen Sie, wer das war, Sir?«

»Mylord«, antwortete Sam: »ich vermute fast, mein Vater, war's.«

»Sehen Sie ihn noch jetzt?« fragte der Richter.

»Nein, Mylord«, antwortete Sam, indem er gerade nach der Laterne stierte, die unter der Decke des Gerichtssaales hing.

»Wenn Sie ihn mir hätten zeigen können, so hätte ich ihn sogleich verhaften lassen«, sagte der Richter. (Sam verbeugte sich dankbar und wandte sich dann mit unverminderter Heiterkeit gegen den Prokurator Buzfuz.)

»Nun, Herr Weller?« begann der Prokurator Buzfuz.

»Nun, Sir?« erwiderte Sam.

»Ich glaube, Sie stehen im Dienst des Herrn Pickwick, der hier der Beklagte ist. Sprechen Sie gefälligst geradeheraus, Herr Weller.«

»Ich werde schon geradeheraus sprechen«, erwiderte Sam. »Ich stehe allerdings im Dienste dieses Gentleman, und es ist ein sehr guter Dienst.«

»Wenig zu tun und recht viel zu verdienen – nicht wahr?« meinte der Prokurator Buzfuz scherzend.

»O gerade genug zu verdienen, Sir, wie der Soldat sagte, als man ihm dreihundertfünfzig Stockprügel aufmaß«, antwortete Sam.

»Sie brauchen uns nicht zu sagen, was der Soldat oder sonst jemand gesagt hat«, schnauzte ihn der Richter an, »das ist keine Zeugenaussage.«

»Sehr wohl, Mylord«, antwortete Sam.

»Erinnern Sie sich irgendeines besonderen Umstandes von dem Morgen her, wo der Beklagte Sie in seine Dienste nahm, Herr Weller?« fragte der Prokurator Buzfuz.

»Jawohl, Sir«, antwortete Sam.

»Haben Sie die Güte, den Geschworenen zu sagen, was es war.«

»Ich bekam an diesem Morgen einen ganz neuen Anzug, meine Herren Geschworenen«, sagte Sam, »und das war für mich in selben Tagen ein sehr besonderer und ungewöhnlicher Umstand.«

Hierüber entstand ein allgemeines Gelächter. Der kleine Richter blickte zornentbrannt über seinen Schreibtisch hinüber und sagte:

»Nehmen Sie sich wohl in acht, Sir.«

»So sagte damals auch Herr Pickwick, Mylord«, antwortete Sam, »und ich nahm mich mit diesen Kleidern sehr in acht; sehen Sie nur, wie ich sie geschont habe, Mylord.«

Der Richter blickte Sam zwei Minuten lang streng an; aber Sams Züge waren so vollkommen ruhig und heiter, daß er nichts zu sagen wußte, und daher den Prokurator Buzfuz aufforderte, fortzufahren.

»Herr Weller«, sagte der Prokurator Buzfuz, indem er würdevoll die Arme kreuzte und sich halb gegen die Geschworenen wandte, als wollte er sie stumm versichern, daß er diesen Zeugen schon fangen werde. »Wollen Sie damit wirklich sagen, Herr Weller, daß Sie nichts davon gesehen haben, wie die Klägerin ohnmächtig in des Beklagten Armen lag, was die Zeugen vorhin bereits ausführlich erzählt haben?«

»Habe wirklich nichts gesehen«, erwiderte Sam. »Ich war im Gang, bis man mich rief, und dann war die alte Dame schon nicht mehr da.«

»Merken Sie wohl auf, Herr Weller«, sagte der Prokurator Buzfuz, eine große Feder in das vor ihm stehende Tintenfaß tauchend, damit Sam Angst bekommen und glauben solle, er wolle seine Antwort niederschreiben. »Sie waren im Gang und haben nichts von dem gesehen, was vorging? Haben Sie nicht ein paar Augen im Kopf, Herr Weller?«

»Ja, wohl habe ich ein paar Augen«, erwiderte Sam, »und eben das ist's. Wären es ein paar Patent-Doppel-Millionen-Vergrößerungsgläser von Extragüte, so hätte ich vielleicht durch ein paar Treppen und eine eichene Tür gesehen; aber da es bloß ganz einfache Augen sind, so ist mein Gesichtskreis beschränkt.«

Bei dieser Antwort, die ohne den geringsten Anschein von Aufregung und mit der vollkommensten Unbefangenheit und Gleichmütigkeit gegeben wurde, kicherten die Zuschauer, der kleine Richter lächelte, und Prokurator Buzfuz schaute ausnehmend albern darein. Nach einer kurzen Beratung mit Dodson und Fogg wandte sich der gelehrte Prokurator aufs neue gegen Sam und sagte, mit peinlicher Anstrengung seinen Ärger verbergend:

»Jetzt, Herr Weller, werde ich Ihnen, wenn Sie erlauben, eine Frage über einen andern Punkt vorlegen.«

»Ganz, wie es Ihnen beliebt«, erwiderte Sam, mit der besten Laune von der Welt.

»Erinnern Sie sich noch, im vergangenen November einmal bei Nacht zu Frau Bardell gegangen zu sein?«

»O ja, recht gut.«

»So, Sie erinnern sich dessen also, Herr Weller?« fragte Prokurator Buzfuz, neuen Mut fassend, »Ich dachte mir's doch, wir würden am Ende schon noch etwas von Ihnen erfahren.«

»Das habe ich mir auch gedacht, Sir«, entgegnete Sam.

Und die Zuschauer kicherten aufs neue.

»Gut; Sie gingen ohne Zweifel zu ihr, um mit ihr ein bißchen über den Prozeß zu sprechen, nicht wahr, Herr Weller?« fragte Prokurator Buzfuz, den Geschworenen bedeutsame Blicke zuwerfend.

»Ich ging hin, um die Miete zu bezahlen: aber wir sprachen allerdings auch über den Prozeß«, erwiderte Sam.

»Ah, Sie sprachen auch über den Prozeß?« sagte Buzfuz, strahlend im Vorgenuß einer wichtigen Entdeckung. »Nun, was wurde denn über den Prozeß gesprochen? Wollen Sie die Güte haben, es uns zu sagen, Herr Weller?«

»Mit dem größten Vergnügen, Sir«, erwiderte Sam. »Nach einigen unwichtigen Bemerkungen von den zwei tugendfesten Damen, die vorhin befragt wurden, brach die Gesellschaft in sehr große Bewunderung aus über das ehrenwerte Benehmen der Herren Dodson und Fogg, die hier neben Ihnen sitzen.«

Dies zog natürlich die allgemeine Aufmerksamkeit auf Dodson und Fogg, die möglichst tugendsame Gesichter schnitten.

»Die Sachwalter der Klägerin?« fragte Prokurator Buzfuz. »Die Damen haben also mit großem Lob von dem ehrenhaften Benehmen der Herren Dodson und Fogg, der Sachwalter der Klägerin, gesprochen?«

»Ja«, sprach Sam: »sie sagten, es sei doch sehr großmütig von ihnen, daß sie den Prozeß auf Spekulation übernommen haben, und sich nichts für ihre Unkosten bezahlen lassen wollen, außer wenn Herr Pickwick verurteilt werde.«

Bei dieser höchst unerwarteten Antwort kicherten die Zuschauer abermals. Die Herren Dodson und Fogg wurden feuerrot, beugten sich gegen Prokurator Buzfuz hin und flüsterten ihm hastig etwas ins Ohr.

»Sie haben vollkommen recht«, sagte Prokurator Buzfuz laut, mit erzwungener Ruhe. »Es ist durchaus nutzlos, Mylord, von der unverbesserlichen Dummheit dieses Zeugen irgendeinen Aufschluß zu erwarten. Ich will den Gerichtshof nicht länger damit aufhalten, daß ich noch mehr Fragen an ihn richte. Entfernen Sie sich, Sir.«

»Hat einer von den Herren vielleicht Lust, mich noch etwas zu fragen?« sagte Sam, indem er seinen Hut nahm und sehr bedächtig um sich blickte.

»Ich nicht, Herr Weller, danke Ihnen«, antwortete Prokurator Snubbin lachend.

»Sie können sich entfernen, Sir«, sagte Prokurator Buzfuz, ungeduldig mit der Hand winkend.

Sam trat demgemäß ab, nachdem er der Sache der Herren Dodson und Fogg den größtmöglichen Schaden zugefügt, über Herrn Pickwick aber so wenig wie möglich ausgesagt hatte, was beides von Anfang an seine Absicht gewesen war.

»Ich habe keine Einwendung mehr zu machen, Mylord«, sagte Prokurator Snubbin, »wenn ein weiteres Zeugenverhör durch den Umstand erspart wird, daß Herr Pickwick sich von den Geschäften zurückgezogen hat und ein bedeutendes unabhängiges Vermögen besitzt.«

»Sehr gut«, sagte der Prokurator Buzfuz, dem Sekretär die zwei Briefe übergebend, um zu lesen. »Dann ist es meine Sache, Mylord.«

Prokurator Snubbin hielt jetzt eine sehr lange und nachdrucksvolle Rede zugunsten des Beklagten an die Geschworenen, worin er dem Lebenswandel und Charakter des Herrn Pickwick die größten Lobsprüche erteilte. – Da indessen unsere Leser weit besser als der Prokurator Snubbin imstande sind, sich ein richtiges Urteil über die Verdienste und Vollkommenheiten dieses Gentleman zu bilden, so fühlen wir uns nicht berufen, uns ausführlich auf die Bemerkungen des gelehrten Herrn einzulassen. Er versuchte, darzutun, daß die zum Vorschein gebrachten Billette sich lediglich auf Herrn Pickwicks Mittagessen oder auf die Vorbereitungen zu seinem Empfang bezogen, wenn er von einem ländlichen Ausflug zurückkehrte. – Es genüge, im allgemeinen hinzuzufügen, daß er für Herrn Pickwick sein möglichstes tat, und nach der ewigen Autorität des alten allbekannten Sprichwortes kann man vom besten Manne nicht mehr verlangen.

Der Herr Richter Stareleigh zog das Fazit in der althergebrachten und überall üblichen Form. Er las den Geschworenen so viel von seinen Notizen vor, wie er bei der Schnelligkeit, mit der er sie niedergeschrieben, entziffern konnte, und ließ allgemeine Bemerkungen mit einfließen, wie z. B. wenn Frau Bardell recht habe, so sei es sonnenklar, daß Herr Pickwick unrecht habe, und wenn die Geschworenen die Aussagen der Frau Cluppins glaubwürdig finden, so werden sie ihnen Glauben schenken, wo nicht, so werden sie es nicht tun. Wenn sie überzeugt seien, daß ein Eheversprechen nicht gehalten worden sei, so werden sie der Klägerin eine angemessene Entschädigung zuerkennen, wenn sie dagegen glauben, das Eheversprechen habe überhaupt nicht stattgefunden, so werden sie den Beklagten vollkommen freisprechen. Die Geschworenen zogen sich hierauf in ihr besonderes Zimmer zurück, um die Sache zu beraten, und der Richter begab sich auf sein Privatzimmer, um sich an einer Hammelkeule und einem Glas Sekt zu laben.

Es verstrich eine ängstliche Viertelstunde: die Geschworenen kamen zurück und der Richter wurde hereingeholt. Herr Pickwick setzte seine Brille auf und starrte mit unruhevollem Gesicht und schnellklopfendem Herzen nach dem Obmann hin.

»Meine Herren«, fragte das schwarzgekleidete Individuum, »haben Sie sich über Ihren Ausspruch geeinigt?«

»Ja«, antwortete der Obmann.

»Für wen haben Sie sich entschieden, meine Herren, für die Klägerin oder den Beklagten?«

»Für die Klägerin.«

»Welche Entschädigung erkennen Sie ihr zu?«

»Siebenhundertundfünfzig Pfund.«

Herr Pickwick nahm seine Brille herunter, wischte die Gläser sorgfältig ab, steckte sie ins Futteral und dieses in die Tasche. Sodann zog er mit großer Pünktlichkeit seine Handschuhe an, und nachdem er diese ganze Zeit über den Obmann angestarrt hatte, folgte er mechanisch Herrn Perker und dem blauen Sack zum Saale hinaus.

Sie begaben sich in ein Seitenzimmer, wo Perker die Gebühren bezahlte und wohin bald darauf auch Herrn Pickwicks Freunde kamen. Hier trafen sie auch die Herren Dodson und Fogg, die sich mit allen Zeichen innerer Zufriedenheit die Hände rieben.

»Nun, meine Herren?« sagte Herr Pickwick.

»Nun, Sir?« sagte Herr Dodson für sich und seinen Kompagnon.

»Sie bilden sich wahrscheinlich ein, daß Sie Ihre Kosten erhalten werden, meine Herren?« sagte Herr Pickwick.

Fogg erwiderte, sie zweifelten nicht daran; und Dodson meinte, sie würden es schon auf einen Versuch ankommen lassen.

»Versuchen Sie es, so lange Sie wollen, meine Herren Dodson und Fogg«, sagte Herr Pickwick heftig, »aber Sie erhalten von mir keinen Heller Kosten oder Entschädigung, und wenn ich mein ganzes noch übriges Leben im Schuldturm zubringen müßte.«

»Ha, ha!« meinte Dodson, »Sie werden sich noch vor dem nächsten Gerichtstag eines Besseren besinnen, Herr Pickwick.«

»Hihihi«, grinste Fogg: »das wollen wir bald sehen, Herr Pickwick.«

Sprachlos vor Entrüstung ließ sich Herr Pickwick von seinem Anwalt und seinen Freunden hinausführen und stieg in eine Mietkutsche, die der allzeit aufmerksame Sam Weller für diesen Zweck herbeigeholt hatte.

Sam hatt den Tritt hinaufgeschlagen und wollte eben auf den Bock springen, als ihn jemand auf die Schulter klopfte. Er sah sich um, sein Vater stand vor ihm. Das Gesicht des alten Herrn trug den Ausdruck tiefer Betrübnis; er schüttelte ernsthaft sein Haupt und sagte im warnenden Tone:

»Ich wußte wohl, was dabei herauskommen würde, wenn man die Sache so angreift. O Sammy, Sammy, warum habt ihr kein Alibi nachgewiesen?«

 


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