Charles Dickens
Denkwürdigkeiten des Pickwick-Klubs. Zweiter Teil
Charles Dickens

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Siebenundvierzigstes Kapitel.

Erzählt einen rührenden, aber nicht betrüblichen Vorfall, herbeigeführt durch das Zartgefühl der Herren Dodson und Fogg.

Es war in der letzten Woche des Monats Juli, als eine Mietdroschke, jedoch ohne hintenanhängende Nummer, in raschem Trab die Goswellstraße hinauffuhr. Drei Personen waren darinnen eingepfercht, ohne den Kutscher, der, wie natürlich, seinen eigenen kleinen äußern Sitz auf der Seite hatte. Am ledernen Deckel hingen zwei Schals, allem Anschein nach zwei kleinen, streitsüchtig aussehenden Damen gehörig, zwischen denen, auf einen äußerst kleinen Umfang beschränkt, ein Gentleman von linkischem, unterwürfigem Benehmen eingezwängt saß, der, wenn er je eine Bemerkung zu machen wagte, jedesmal von einer der obenerwähnten streitsüchtigen Damen barsch angefahren wurde. Zu guter Letzt gaben die beiden Keiferinnen und der linkische Gentleman dem Kutscher widersprechende Anweisungen, die sämtlich auf den einen Punkt hinzielten, daß er vor Frau Bardells Tür anhalten solle, die, wie der linkische Gentleman in direkter Opposition gegen die streitsüchtigen Damen und ihnen zu Trotz behauptete, eine grüne Tür war und keine gelbe.

»An dem Haus mit der grünen Tür halt' an, Schwager«, sagte der linkische Gentleman.

»O du dummer, einfältiger Kerl!« rief eine der streitsüchtigen Ladies. »Nein, an dem Haus mit der gelben Tür, Kutscher!«

Daraufhin ließ der Kutscher, der bei seiner hastigen Bemühung, am Haus mit der grünen Tür zu halten, das Pferd so straff angezogen hatte, daß es beinahe rückwärts in die Droschke hineinfiel, die Vorderfüße seiner Mähre wieder auf den Boden sinken und pausierte.

»Wo soll ich denn halten?« fragte er. »Machen Sie es unter sich aus. Ich frage nur, wo?«

Hier erneuerte sich der Streit mit vermehrter Heftigkeit, und da das Pferd in diesem Augenblick von einer Fliege an seiner Nase beunruhigt wurde, so verwandte der Kutscher humanerweise seine Aufmerksamkeit, nach dem Grundsatz des Gegenreizes mit der Peitsche um dessen Kopf herumzufuchteln.

»Ein langweiliger Tag heute«, sagte endlich eine der streitsüchtigen Damen. »Das Haus mit der gelben Tür, Kutscher.«

Als aber die Droschke in Pracht und Herrlichkeit vor dem Haus mit der gelben Tür vorfuhr, wobei es, wie eine der streitsüchtigen Ladies triumphierend bemerkte, »wahrhaftig mehr Lärm machte, als wenn einer in seinem eigenen Wagen kommt«, und der Kutscher bereits abgestiegen war, eine der Damen herauszuhelfen – siehe, da steckte sich auf einmal der kleine Rundkopf des Masters Thomas Bardell zum Fenster eines Hauses mit einer roten Tür, wenige Nummern weiter, heraus.

»Eine ärgerliche Geschichte«, sagte die Keiferin, dem linkischen Gentleman einen vernichtenden Blick zuwerfend.

»Ich bin nicht daran schuld, liebe Frau«, versetzte der Gentleman.

»Sprich nicht mit mir, du Dummkopf!« erwiderte die Dame. »Das Haus mit der roten Tür, Kutscher. O, wenn je eine Frau mit einem boshaften Taugenichts betrogen worden ist, der seinen Stolz und sein Vergnügen darin sucht, sie bei jeder möglichen Gelegenheit vor Fremden zu blamieren, so bin ich's!«

»Sie sollten sich vor sich selbst schämen, Raddle«, sagte das andere Frauchen, das niemand anders war als Frau Cluppins.

»Was habe ich denn getan?« fragte Herr Raddle.

»Sprich nicht mit mir, du Vieh; ich könnte mich sonst bewogen finden, mein Geschlecht zu vergessen und dich zu schlagen«, sagte Frau Raddle.

Während dieses Zwiegesprächs führte der Kutscher höchst schimpflicherweise das Pferd am Zügel vor das Haus mit der roten Tür, das Master Bardell bereits geöffnet hatte. Wahrhaftig, eine niedrige, schmähliche Art, vor einem Freundeshaus anzukommen! – Kein ungestüm feuriges Heranfliegen von seiten des Tieres, kein Herabspringen und lautes Anklopfen von seiten des Kutschers, kein hastiges, knarrendes Aufreißen der Kutschentür, damit die Ladies nicht im Zug sitzen mußten, und dann der Mann, der die Schals bereithielt – gerade wie ein gemeiner Kutscher! Der ganzen Sache war der Eindruck bereits genommen – es wäre noch anständiger gewesen, zu Fuß zu erscheinen.

»Nun, Tommy«, begann Frau Cluppins, »wie geht es deiner lieben Mutter?«

»O, sehr gut«, erwiderte Master Bardell; »sie ist im Vorderzimmer – alles bereit. Ich bin auch bereit.«

Hier steckte Herr Bardell seine Hände in die Taschen und trippelte auf der untersten Stufe der Haustreppe hin und her.

»Geht sonst niemand mit, Tommy?« sagte Frau Cluppins, ihren Mantel zurechtmachend.

»Frau Sanders auch«, erwiderte Tommy. »Und ich gleichfalls.«

»Der verdammte Bube!« sagte die kleine Frau Cluppins. »Er denkt an nichts, als an sich selbst. Komm her, lieber Tommy!«

»Da bin ich«, sagte Master Bardell.

»Wer sonst noch, mein Lieber?« fuhr Frau Cluppins in einschmeichelnder Weise zu fragen fort.

»Frau Rogers auch, erwiderte Master Bardell, seine Augen sehr weit aufreißend, als er mit dieser Kunde heranrückte.

»Wie? die Dame, die bei euch wohnt?« rief Frau Cluppins.

Herr Bardell steckte seine Hände noch tiefer in seine Taschen und nickte geradezu fünfunddreißigmal, um anzudeuten, daß es wirklich diese Dame und keine andere sei.

»Wahrhaftig«, sagte Frau Cluppins, »das ist ja eine hübsche Gesellschaft!«

»Ja, und wenn Sie wüßten, was wir in der Speisekammer haben, dann würden Sie erst so sagen«, versetzte Master Bardell.

»Was ist's, Tommy?« sagte Frau Clupping liebkosend. »Du sagst es mir gewiß, Tommy.«

»Nein, nein«, erwiderte Master Bardell, den Kopf schüttelnd und auf der Türschwelle hin- und hertänzelnd.

»Der Blitzjunge!« murmelte Frau Cluppins. »Wie der kleine Spitzbube einen necken kann! Komm, Tommy, sag es deiner lieben Cluppy!«

»Die Mutter hat gesagt, ich dürfe nicht«, entgegnete Master Bardell. »Ich bekomme auch etwas davon.«

Und voll Freude über diese Aussicht tänzelte der frühreife Knabe mit vermehrter Lebhaftigkeit weiter.

Während dieses Verhörs mit dem Kinde hatten Herr und Frau Raddle mit dem Kutscher Streit wegen des Fahrlohns, und als der Sieg sich für den letzteren entschieden hatte, wankte Frau Raddle die Treppe hinauf.

»He, Marianne! was gibt's?« rief Frau Cluppins.

»Ich zittere am ganzen Leibe, Betty«, stöhnte Frau Raddle. »Raddle ist auch gar kein Mann; er hängt mir alles an den Hals.«

Das war gewiß nicht schön gegen den unglücklichen Herrn Raddle, der beim Beginn des Streits von seiner sanften Ehehälfte auf die Seite gestoßen worden war und den energischen Befehl erhalten hatte, sein Maul zu halten. Trotzdem war ihm keine Gelegenheit vergönnt, sich zu verteidigen: denn Frau Raddle entwickelte unzweideutige Zeichen einer Ohnmacht. Als Frau Bardell, Frau Sanders, ferner die Hausbewohnerin und ihre Magd vom Stubenfenster aus dies bemerkten, stürzten sie eifrig herbei und führten sie ins Haus, wobei sie alle zugleich sprachen und verschiedene Ausdrücke des Mitgefühls fallen ließen, als wäre die gute Frau eine der beklagenswertesten Sterblichen auf Erden. Sie wurde in das Vorderzimmer gebracht und auf ein Sofa niedergelassen. Die Dame vom ersten Stock rannte in den ersten Stock, kehrte mit einem Fläschchen Riechsalz zurück, und indem sie Frau Raddle in den Armen hielt, brachte sie das Riechsalz mit aller weiblichen Sorglichkeit und Zärtlichkeit an ihre Nase, bis diese Dame unter vielem Gestöhne und Sträuben endlich erklärte, es gehe ihr entschieden besser.

»Ach, die Ärmste«, sagte Frau Rogers; »ich kann mir nur zu gut denken, wie es ihr ums Herz sein mag.«

»Die Ärmste! ja, ich kann mir's auch denken«, sagte Frau Sanders.

Und nun fingen die Damen alle im Verein an, zu klagen und zu jammern, sagten, sie könnten sich's denken, was es sei, und bemitleideten sie von ganzem Herzen; selbst das dreizehn Jahr alte und drei Fuß hohe Dienstmädchen murmelte sein Mitgefühl.

»Aber was hat's denn gegeben?« fragte Frau Bardell.

»Ach, was hat Sie so angegriffen, Madame?« fragte Frau Rogers.

»O, ich bin abscheulich mißhandelt worden«, erwiderte Frau Raddle in vorwurfsvollem Ton.

Sämtliche Damen warfen entrüstete Blicke auf Herrn Raddle.

»Die ganze Sache ist die«, begann dieser unglückliche Gentleman vortretend: »als wir hier abstiegen, erhob sich ein Streit mit dem Droschkenkutscher –«

Bei Erwähnung dieses Wortes stieß seine Frau ein lautes Geschrei aus, das jede weitere Erklärung unverständlich machte.

»Sie würden besser daran tun, sie ganz uns zu überlassen, Raddle«, sagte Frau Cluppins. »So lange Sie da sind, wird es ihr nicht besser.«

Sämtliche Damen stimmten in dieser Ansicht überein. Herr Raddle wurde aus dem Zimmer getrieben und angewiesen, sich im hintern Hofraum zu ergehen, was er auch etwa eine Viertelstunde getan hatte, als Frau Bardell ihm mit feierlicher Miene verkündete, er könne jetzt kommen, müsse aber in seinem Benehmen gegen seine Frau die äußerste Behutsamkeit beobachten. Sie wisse, daß er es nicht böse meine, aber Marianne sei eine gar zarte Natur, und wenn er sie nicht aufs sorgsamste behandle, so könne er sie verlieren, wenn er am wenigsten daran denke, was nachher eine höchst schreckliche Empfindung für ihn sein müßte usw. Herr Raddle hörte das alles mit großer Unterwürfigkeit an und kehrte, fromm wie ein Lämmlein, sogleich ins Zimmer zurück.

»Ei, Frau Rogers«, sagte Frau Bardell, »Sie sind, glaube ich, noch nicht vorgestellt worden. – Herr Raddle, Madame; Frau Cluppins, Madame; Frau Raddle, Madame.«

»Der Frau Cluppins Schwester«, fügte Frau Sanders hinzu.

»Ah, freut mich«, sagte Frau Rogers gnädig; – sie war nämlich die Hausbesitzerin; die Magd war bei ihr im Dienst, und so verlieh ihr die Stellung das Recht, nicht sowohl vertraulich, sondern gnädig zu sein. »Ah, freut mich.«

Frau Raddle lächelte süß, Herr Raddle verbeugte sich, und Frau Cluppins sagte, sie schätze sich äußerst glücklich, die Bekanntschaft einer Dame, wie Frau Rogers, zu machen, von der sie schon so viel Gutes gehört – ein Kompliment, das die letztgenannte Dame mit huldreicher Herablassung entgegennahm.

»Nun, Herr Raddle«, sagte Frau Bardell: »Sie werden sich gewiß hochgeehrt fühlen, daß Sie und Tommy die einzigen Gentlemen sind, denen es vergönnt ist, so viele Damen auf dem ganzen Weg nach dem Spanier in Hampstead zu begleiten. Sind Sie nicht auch dieser Meinung, Frau Rogers?«

»O freilich, Madame«, erwiderte Frau Rogers, worauf alle andern Damen antworteten: »o freilich.«

»Das versteht sich doch, Madame«, sagte Herr Raddle, seine Hände reibend und eine Spur Neigung verratend, ein bißchen lustig zu werden. »In der Tat, um die Wahrheit zu gestehen, ich sagte, als wir in die Droschke –«

Bei der Wiederholung dieses Wortes, das so manche schmerzhafte Erinnerung erweckte, drückte Frau Raddle ihr Taschentuch aufs neue an ihre Augen und stieß einen halbunterdrückten Schrei aus, so daß Frau Bardell Herrn Raddle mit finsterem Stirnrunzeln zu erkennen gab, er würde besser tun, nichts mehr zu sagen, und dem Mädchen der Frau Rogers einen Wink erteilte, den Wein zu bringen.

Dies war das Signal zur Entfaltung der in der Speisekammer verborgenen Schätze, die aus verschiedenen Platten Apfelsinen und Biskuits bestanden, nebst einer Flasche alten Portweins – zu einem Schilling und neun Pencen – und einer andern von dem berühmten ostindischen Xerxes zu vierzehn Pencen, was alles zu Ehren der Hausbesitzerin vorgezeigt wurde und jedermänniglich ein unbegrenztes Vergnügen gewährte. Nachdem Frau Cluppins noch großen Schreck ausgestanden hatte durch einen Versuch von seiten Tommys, zu erzählen, wie sie ihn über den Inhalt der Speisekammer ausgefragt – ein Versuch, der dadurch im Keime erstickt wurde, daß es dem lieben Jungen einfiel, hinterm Rücken der Großen ein halbes Glas von dem alten Portwein hinabzugießen, wodurch sein Leben auf einige Sekunden in Gefahr geriet – brach die Gesellschaft auf, um eine Kutsche nach Hampstead zu suchen. Diese fand sich bald, und in ein paar Stunden langten sie wohlbehalten im spanischen Teegarten an, wo des unglücklichen Herrn Raddle erste Handlung seiner Gemahlin beinahe einen Rückfall zuzog; denn sie bestand in nichts Geringerem, als daß er sieben Portionen Tee bestellte, während doch, wie die Damen alle einstimmig bemerkten, nichts leichter gewesen wäre, als daß Tommy aus irgendeiner andern beliebigen Tasse getrunken hätte, wenn es der Kellner nicht gerade sah, wodurch dann eine ganze Portion von dem teuren Tee erspart worden wäre.

Aber die Sache ließ sich nun einmal nicht mehr ändern; das Teebrett kam mit sieben Ober- und sieben Untertassen und ebenso vielen Portionen Brot und Butter. Frau Bardell wurde einstimmig zur Präsidentin ernannt, Frau Rogers pflanzte sich zu ihrer Rechten, Frau Raddle zu ihrer Linken auf, und nun ging der Schmaus mit großer Lustigkeit und bestem Erfolg vor sich.

»Wie herrlich es doch auf dem Lande ist!« seufzte Frau Rogers; »ich möchte das ganze Jahr da leben.«

»Das kann unmöglich Ihr Ernst sein, Madame«, erwiderte Frau Bardell schnell; denn aus Rücksicht auf die zu vermietenden Wohnungen war es durchaus nicht ratsam, solche Ansichten zu er mutigen; »es würde Ihnen gewiß nicht gefallen, Madame.«

»Meiner Ansicht nach«, sagte die kleine Frau Cluppins, »sind Sie viel zu lebhaft und gesellschaftlich, um gern auf dem Lande zu wohnen, Madame.«

»Ja, das mag sein, Madame, das mag sein«, seufzte die Bewohnerin des ersten Stocks.

»Für einsame Leute, die niemand haben, der für sie sorgt oder für den sie selbst sorgen müssen, oder deren Gemüt verletzt ist, oder etwas der Art«, bemerkte Herr Raddle, einige Lustigkeit erringend und um sich blickend, »für solche Leute ist das Landleben ganz gut. Das Land ist für ein krankes Herz, pflegt man zu sagen.«

Der unglückliche Mann hätte alles in der Welt sagen können, es wäre mehr am Platze gewesen, nur das nicht. Frau Bardell brach sogleich in Tränen aus und bat, man möchte sie augenblicklich vom Tische wegführen, worauf das liebe Kind ebenfalls höchst jämmerlich zu schreien begann.

»Sollte man es glauben, Madame«, rief Frau Raddle, sich ingrimmig an die Bewohnerin des ersten Stocks wendend, »sollte man es glauben, daß man einen so dummen Esel zum Mann haben kann, der imstande ist, den ganzen Tag mit den Gefühlen des weiblichen Herzens Spott zu treiben?«

»Aber, liebe Frau«, wandte Herr Raddle ein. »Ich habe es nicht bös gemeint, liebe Frau.«

»Du hast es nicht bös gemeint?« wiederholte Frau Raddle mit unaussprechlicher Verachtung. »Geh' mir aus den Augen, ich kann dich nicht mehr ansehen, du Meerkalb.«

»Sie müssen sich nicht so erhitzen, Marianne«, fiel Frau Cluppins ein. »Sie sollten wirklich auf sich selbst mehr Rücksicht nehmen, was Sie nie tun. – Gehen Sie jetzt, Raddle, Sie machen der guten Seele nur Kummer.«

»Sie hätten besser daran getan, Sir, Ihren Tee für sich allein zu trinken«, sagte Frau Rogers, die dampfende Kanne aufs neue handhabend.

Frau Sanders, die ihrer Gewohnheit gemäß sehr mit dem Butterbrot beschäftigt war, drückte dieselbe Ansicht aus, und Herr Raddle zog sich gänzlich zurück.

Jetzt zappelte und wand sich Master Bardell, der fast schon zu groß zu solchen Liebkosungen war, gewaltig in den Armen seiner Mutter, bei welcher Operation er seine Stiefel auf den Teetisch brachte und einige Verwirrung unter den Tassen und Kannen anrichtete. Doch diese Art von Ohnmachtsanfällen, die bei den Frauen seuchenartig ist, dauert selten lange, und nachdem er sie tüchtig abgeküßt und auch ein wenig angeschrien hatte, kam Frau Bardell wieder zu sich, stellte ihn auf den Boden, wunderte sich, daß sie habe so närrisch sein können, und schenkte aufs neue Tee ein.

In diesem Augenblick vernahm man das Gerassel herannahender Räder. Die Damen blickten auf und sahen eine Mietkutsche am Gartentor anhalten.

»Da kommt noch mehr Gesellschaft«, sagte Frau Sanders.

»Es ist ein Gentleman«, bemerkte Frau Raddle.

»Ach du meine Güte! ist das nicht Herr Jackson, der junge Schreiber bei Dodson und Fogg?« rief Frau Bardell. »Lieber Himmel, am Ende hat Herr Pickwick doch die Entschädigung bezahlt.«

»Oder er will Sie jetzt heiraten!« sagte Frau Cluppins.

»Wahrhaftig, wie langsam der Gentleman ist!« rief Frau Rogers. »Warum tummelt er sich denn nicht?«

Während sie diese Worte sprach, wandte sich Herr Jackson von der Kutsche ab, wo er einige Bemerkungen an einen schäbig gekleideten Mann in schwarzen Beinkleidern gerichtet hatte, der soeben mit einem dicken Eschenstock in der Hand aus dem Wagen hervorgetaucht war, und ging, die Haare unter den Rand seines Hutes streichend, gerade auf die Damen zu.

»Was gibt's? Ist etwas neues vorgefallen?« rief ihm Frau Bardell voll Eifer entgegen.

»Ganz und gar nichts, Madame«, erwiderte Herr Jackson. »Wie geht es Ihnen, meine Gnädigen? Ich muß um Verzeihung bitten, daß ich mich eindränge – aber das Geschäft, meine Gnädigen, das Geschäft.«

Mit dieser Entschuldigung lächelte Herr Jackson, verbeugte sich vor allen zugleich und strich sein Haar abermals hinauf. Frau Rogers flüsterte Frau Raddle zu, es sei wirklich ein scharmanter junger Mensch.

»Ich war in der Goswellstraße«, fuhr Jackson fort, »und da ich von dem Mädchen hörte, daß Sie hier seien, nahm ich eine Kutsche und fuhr Ihnen nach. Meine Prinzipale bedürfen Ihrer sogleich in der Stadt, Frau Bardell.«

»Um Gottes willen!« rief die Dame, erschrocken über diese plötzliche Mitteilung.

»Ja«, sagte Jackson, sich in die Lippen beißend. »Es ist ein sehr wichtiges und dringendes Geschäft, das unter keinen Umständen aufgeschoben werden kann. Dodson hat es mir ausdrücklich gesagt, und Fogg ebenfalls. Ich habe die Kutsche eigens deshalb genommen, um Sie nach London zurückzuführen.«

»Sehr merkwürdig!« rief Frau Bardell.

Die Damen erklärten es ebenfalls für sehr merkwürdig, sprachen aber einstimmig ihre Ansicht dahin aus, die Sache müsse von großer Wichtigkeit sein, sonst würden Dodson und Fogg nicht nach ihr geschickt haben; und wegen dieser Dringlichkeit des Geschäfts solle sie sich unverzüglich zu ihrem Anwalt begeben.

Es war Frau Bardell keineswegs unlieb, daß ihre Rechtsfreunde in so besonderer Eile nach ihr verlangten. Sie glaubte dadurch sowohl überhaupt, als namentlich auch in den Augen der Bewohnerin ihres ersten Stocks bedeutend an Wichtigkeit zu gewinnen, ein Gedanke, der ihrer Eitelkeit nicht wenig schmeichelte. Sie lachte ein bißchen, stellte sich, als ob es ihr höchst unangenehm wäre und sie sich nicht entschließen könnte, kam aber doch zuletzt zu der Meinung, sie glaube, gehen zu müssen.

»Aber wollen Sie nach Ihrer Fahrt nicht eine kleine Erfrischung einnehmen, Herr Jackson?« fragte Frau Bardell in einladendem Ton.

»Ich danke vielmal, habe wirklich keine Zeit zu verlieren«, erwiderte Jackson; »auch habe ich einen Freund bei mir«, fuhr er fort, indem er auf den Mann mit dem Eschenstock sah.

»Aber so bitten Sie doch Ihren Freund hierher, Sir«, sagte Frau Bardell.

»Rufen Sie ihn doch zu uns, Sir.«

»Nein, ich danke sehr«, erwiderte Herr Jackson einigermaßen verlegen. »Er ist an Damengesellschaft nicht gewöhnt und wird da immer ganz blöde. Wenn Sie dem Kellner auch den Auftrag geben wollten, ihm ein Gläschen zu bringen, er würde es wahrhaftig nicht annehmen. – Doch Sie können ja einen Versuch machen.«

Herrn Jacksons Finger wanderten dabei spielend um seine Nase, um seine Zuhörerinnen aufmerksam zu machen, daß er ironisch spreche.

Der Kellner wurde alsbald an den blöden Gentleman entsandt, und der blöde Gentleman genehmigte etwas; Herr Jackson genoß ebenfalls etwas und die Damen genossen, ihrem Gaste zu Ehren, auch noch etwas. Herr Jackson sagte sofort, er fürchte, es sei die höchste Zeit zu gehen, worauf Frau Sanders, Frau Cluppins und Tommy, die der Verabredung gemäß Frau Bardell begleiten und die übrigen dem Schutz des Herrn Raddle überlassen sollten, sich alsbald in die Kutsche verfügten.

»Isack«, sagte Jackson, als Frau Bardell sich anschickte einzusteigen, und blickte dabei den Mann mit dem Eschenstock an, der auf dem Bock saß und eine Zigarre rauchte.

»Sir.«

»Das ist Frau Bardell.«

»O, ich wußte es schon lange«, sagte der Mann.

Frau Bardell stieg ein, Herr Jackson gleichfalls, und sie fuhren fort. Frau Bardell konnte nicht umhin, sich allerhand Gedanken darüber zu machen, was Herrn Jacksons Freund wohl gemeint habe.

»Schlaue Gesellen, diese Anwälte«, meinte sie: »Gott steh uns bei, wie sie die Leute überall ausfindig zu machen wissen.«

»Ein verdrießliches Ding um unsere Prozeßkosten«, sagte Jackson, als Frau Cluppins und Frau Sanders eingeschlafen waren: »die Kosten für Ihren Prozeß, meine ich.

»Es tut mir sehr leid, daß Sie nicht dazu kommen können«, versetzte Frau Bardell. »Aber wenn ihr Anwälte solche Sachen auf Spekulation übernehmt, so müßt ihr euch dann und wann auch einen Verlust gefallen lassen.«

»Sie haben Ihnen aber, soviel ich weiß, nach dem Prozeß eine Erkenntlichkeitsbestätigung für die Kosten ausgestellt«, sagte Jackson.

»Ja, aber bloß der Form wegen«, erwiderte Frau Bardell.

»Gewiß«, versetzte Jackson trocken. »Eine bloße Formsache – bloße Formsache.«

Sie fuhren weiter und Frau Bardell druselte ein. Nach einiger Zeit wurde sie durch das Anhalten der Kutsche geweckt.

»Mein Gott«, sagte die Dame, »sind wir schon in Freemans Court?«

»Wir fahren nicht ganz so weit«, erwiderte Jackson. »Haben Sie die Güte, hier auszusteigen.«

Frau Bardell tat es noch schlaftrunken. Es war ein sonderbarer Platz: – eine große Mauer mit einem Tor in der Mitte, und innen brannte ein Gaslicht.

»Nun, meine Damen«, rief der Mann mit dem Eschenstock, in die Kutsche hineinsehend und Frau Sanders aus dem Schlafe rüttelnd: »kommen Sie!«

Frau Sanders weckte ihre Freundin und stieg aus. Frau Bardell war, an Jacksons Arm gelehnt und Tommy bei der Hand führend, bereits zum Portal eingegangen. Die übrigen folgten.

Der Raum, in den sie jetzt traten, sah noch weit sonderbarer aus als das Portal. Es standen so viele Leute herum und sie starrten einen so an!

»Wo sind wir denn?« fragte Frau Bardell, stehenbleibend.

»Bloß in einem unserer öffentlichen Büros«, erwiderte Jackson, sie schnell durch eine Tür ziehend und um sich blickend, ob die übrigen Damen nachfolgten. »Passen Sie gut auf, Isack.«

»Soll gar nicht fehlen«, erwiderte der Mann mit dem Eschenstock. Die Tür wurde rasch hinter ihnen zugeschlagen, und sie stiegen eine kleine Treppe hinab.

»Endlich wären wir da. Es ist alles nach Wunsch gegangen, Frau Bardell«, sagte Jackson, triumphierenden Blickes um sich schauend.

»Was meinen Sie damit?« fragte Frau Bardell mit klopfendem Herzen.

»Nichts Besonderes«, erwiderte Jackson, sie ein bißchen auf die Seite ziehend; »erschrecken Sie nur nicht, Frau Bardell. Es gibt keinen zartfühlenderen Mann als Dodson und keinen billigdenkenderen als Fogg. Als Geschäftsmänner wäre es ihre Pflicht gewesen. Ihnen wegen der Kosten Exekution einlegen zu lassen; aber sie wünschten um jeden Preis, Ihre Gefühle möglichst zu schonen. Wie tröstlich muß Ihnen der Gedanke sein, daß es so gegangen ist! Wir sind im Fleet, Madame. Wünsche Ihnen gute Nacht, Frau Bardell. Gute Nacht, Tommy.«

Da Jackson jetzt in Gesellschaft des Mannes mit dem Eschenstock davoneilte, so führte ein anderer Mann mit einem Schlüssel in der Hand, der bisher bloß zugeschaut hatte, die bestürzten Damen an eine zweite kleine Treppe, die zu einem Tor führte. Frau Bardell schrie laut auf; Tommy heulte; Frau Cluppins schauerte zusammen und Frau Sanders nahm ohne weiteres Reißaus. Denn hier stand der schwerbeleidigte Herr Pickwick, der eben auf seinem nächtlichen Spaziergange begriffen war, und neben ihm lehnte Samuel Weller, der, als er Frau Bardell erblickte, mit spöttischer Ehrerbietung seinen Hut abnahm, während sein Gebieter unwillig ihr den Rücken zukehrte.

»Vexieren Sie die Frau nicht«, sagte der Schließer zu Weller: »sie ist soeben angekommen.«

»Als Gefangene?« sagte Sam, schnell den Hut wieder aufsetzend, »Wer sind die Kläger? Warum? Sprich, alter Knabe!«

»Dodson und Fogg«, erwiderte der Mann: »Exekution wegen Prozeßkosten.«

»He da, Job! Job!« rief Sam, sich in den Gang stürzend, »laufen Sie so schnell als Sie können zu Herrn Perker. Ich wünsche ihn sogleich zu sprechen. Das kann zu etwas Gutem führen. Ein Kapitalspaß! Hurra! Juchhe! Wo ist der Prinzipal?«

Aber diese Fragen blieben sämtlich unbeantwortet: denn Job war gleich nach Empfang seines Auftrags wie wild davongerannt: Frau Bardell aber war in wirklichem vollen Ernst in Ohnmacht gesunken.

 


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