Charles Dickens
Denkwürdigkeiten des Pickwick-Klubs. Zweiter Teil
Charles Dickens

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Fünfzigstes Kapitel.

Die Geschichte von dem Onkel des Hausierers.

»Mein Onkel – verehrte Herren«, sagte der Hausierer, »war einer der lustigsten, angenehmsten und gescheitesten Burschen, die je gelebt haben. Ich wollte, Sie hätten ihn gekannt, meine Herren. Aber wenn ich die Sache näher überlege, so wünsche ich es nicht; denn wenn Sie ihn gekannt hätten, so würden Sie jetzt, nach dem gewöhnlichen Laufe der Natur, wo nicht tot, doch jedenfalls dem Tode so nahe sein, daß Sie zu Hause bleiben und alle Gesellschaft meiden müßten. Dadurch würde ich denn um das unschätzbare Vergnügen gekommen sein, jetzt mit Ihnen zu sprechen. Nein, meine Herren, ich wünsche, daß Ihre Väter und Mütter meinen Onkel gekannt hätten. Sie würden ganz gewiß erstaunlich viel auf ihn gehalten haben, besonders ihre ehrwürdigen Mütter. Wenn unter den zahlreichen Tugenden, die seinen Charakter zierten, zwei vorherrschten, so möchte ich sagen, es waren dies seine Punschbereitung und seine Gesänge nach dem Nachtessen. Entschuldigen Sie mein langes Verweilen bei diesen melancholischen Erinnerungen an entschwundenes Verdienst; aber einen Mann wie meinen Onkel findet man nicht alle Tage.

Ich habe es allezeit als einen Hauptzug im Charakter meines Onkels betrachtet, daß er der vertraute Freund und Kamerad des Tom Smart aus dem großen Hause Bilson und Slum, Cateatonstraße in der City, war. Mein Onkel reiste für Tiggin und Welps, nahm aber lange Zeit so ziemlich dieselbe Route wie Tom, und gleich am ersten Abend, an dem sie zusammentrafen, faßte mein Onkel eine Zuneigung für Tom, die von Tom in gleichem Grade erwidert wurde. Noch ehe sie einander eine halbe Stunde lang kannten, wetteten sie einen neuen Hut, wer am besten ein Quart Punsch brauen und am schnellsten austrinken könne. Mein Onkel gewann die Wette um das Brauen, aber Tom Smart überwand ihn im Trinken um etwa einen halben Salzlöffel voll. Sie machten jeder ein neues Quart aus, um gegenseitig ihre Gesundheit zu trinken und waren von der Zeit an immer die treuesten Freunde. In solchen Dingen waltet eine Fügung des Himmels, meine Herren; man kann ihr nicht entgehen.

Was sein Äußeres betrifft, so war mein Onkel ein bißchen unter der Mittelgröße, aber um einen Grad Verstand stärker als die gewöhnlichen Menschenkinder, und vielleicht war auch sein Gesicht um eine Schattierung röter. Er hatte das lustigste Gesicht, das man sich nur denken kann, meine Herren; etwas Hanswurstartiges darin, aber Nase und Kinn viel hübscher; seine Augen sprühten und funkelten von guter Laune; und ein Lächeln – aber kein so nichtssagendes, hölzernes Gegrinse, sondern ein echtes, fröhliches, herzliches, gutmütiges Lächeln schwebte ständig um seinen Mund. Er wurde einmal aus seinem Zweiradwagen herausgeschleudert und fiel mit dem Kopf gegen einen Meilenstein. Da lag er nun betäubt, und sein Gesicht war von den Steinen dermaßen zerschunden, daß ihn, um seinen eigenen starken Ausdruck zu gebrauchen, seine leibliche Mutter nicht erkannt hätte, wenn sie auf die Erde zurückgekommen wäre. Und in der Tat, wenn ich näher über die Sache nachdenke, meine Herren, so glaube ich selbst, daß sie ihn nicht erkannt haben würde, denn sie starb, als mein Onkel zwei Jahre und sieben Monate alt war; und schon seine Stulpenstiefel würden die gute Frau nicht wenig verlegen gemacht haben, um auch nichts von den Kiessteinen oder gar von seinem lustigen roten Gesicht zu sprechen. Nun, er lag also da; und ich habe meinen Onkel oft sagen hören, der Mann, der ihn aufgehoben, habe erzählt, daß er so lustig gelächelt habe, wie wenn er zu seinem Vergnügen herausgepurzelt wäre. Nachdem man ihn zur Ader gelassen, habe sich der erste schwache Schimmer der rückkehrenden Lebenskraft darin gezeigt, daß er in seinem Bett hoch aufgesprungen und in lautes Lachen ausgebrochen sei, das junge Frauenzimmer, das das Becken gehalten, geküßt, und auf der Stelle Hammelrippchen und eingemachte Nüsse gefordert habe. Er aß eingemachte Walnüsse für sein Leben gern, meine Herren. Er sagte, er habe immer gefunden, daß sie, ohne Weinessig genossen, so gut schmeckten wie Bier.

Meines Onkels große Reise fand zur Zeit statt, wo die Blätter fallen. Er kassierte dann die ausstehenden Schulden ein und nahm Aufträge für den Norden an. Von London ging er nach Edinburg, von Edinburg nach Glasgow, von Glasgow nach Edinburg zurück und von da zu Wasser wieder nach London. Sie müssen mich wohl verstehen, daß er nur seines Vergnügens halber zum zweitenmal nach Edinburg reiste. Er pflegte dort eine Woche zuzubringen, um nach seinen alten Freunden zu sehen und mit dem einen zu frühstücken, mit dem andern zu lunchen, mit dem dritten zu Mittag und mit einem vierten zu Abend zu speisen. So trieb er es eine volle Woche. Ich weiß nicht, meine Herren, ob einer von Ihnen schon einmal an einem echten, substantiellen, gastlichen schottischen Frühstück teilgenommen und dann ein kleines Lunch von einigen Körben Austern, einem Dutzend Flaschen guten Ales und zum Beschluß ein paar Maß Whisky genehmigt hat. Wenn Sie schon dabei waren, so werden Sie mir zugeben, daß dazu eine ziemlich gute Konstitution gehört, um nachher noch ein Mittag- und Abendessen einzunehmen.

Aber, Gott sei Lob und Dank, das alles war für meinen Onkel nichts. Er hatte sich so gut daran gewöhnt, daß es bloßes Kinderspiel für ihn war. Ich habe ihn sagen hören, er wolle die Dundeer einen Tag um den andern unter den Tisch trinken und, ohne zu taumeln, nach Hause gehen. Und doch, meine Herren, haben die Dundeer so starke Köpfe und einen so starken Punsch, wie man es zwischen beiden Erdpolen nur finden kann. Ich habe einmal von einem Glasgower und einem Dundeer erzählen hören, die in einer einzigen Sitzung fünfzehn Stunden lang miteinander um die Wette tranken. Sie erstickten zwar beide, und so gut es sich ermitteln ließ, im gleichen Augenblick; aber mit Ausnahme dieser Kleinigkeit, meine Herren, befanden sie sich noch genau so wohl wie vorher, meine Herren.

Eines Abends in den letzten vierundzwanzig Stunden vor seiner Einschiffung nach London speiste mein Onkel bei einem seiner ältesten Freunde, einem Baillie Mac oder so ähnlich, der in der alten Stadt Edinburg lebte. Des Baillies Frau war da, ferner seine drei Töchter, ein erwachsener Sohn und drei oder vier stämmige, lustige, alte, schottische Kumpane mit buschigen Augenbrauen, die der Baillie meinem Onkel zu Ehren und um einen recht lustigen Abend zu haben, eingeladen hatte. Es war ein glorreicher Schmaus. Da gab es geräucherte Lachse, finnländische Schellfische, Lammköpfe und Hachis – ein berühmtes schottisches Gericht, meine Herren, von dem mein Onkel zu sagen pflegte, wenn es auf den Tisch kam, es komme ihm vor wie ein Götterfraß; – außerdem noch eine Menge andere Sachen, deren Namen ich vergessen habe, übrigens jedenfalls lauter gute Sachen. Die Mädchen waren hübsch und munter, die Frau des Baillies eines der besten Geschöpfe, die je gelebt haben, und mein Onkel in seiner besten Stimmung. Die Folge war, daß die jungen Damen in einem fort kicherten, die alte Dame laut lachte, der Baillie und die andern alten Kumpane aber die ganze Zeit über brüllten und schrien, bis sie feuerrot wurden. Ich kann nicht mit Bestimmtheit angeben, wieviel Humpen Toddy-Whisky jeder der Herren nach dem Essen trank, aber soviel weiß ich, daß etwa um ein Uhr nach Mitternacht der erwachsene Sohn des Baillie kaum mehr lallen konnte, als er den ersten Vers des Liedes: ›Wilhelm braut ein gut Getränk usw.‹ zu singen versuchte. Da mein Onkel nun schon eine halbe Stunde neben diesem Sohn der einzige über dem Mahagonitisch noch sichtbare Mann gewesen war, so fiel es ihm ein, es möchte Zeit sein aufzubrechen, besonders da sie schon um sieben Uhr zu trinken angefangen hatten, damit er zeitig nach Hause kommen möchte. Indessen meinte er doch, es dürfte nicht ganz höflich sein, sich gerade in diesem Augenblick zu entfernen. Er ernannte sich daher zum Präsidenten, mischte sich noch ein Glas, stand auf, um seine eigene Gesundheit auszubringen, hielt eine wohlgesetzte und sehr schmeichelhafte Rede auf sich selbst und trank den Toast mit großem Enthusiasmus. Da niemand mehr wachte, so nahm mein Onkel noch ein Tröpfchen zu sich, aber diesmal lauter und unvermischt, damit der Whisky ihm nicht verleidet werden möchte. Schließlich faßte er doch einen festen Entschluß, griff nach seinem Hut und wankte auf die Straße hinaus.

Es war eine wilde stürmische Nacht, als mein Onkel die Tür des Baillie schloß; er drückte den Hut fest auf den Kopf, damit ihn der Wind nicht nehme, steckte die Hände in die Taschen, schaute nach dem Himmel und nahm eine kurze Inspektion über den Zustand des Wetters vor. Die Wolken trieben in der schwindelndsten Eile über den Mond hin und verdunkelten ihn bald völlig; bald ließen sie ihn in seinem vollen Glanze hervorleuchten und über alle Gegenstände ringsum sein Licht verbreiten. Unmittelbar darauf aber jagten sie wieder mit vermehrter Schnelligkeit über ihn hin und verhüllten alles in Dunkel. ›Wahrhaftig, das will mir nicht gefallen‹, sagte mein Onkel, indem er das Wetter anredete, als fühlte er sich persönlich von ihm beleidigt. ›Das paßt durchaus nicht zu meiner Reise; nein, das geht wahrhaftig nicht‹, fügte er mit großem Nachdruck hinzu. Nachdem er diese Worte mehrere Male wiederholt, gewann er mit einiger Mühe sein Gleichgewicht wieder – er war nämlich durch sein langes Hinaufsehen an den Himmel schwindlig geworden – und ging vergnügt seines Wegs.

Der Baillie wohnte in Canongate, und mein Onkel mußte eine ganze Meile weit ausschreiten bis zum andern Ende von Leith Walk. Auf beiden Seiten schossen hohe, schmale, zuweilen einzelnstehende Häuser gegen den schwarzen Himmel empor mit verwitterten Vorderseiten und Fenstern, die das Los der Menschenaugen geteilt zu haben, d. h. vor Alter düster geworden und eingesunken zu sein schienen. Sechs, sieben, acht Stock hoch waren die Häuser; Stockwerk auf Stockwerk gehäuft, wie Kinder mit Karten bauen. – Sie warfen ihren düsteren Schatten über die rauh gepflasterten Straßen und machten die Nacht noch finsterer. Einige wenige Öllampen hingen in langen Zwischenräumen hier und da, dienten aber nur dazu, den schmutzigen Eingang in irgendein schmales Gäßchen zu bezeichnen, oder zu zeigen, wie irgendein steiler und verwickelter Steg wieder auf die verschiedenen ebenen Wege führte. All das mit der Miene eines Mannes betrachtend, der so etwas schon zu oft gesehen hat, um sie einer Beachtung wert zu finden, ging mein Onkel, die Daumen in seiner Westentasche, mitten auf der Straße dahin, sang dabei von Zeit zu Zeit zu seiner Unterhaltung allerlei Liedchen, und zwar so kräftig und wohlgemut, daß die ruhigen, ehrsamen Leute aus ihrem ersten Schlaf aufschraken und zitternd im Bette lagen, bis die Töne in der Ferne erstarben. Dann trösteten sie sich mit dem Gedanken, es sei wohl nur irgendein betrunkener Taugenichts, der den Weg nach Hause suche, deckten sich warm zu und versanken wieder in den Schlaf.

Wenn ich so weitläufig erzähle, wie mein Onkel mit den Daumen in seinen Westentaschen mitten auf der Straße einherwandelte, so geschieht das deshalb, meine Herren, weil, wie er, und zwar mit allem Recht, zu sagen pflegte, an der ganzen Geschichte nichts Außerordentliches ist, wenn man sich nicht gleich im Anfang gehörig merkt, daß er keineswegs in einer zum Wunderbaren geneigten oder romantischen Stimmung war.

Mein Onkel wandelte also mit seinen Daumen in den Westentaschen dahin, indem er die Mitte der Straße einnahm, bald einen Vers aus einem Liebes-, bald aus einem Trinkliede sang, und wenn er beides genug hatte, gar melodisch pfiff, bis er die Nordbrücke erreichte, die hier die Alt- und Neustadt von Edinburg verbindet. Er stand eine Minute lang still, um die seltsam unregelmäßige Masse von übereinanderhängenden Lichtern zu betrachten, die in der Entfernung meist so hoch in der Luft flimmerten, daß sie aussahen wie Sterne, die von den Kastellmauern auf der einen und von dem Caltonhill auf der andern Seite herabfunkelten. Es war, als ob sie wirkliche Kastelle in der Luft beleuchteten, während die alte malerische Stadt unten in Dunkel und Finsternis schwer schlief. Der Palast und die Kapelle von Holyrood aber, die, wie ein Freund meines Onkels zu sagen pflegte, Tag und Nacht von des alten Arthurs Sitz aus bewacht werden, ragte düster und finster wie ein grämlicher Genius über die bejahrte Stadt hin, die er so lange gehütet. Hier, meine Herren, blieb also mein Onkel eine Minute lang stehen, um sich umzuschauen. Dann machte er dem Wetter, das sich, obgleich der Mond im Untergehen war, ein wenig aufgeklärt hatte, sein Kompliment und schritt so königlich wie vorher wieder weiter, mit großer Würde die Mitte der Straße behauptend und um sich blickend, als wünschte er gar sehr auf jemand zu stoßen, der ihm den Besitz dieser Straßenmitte streitig machen wollte. Zufälligerweise zeigte jedoch niemand Lust zu diesem Kampfe, und so zog er mit den Daumen in seinen Westentaschen friedlich wie ein Lamm dahin.

Als mein Onkel das Ende von Leith Walk erreichte, mußte er über einen ziemlich großen, unangebauten Platz schreiten, der ihn von einer kurzen nach seiner Wohnung führenden Straße trennte. Auf diesem unangebauten Platze befand sich dazumalen eine Einfriedigung, die einem Wagenbauer gehörte. Dieser pflegte der Post ihre alten abgenutzten Kutschen abzukaufen. Da nun mein Onkel eine besondere Vorliebe für Kutschen, alte, junge oder mittelalterliche hatte, so kam ihm auf einmal der Gedanke, von seiner Straße ein bißchen abzugehen, um sich durch die Pfahleinfriedigung hindurch diese Kutschen anzusehen. Er glaubte deren ungefähr ein Dutzend in einem höchst verwahrlosten Zustand und teilweise zertrümmert in dem genannten Raum zu bemerken. Mein Onkel war ein sehr enthusiastisches, kurz angebundenes Menschenkind, meine Herren. Als er merkte, daß er durch die Umzäunung nicht gut hindurchsehen konnte, kletterte er über sie hinein, setzte sich ganz ruhig auf eine alte Wagenachse und begann mit großem Ernst, sich die Postkutschen zu betrachten.

Es mochten ein Dutzend oder auch ein paar mehr sein – mein Onkel kam über diesen Punkt nie ganz ins reine, und da er in Beziehung auf Zahlen ein Mann von peinlicher Wahrheitsliebe war, so sprach er sich nicht bestimmt darüber aus – aber da standen sie alle, in der trostlosesten Lage durcheinander gerückt, die man sich nur denken kann. Die Türen waren aus den Angeln gerissen und fehlten, das Futter war gleichfalls abgerissen, und nur noch dann und wann hing ein Läppchen an einem rostigen Nagel. Die Laternen waren dahin, die Deichseln schon längst verschwunden, das Eisen rostig, die Farbe abgeschabt; der Wind pfiff durch die Ritzen des entblößten Holzwerks, in den Dächern hatte sich der Regen gesammelt und fiel in hohlem melancholischem Ton tropfenweise hinein. Es waren nur noch die zerfallenen Skelette dahingeschwundener Postkutschen; und an diesem einsamen Orte, um diese Zeit der Nacht, sahen sie gar düster und jammervoll aus.

Mein Onkel stützte den Kopf auf seine Hände und gedachte der geschäftigen, unruhigen Leute, die vor Jahren in den alten Kutschen dahingerasselt und jetzt ebenfalls schweigsam und ganz verändert waren. Er gedachte der zahllosen Leute, denen eines dieser gebrechlichen, vermoderten Fuhrwerke viele Jahre lang Nacht um Nacht und bei jedem Wetter die ängstlich erwartete Kunde, den sehnsüchtig verlangten Wechsel, die versprochene Versicherung der Gesundheit und des Wohlseins, die plötzliche Nachricht von Krankheit und Tod gebracht hatte. Der Kaufmann, der Liebhaber, die Gattin, die Witwe, die Mutter, der Schulknabe, das Kind, das beim Klopfen des Briefträgers nach der Tür hintrippelte – wie neugierig hatten sie alle der Ankunft der alten Kutsche entgegengesehen! und wo waren sie jetzt alle??

Meine Herren, mein Onkel pflegte zu sagen, daß er damals an all das gedacht habe; allein ich vermute eher, daß er es nachher in einem Buche gelesen, denn er erklärte selbst ganz ausdrücklich, daß er, wie er so auf der alten Wagenachse saß und die zerfallenen Postkutschen betrachtete, in eine Art Dösen versunken sei. Daraus hätten ihn plötzlich die dumpfen Töne der Kirchenuhr geweckt, die zwei geschlagen. Überdies war mein Onkel niemals ein gewaltiger Denker, und wenn er an alle diese Sachen gedacht hätte, so bin ich überzeugt, daß solche Gedanken ihn wenigstens bis halb drei Uhr beschäftigt haben würden. Deshalb, meine Herren, bin ich entschieden der Ansicht, daß mein Onkel eingedöst ist, ohne an derlei zu denken.

Dem sei nun, wie es wolle, eine Kirchenuhr schlug zwei. Mein Onkel erwachte, rieb sich die Augen und sprang verwundert auf.

In dem Augenblick, da die Glocke ausgeschlagen hatte, verwandelte sich dieser ruhige und verlassene Platz auf einmal in eine Szene von Leben und Bewegung. Die Kutschentüren waren in den Angeln, das Futter ganz in Ordnung, das Eisenwerk so gut wie neu, die Farben wieder hergestellt, die Laternen brannten, Kissen und große Mäntel lagen auf jedem Bock; die Packer steckten Pakete in die Kutschenschläge, die Schaffner verwahrten ihre Briefe, die Hausknechte schütteten Kübel voll Wasser über die frischen Räder, viele Leute stürzten herbei und merkten sich die betreffende Kutsche; Passagiere kamen, die Koffer wurden aufgepackt, die Pferde angespannt; kurzum, es war vollkommen klar, daß jede Kutsche sogleich abfahren mußte. Mein Onkel sperrte ob alledem die Augen so weit auf, daß er bis zum letzten Augenblick seines Lebens zu sagen pflegte, er wundere sich nur, wie er imstande gewesen sei, sie wieder zu schließen.

›He da‹, sagte eine Stimme, und mein Onkel fühlte eine Hand auf seiner Schulter. ›Sie haben ein Billett auf einen inneren Platz. Steigen Sie ein.‹

›Ich ein Billett?‹ rief mein Onkel, sich umwendend.

›Freilich.‹

Mein Onkel konnte kein Wort sprechen, denn er war vor Erstaunen ganz außer sich. Das närrischste an der Sache aber war, daß bei all dem Gedränge, und obgleich jeden Augenblick neue Gesichter auftauchten, doch niemand sagen konnte, woher sie kamen; sie schienen auf irgendeine seltsame Art aus dem Boden zu wachsen oder aus der Luft herabzukommen und ebenso wieder zu verschwinden. Wenn ein Packknecht sein Gepäck in die Kutsche gelegt und sein Trinkgeld empfangen hatte, wandte er sich um und war fort. Ehe mein Onkel recht angefangen hatte, sich zu verwundern, was aus ihm geworden sei, traten einhalb Dutzend frische auf und wankten unter der Last von Koffern, die schwer genug schienen, daß sie darunter hätten zusammenbrechen können, einher. Die Passagiere waren ebenfalls sonderbar gekleidet – weite, breit gesäumte Tressenröcke mit großen Aufschlägen und ohne Kragen und Perücken, meine Herren – große förmliche Perücken mit einem Knoten hinten. Mein Onkel konnte nicht klug daraus werden.

›Nun, werden Sie bald einsteigen?‹ fragte der Mann, der meinen Onkel zuerst angeredet hatte. Er war wie ein Schaffner gekleidet, hatte eine Perücke auf dem Kopf, ungeheure Ärmelaufschläge an dem Rock und in der einen Hand eine Laterne, in der andern eine gewaltige Doppelbüchse, die er eben in seinen kleinen Sack stecken wollte. ›Werden Sie bald einsteigen, Jack Martin?‹, sagte er und hielt meinem Onkel die Laterne vors Gesicht.

›Ei, der Teufel!‹ sagte mein Onkel, ein paar Schritte zurücktretend; ›das nenne ich wirklich sehr vertraulich.‹

›Es steht so im Passagierverzeichnis‹, erwiderte der Schaffner.

›Und steht kein Herr davor?‹ fragte mein Onkel – denn er fühlte, meine Herren, daß es sich für einen Schaffner, den er gar nicht kannte, keineswegs schicke, ihn schlechtweg Jack Martin anzureden, und daß das Postamt diese Freiheit gewiß nicht gutheißen würde, wenn er das anzeigte.

›Nein‹, erwiderte der Schaffner kaltblütig.

›Ist für mich bezahlt?‹ fragte mein Onkel.

›Versteht sich‹, erwiderte der Schaffner.

›So, so; schon gut‹, sagte mein Onkel. ›In welcher Kutsche fahre ich?‹

›In dieser da‹, entgegnete der Schaffner, auf eine altmodische Edinburg-Londoner Postkutsche deutend, wo der Tritt bereits heruntergelassen war und die Tür offen stand. ›Doch halt – da sind die andern Passagiere; lassen Sie diese zuerst einsteigen.‹

Als der Schaffner so sprach, erschien auf einmal gerade vor meinem Onkel ein junger Gentleman in einer bepuderten Perücke und einem himmelblauen silberbordierten Rock mit vollen breiten Schößen, die mit Steifleinwand gefüttert waren. Auf dem gedruckten Kattun und im Westenfutter stand Tiggin und Welps zu lesen, meine Herren, und so kannte mein Onkel sämtliche Stoffe im Augenblick. Der junge Mann trug Kniehosen, eine Art Gamaschen über seinen seidenen Strümpfen und Schnallenschuhe. Um seine Handgelenke kräuselten sich Manschetten, und auf dem Kopfe hatte er einen dreieckigen Hut, während an seiner Seite ein langer, spitzer Degen hing. Die Flügel seiner Weste reichten ihm bis über die Hälfte der Schenkel hinab, und die Zipfel seines Halstuches hingen bis an die Mitte des Leibes hinunter. Er schritt gravitätisch auf den Kutschenschlag zu, nahm seinen Hut ab, hielt ihn auf Armlänge über den Kopf empor und streckte dabei seinen kleinen Finger in die Luft, wie Gecken manchmal tun, wenn sie eine Tasse Tee nehmen. Darauf rückte er die Hacken zusammen, machte eine tiefe, steife Verbeugung und streckte dann seine linke Hand aus. Mein Onkel war eben im Begriff vorzutreten und sie herzlich zu schütteln, als er bemerkte, daß diese Aufmerksamkeit nicht an ihn gerichtet war, sondern an eine junge Dame in einem altmodischen Samtkleid mit langer Taille und einem ebensolchen Brustlatz, die soeben an dem Kutschentritte erschien. Sie hatte keinen Hut auf dem Kopfe, meine Herren, dafür jedoch eine schwarze seidene Haube. Aber sie sah sich einen Augenblick um, als sie Anstalten machte, in die Kutsche zu steigen, und ein so schönes Gesicht, wie sie zeigte, hatte mein Onkel noch nie gesehen, nicht einmal auf einem Gemälde. Sie stieg endlich wirklich ein, wobei sie mit einer Hand das Kleid aufhob, und mein Onkel beteuerte jedesmal, wenn er diese Geschichte erzählte, mit feierlichem Schwur, er hätte es nie für möglich gehalten, daß Beine und Füße einen solchen Grad von Vollkommenheit erlangen könnten, wenn er diese nicht mit eigenen Augen gesehen hätte.

Aber bei diesem einzigen Lichtstrahl des schönen Gesichtes sah mein Onkel, daß die junge Dame einen flehenden Blick auf ihn geworfen hatte, und daß sie äußerst betrübt und niedergeschlagen aussah. Er bemerkte auch, daß sie der junge Mann mit der bepuderten Perücke, trotz seiner scheinbaren Galanterie, die allerdings sehr fein und großartig war, fest beim Handgelenk faßte, als sie einstieg, weshalb er ihr unmittelbar nachfolgte. Ein Kerl von äußerst boshaftem Aussehen, mit einer dunkelbraunen Perücke, einem pflaumfarbigen Rock, einem gewaltigen Schwert an der Seite und Stiefeln, die ihm bis an die Hüften reichten, gehörte ebenfalls zu der Gesellschaft. Als er sich nun unmittelbar neben die junge Dame setzte, die sich bei seiner Annäherung in eine Ecke zusammendrückte, da bestätigte sich meinem Onkel sein ursprünglicher Eindruck, daß hier irgendeine geheimnisvolle finstere Tat im Werk sein müsse, oder wie er sich gewöhnlich ausdrückte, daß es hier nicht ganz geheuer sein könne. Es verdient wirklich Bewunderung, wie schnell er den Beschluß faßte, auf jede Gefahr hin der Dame Hilfe zu leisten, wenn sie ihrer bedürfen sollte.

›Tod und Blitz!‹ rief der junge Gentleman, an sein Schwert schlagend, als mein Onkel in die Kutsche stieg.

›Donner und Blut!‹ brüllte der andere Gentleman.

Zugleich riß er sein Schwert aus der Scheide und machte ohne weitere Umstände einen Ausfall auf meinen Onkel. Mein Onkel hatte keine Waffen bei sich, aber mit großer Gewandtheit riß er dem boshaft aussehenden Gentleman seinen dreieckigen Hut von dem Kopf, fing die Spitze des Schwertes mit der Krone dieses Hutes auf, drückte dann die Seiten zusammen und hielt die Klinge damit fest.

›Durchbohren Sie ihn von hinten!‹ schrie der Kerl mit der Galgenphysiognomie seinem Begleiter zu, während er sich bemühte, sein Schwert wieder an sich zu reißen.

›Er wird gut tun, das bleiben zu lassen‹, rief mein Onkel, indem er den Absatz eines seiner Stiefel mit drohender Gebärde schwang. ›Ich schlage ihm das Hirn aus dem Kopf, wenn er welches darin hat, oder zermalme ihm wenigstens den Schädel, wenn er keines hat.‹

Dabei nahm mein Onkel seine ganze Kraft zusammen, riß dem Kerl mit der Galgenphysiognomie das Schwert aus der Hand und warf es geradezu zum Kutschenfenster hinaus, worauf der junge Gentleman abermals Tod und Blitz rief und mit ingrimmiger Gebärde auf das Heft seines Degens schlug, dasselbe aber nicht zog. Vielleicht, meine Herren – (pflegte mein Onkel lächelnd zu sagen) vielleicht fürchtete er, der Dame Angst zu machen.

›Nun, meine Herren‹, sagte mein Onkel, indem er mit vieler Ruhe seinen Platz einnahm, ›ich wünsche nicht, daß in Gegenwart einer Dame mit oder ohne Blitz ein Todesfall vorkäme. Blut und Donner haben wir für eine Reise jetzt schon genug gehabt; wenn es Ihnen also gefällig ist, so wollen wir uns wie friedliebende Postwagenpassagiere auf unsere Plätze setzen. He da, Schaffner, geben Sie doch das kleine Käsemesser des Gentlemans herein!‹

Sobald mein Onkel diese Worte gesagt hatte, erschien der Schaffner an der Kutschentür mit des Gentlemans Schwert in der Hand. Er hielt seine Laterne empor und blickte dabei meinem Onkel ernst ins Gesicht, und mein Onkel sah bei diesem Lichte zu seiner großen Verwunderung, daß eine riesige Menge Schaffner um den Wagen herumschwärmte, die ihn sämtlich ebenso fest ins Auge faßte. Er hatte zeitlebens noch nie ein solches wogendes Meer von weißen Gesichtern, roten Körpern und ernsthaften Augen gesehen.

›So etwas Wunderbares ist mir doch noch nie vorgekommen‹, dachte mein Onkel – ›erlauben Sie mir, Ihnen Ihren Hut zurückzugeben, Sir!‹

Der boshaft blickende Gentleman nahm seinen dreieckigen Hut schweigend zurück, betrachtete mit forschender Miene das Loch in der Mitte und steckte ihn endlich auf die Spitze seiner Perücke mit einer Feierlichkeit, deren Wirkung jedoch durch ein plötzliches, heftiges Niesen etwas geschwächt wurde; denn infolgedessen purzelte der Hut wieder herunter.

›Alles in Ordnung!‹ rief der Schaffner, mit der Laterne auf seinen kleinen Sitz hinten hinaufsteigend, und nun fuhren sie ab.

Mein Onkel sah zum Kutschenfenster hinaus, als sie vor den Posthof hinauskamen, und bemerkte, daß die andern Kutschen samt den Postillionen, Schaffnern, Pferden und Passagieren fortwährend in einem langsamen Trott, so daß sie etwa fünf Meilen in der Stunde zurückgelegt hätten, im Kreise herumfuhren. Meine Herren, da entbrannte mein Onkel vor Entrüstung. Als Handelsmann fühlte er, daß man mit den Postpaketen nicht so fahrlässig umgehen dürfe, und er beschloß, unmittelbar nach seiner Ankunft in London dem Postamt die gebührende Anzeige davon zu machen.

Für den Augenblick waren jedoch seine Gedanken mit der jungen Dame beschäftigt, die in der äußersten Ecke der Kutsche saß und ihr Gesicht gänzlich in ihre Haube gehüllt hatte. Der Gentleman im himmelblauen Rocke saß ihr gerade gegenüber, der andere Herr mit dem pflaumfarbigen Kleid an ihrer Seite, und beide beobachteten sie sehr genau. Wenn sie nur die geringste Bewegung machte, wenn nur die Falten ihrer Haube ein wenig sich bewegten, so konnte er den boshaft aussehenden Mann an sein Schwert schlagen hören und aus dem Schnauben des andern (es war nämlich so dunkel, daß er dessen Gesicht nicht sehen konnte) entnehmen, daß jener sich so wütend gebärdete, als wollte er sie mit Haut und Haar verschlingen. Dies machte meinen Onkel immer aufmerksamer, und er beschloß, es komme was da wolle, das Ende der Geschichte mit anzusehen. Er hegte eine große Bewunderung für glänzende Augen, süße Gesichtchen und hübsche Beine; kurz, er war in das ganze schöne Geschlecht verliebt. Es liegt das so in unserer Familie, meine Herrn; mir ergeht es auch nicht anders.

Mein Onkel kam auf eine Menge listiger Erfindungen, um die Aufmerksamkeit der Dame auf sich zu ziehen, oder jedenfalls mit dem geheimnisvollen Herrn ein Gespräch anzuknüpfen. – Allein vergeblich. Die Herren wollten nichts sprechen und die Dame wagte es nicht. Er steckte von Zeit zu Zeit den Kopf zum Kutschenfenster hinaus und schrie die Postillione an, warum sie nicht schneller führen. Er schrie sich heiser; aber niemand widmete ihm die geringste Aufmerksamkeit. Er lehnte sich in die Kutsche zurück und dachte an das schöne Gesicht, an die schönen Beine. Das schlug besser an; es vertrieb ihm die Zeit und verscheuchte den Gedanken, wohin es gehe und in welch sonderbarer Lage er sich befinde. Doch hätte er sich auch darüber nicht sehr gegrämt, denn, meine Herren, mein Onkel war ein gewaltig lustiger und leichtfertiger Kamerad, der sich um keinen Teufel scherte.

Auf einmal hielt die Kutsche an.

›He da!‹ rief mein Onkel, ›schon an Ort und Stelle?‹

›Ja‹, sagte der Schaffner, indem er die Tritte hinunterließ, ›steigen Sie aus.‹

›Hier?‹ rief mein Onkel.

›Ja‹, erwiderte der Schaffner.

›Das tue ich nicht‹, sagte mein Onkel.

›Nun gut, so bleiben Sie, wo Sie sind‹, erklärte der Schaffner.

›Das werde ich auch‹, sagte mein Onkel.

›Meinetwegen‹, erwiderte der Schaffner.

Die andern Passagiere hatten dieses Zwiegespräch sehr aufmerksam mit angehört, und da sie fanden, daß mein Onkel entschlossen war, nicht auszusteigen, so drückte sich der jüngere Herr an ihm vorüber, um der Dame hinauszuhelfen. In diesem Augenblick besichtigte der boshaft aussehende Mann das Loch in der Spitze seines Dreimasters. Als die junge Dame an meinem Onkel vorüberhuschte, ließ sie einen ihrer Handschuhe in seine Hand fallen und flüsterte ihm mit ihren Lippen so nahe an seinem Gesicht, daß er ihren warmen Atem an seiner Nase spürte, das einzige Wörtchen: ›Hilfe!‹ zu. Jetzt, meine Herren, sprang mein Onkel auf einmal mit solcher Heftigkeit hinaus, daß die Kutsche in ihren Federn schwankte.

›So, haben Sie sich eines Besseren besonnen?‹ sagte der Schaffner, als er meinen Onkel auf dem Boden stehen sah.

Mein Onkel blickte den Schaffner einige Sekunden lang an, etwas zweifelhaft, ob es nicht besser wäre, ihm seine Doppelbüchse aus der Hand zu reißen, den Mann mit dem großen Schwert niederzuschießen, den andern mit dem Kolben niederzuschlagen, die junge Dame in seine Arme zu nehmen und sich wie der Blitz mit ihr aus dem Staube zu machen. Bei näherer Überlegung gab er jedoch diesen Plan auf, weil ihm seine Ausführung um einen Schatten zu melodramatisch vorkam, und folgte den beiden geheimnisvollen Herren, die, die Dame in ihrer Mitte, gerade in ein altes Haus traten, vor dem die Kutsche angehalten hatte. Sie lenkten in die Hausflur ein, und mein Onkel hielt sich dicht hinter ihnen.

Mein Onkel hatte schon viele trostlos verfallene Häuser gesehen, aber noch keines so wie dieses. Dem Anschein nach mußte es früher ein großes Wirtshaus gewesen sein. Allein das Dach war an manchen Stellen eingefallen und die Treppen waren steil, holperig und zerbrochen. In dem Zimmer, worein sie traten, befand sich ein ungeheurer Ofensitz, der Kamin war von Rauch geschwärzt, aber es brannte kein Feuer darin. Der weiße leichte Staub von verbranntem Holz war noch über den Herd gestreut, aber der Ofen war kalt und alles finster und düster.

›Schön‹, sagte mein Oheim, als er um sich blickte, ›eine recht saubere Einrichtung, daß man sechs und eine halbe Stunde lang in einer Postkutsche gefahren ist und dann auf unbestimmte Zeit in einer solchen Höhle anhalten soll. Das muß bekanntgemacht werden; ich setze es in die Zeitungen.‹

Mein Onkel sagte das mit ziemlich lauter Stimme und in offener, rückhaltloser Manier, um womöglich mit den zwei Fremdlingen ein Gespräch anzuknüpfen. Aber keiner von beiden nahm Notiz von ihm, außer daß sie einander zuflüsterten und ihm dabei finstere Blicke zuwarfen. Die Dame war am andern Ende des Zimmers, und einmal wagte sie es, ihre Hand zu bewegen, als ob sie meinen Onkel um Beistand anflehte.

Endlich näherten sich die beiden Fremden ihm etwas und die Unterhaltung begann wirklich.

›Sie scheinen nicht zu wissen, Kerl, daß dies ein Privatzimmer ist‹, redete ihn der Gentleman mit dem himmelblauen Rock an.

›Nein, ich weiß es nicht, Kerl‹, antwortete mein Onkel; ›wenn dies übrigens ein besonders für die Reisenden eingerichtetes Privatzimmer ist, dann muß das Gastzimmer wohl höchst lieblich und bequem sein.‹

Mit diesen Worten setzte sich mein Onkel auf einen hochlehnigen Stuhl und maß den Gentleman so genau mit den Augen, daß er der Schneiderfirma Tiggin und Welps bloß nach dieser Schätzung genau hätte angeben können, wieviel Stoff sie bei einem Rock für diesen Gentleman hätten reservieren müssen. Da wäre kein Zoll zu viel noch zu wenig gewesen.

›Verlassen Sie das Zimmer‹, sagten die beiden Männer, nach ihren Degen greifend.

›Was sagen Sie?‹ bemerkte mein Onkel, der sich stellte, als ob er ihre Aufforderung schlechterdings nicht begriffe.

›Verlassen Sie das Zimmer oder Sie sind ein Mann des Todes‹, sprach der boshaft Blickende mit dem großen Degen, indem er ihn sogleich zog und in der Luft schwang.

›Nieder mit ihm!‹ rief der Himmelblaue, indem er ebenfalls seinen Degen zog und zwei oder drei Schritte ausfiel, ›nieder mit ihm!‹ Die Dame stieß einen lauten Schrei aus.

Nun hatte sich mein Onkel von jeher durch großen Mut und ungewöhnliche Geistesgegenwart ausgezeichnet. Er hatte sich diese Zeit über zwar scheinbar vollkommen gleichgültig verhalten, aber dabei listigerweise immer nach irgendeiner Verteidigungswaffe umgesehen und in dem Augenblick, wo die Degen gezogen wurden, wirklich im Kaminwinkel ein altes Rapier mit einem Korb und in einer rostigen Scheide erspäht. Mit einem Sprung hatte es mein Onkel in der Hand, zog es, schwang es tapfer über seinem Kopfe, rief der Dame laut zu, sie möchte auf die Seite treten, schleuderte nach dem Himmelblauen den Stuhl, nach dem Pflaumfarbigen die Scheide, benutzte dann die Verwirrung, über beide herzufallen, und hieb wacker auf sie los.

Meine Herren, es ist eine alte Geschichte, und deshalb ist sie nicht schlechter, weil sie wahr ist: nämlich, daß ein junger irischer Gentleman auf die Frage, ob er die Geige spielen könne, zur Antwort gab, er zweifle nicht daran, vermöge es jedoch nicht mit Bestimmtheit zu sagen, da er es noch nie versucht habe. Diese Geschichte paßt einigermaßen auf meinen Onkel und sein Fechten. Er hatte nie zuvor einen Degen in seiner Hand gehabt, außer ein einzigesmal, als er auf einem Privattheater Richard III. spielte. Dabei war mit Richmond verabredet worden, daß er von hinten durchrannt werden solle, ohne vorher überhaupt fechten zu müssen. Aber hier stieß und hieb er sich mit zwei erfahrenen Fechtern herum, schlug und parierte, fiel aus und voltierte, und erwies sich dabei überhaupt so mannhaft und gewandt wie möglich, obgleich er bis auf diesen Augenblick nicht gewußt, daß er auch nur den geringsten Begriff von dieser Kunst habe. Ein mächtiger Beweis für die Wahrheit des alten Sprichworts: Probieren gehe über Studieren.

Der Kampf verursachte einen schrecklichen Lärm, da alle drei wie Matrosen fluchten und ihre Degen mit solcher Macht gegeneinander schlugen, daß es sich anhörte, als rasselten auf einmal alle Messer und Stähle auf dem Newportmarkt zusammen. Als das Gefecht am hitzigsten war, zog die Dame, höchstwahrscheinlich um meinen Onkel zu ermutigen, ihre Haube ganz von ihrem Gesichte weg und enthüllte ein Antlitz von solch blendender Schönheit, daß er gerne mit fünfzig Männern gefochten hätte, nur um ihm ein Lächeln abzugewinnen und dann zu sterben. Er hatte schon vorher Wunder getan, jetzt aber fing er an, sich anzustrengen wie ein rasender Riese.

In diesem Augenblick wandte sich der Himmelblaue um, und als er die junge Dame mit enthülltem Gesicht sah, stieß er vor Wut und Eifersucht einen Schrei aus, wandte seine Waffe gegen ihren schönen Busen und stieß nach ihrem Herzen. Mein Onkel schrie vor Angst um sie dermaßen, daß das ganze Haus widerhallte. Die Dame aber trat schnell auf die Seite, riß dem jungen Mann den Degen aus der Hand, bevor er sein Gleichgewicht wiedererhalten hatte, trieb ihn an die Wand und stieß ihm den Degen bis ans Heft in den Leib, so daß die Klinge noch in das Täfelwerk drang und er selbst festgespießt war. Das war einmal ein glänzendes Exempel. Mein Onkel nötigte mit einem lauten Triumphgeschrei und unwiderstehlicher Kraft seinen Gegner, in gleicher Richtung zurückzuweichen, stieß ihm das alte Rapier mitten durch eine große rote Blume in seiner Weste und spießte ihn neben seinen Freund an die Wand, so daß die beiden Gentlemen dastanden und im Todeskampf mit ihren Armen und Beinen zappelten, gleich Marionettenfiguren, die man am Faden tanzen läßt. Mein Onkel sagte nachher immer, dies sei eines der sichersten Mittel, die er wisse, um einen Feind loszuwerden, nur sei wegen des Kostenpunktes etwas einzuwenden, da jedesmal dabei ein Degen verlorengehe.

›Die Kutsche! die Kutsche!‹ rief die Dame, indem sie auf meinen Onkel zurannte und ihm ihren schönen Arm um seinen Nacken warf; ›wir können vielleicht entfliehen.‹

Vielleicht?‹ sagte mein Onkel. ›Wie meine Teuerste, ist noch einer umzubringen?‹

Mein Onkel war etwas ärgerlich, ihr Herren, denn er hatte gedacht, nach dem Gemetzel würde es sehr angenehm sein, in der Ruhe ein bißchen der Liebe zu pflegen, und wäre es auch nur um der Abwechslung willen.

›Wir dürfen hier keinen Augenblick verlieren‹, sagte die junge Dame. ›Er (dabei deutete sie auf den jungen Herren im himmelblauen Rock) ist der einzige Sohn des mächtigen Marquis von Filletoville.‹

›Schon gut, meine Teuerste; ich fürchte nur, er wird nie seinen Titel erlangen‹, sagte mein Onkel, indem er gleichgültig nach dem jungen Herrn blickte, der in der oben beschriebenen Maikäfermanier an die Wand gespießt dastand. ›Sie haben ihm die Erbfolge abgeschnitten, meine Liebe.‹

›Diese Schurken haben mich von meinem Haus und meinen Freunden fortgerissen‹, erklärte die junge Dame, indem ihre Züge vor Entrüstung glühten. ›Der Elende wollte mich in der nächsten Stunde mit Gewalt heiraten.‹

›Pfui über seine Unverschämtheit‹, sagte mein Onkel, indem er einen höchst verächtlichen Blick auf den sterbenden Erben von Filletoville warf.

›Wie Sie aus dem Gesehenen schließen können‹, fuhr die junge Dame fort, ›ist die Rotte entschlossen, mich zu ermorden, sobald Sie jemand zum Beistand auffordern. Wenn ihre Spießgesellen uns hier finden, so sind wir verloren. In zwei Minuten kann es zu spät sein. Ach, die Kutsche! –‹

Und mit diesen Worten sank sie, überwältigt von ihren Gefühlen und der Anstrengung, den jungen Marquis von Filletoville aufzuspießen, meinem Onkel in die Arme. Mein Onkel fing sie auf und trug sie an die Tür. Da stand der Wagen mit vier langgeschweiften, flattermähnigen, schwarzen Rossen bereits aufgeschirrt; aber weit und breit waren weder Postillione, noch Schaffner, noch Hausknecht zu schauen.

Meine Herren, ich hoffe, das Andenken meines Oheims nicht zu beschimpfen, wenn ich die Meinung ausspreche, daß er, obgleich ein Junggeselle, schon vorher mehr als eine Dame im Arm gehabt hatte; ich glaube in der Tat, daß es eine Gewohnheit von ihm war, die Kellnerinnen zu küssen; und es sind mir mehrere Beispiele bekannt, daß glaubwürdige Zeugen es gesehen haben, wie er auf eine sehr wahrnehmbare Weise eine Wirtin umarmte. Ich erwähne das, um zu zeigen, welch eine höchst ungewöhnliche Art von Frauenzimmer diese schöne junge Dame gewesen sein muß, um auf meinen Oheim einen solchen Eindruck zu machen. Als ihr langes Haar über seinen Arm herabhing und ihre schönen schwarzen Augen, nachdem sie wieder erwacht, sich auf sein Gesicht hefteten, wäre es ihm, wie er bekannte, so sonderbar zumute geworden, daß seine Beine gezittert hätten. Doch wer kann in ein süßes, sanftes, schwarzes Augenpaar sehen, ohne wundersam erregt zu werden! Ich, meine Herren, kann es nicht und scheue mich deshalb sogar, in manche Augen, die ich kenne, zu schauen, wie Sie mir aufs Wort glauben dürfen.

›Sie werden mich doch nicht verlassen‹, flüsterte die junge Dame.

›Nie‹, sagte mein Onkel, und er meinte es aufrichtig.

›Mein teurer Retter!‹ rief die junge Dame. ›Mein teurer, menschenfreundlicher, ritterlicher Beschützer!‹

›Still, still!‹ sagte mein Onkel, sie unterbrechend.

›Und warum denn?‹ fragte die junge Dame.

›Weil Ihr Mund so schön ist, wenn Sie sprechen‹, erwiderte mein Onkel, ›daß ich fürchte, ich könnte dreist genug sein, ihn zu küssen.‹

Die junge Dame hob ihre Hand auf, als wollte sie meinen Onkel warnen, es nicht zu tun, und sagte – doch nein, sie sagte nichts – sie lächelte bloß.

Wenn man auf ein Paar der wonnigsten Lippen von der Welt blickt und diese so köstlich zu einem schelmischen Lächeln aufbrechen sieht, – wenn man ihnen ganz nahe ist und sonst niemand dabei – da kann man seine Bewunderung für ihre schöne Form und Farbe nicht besser betätigen, als durch einen schnellen Kuß. Mein Onkel tat es, und ich ehre ihn dafür.

›Horch!‹ rief die junge Dame aufschreckend. ›Das Geräusch von Rädern und Rossegestampfe!‹

›Ja, es ist so‹, sagte mein Onkel lauschend.

Er hatte ein gutes Ohr für Räder und Fußtritte; aber es schienen so viele Pferde und Wagen in einiger Entfernung gegen sie herzurasseln, daß es rein unmöglich war, einen Schluß auf ihre Anzahl zu machen. Es war ein Getöse, wie von fünfzig Sechsspännern.

›Wir werden verfolgt!‹ rief die Dame, ihre Hände zusammenschlagend. ›Wir werden verfolgt und Sie sind meine einzige Hoffnung.‹

Es lag ein solcher Ausdruck des Schrecks in ihrem schönen Gesicht, daß mein Onkel sogleich seinen Entschluß faßte. Er hob sie in die Kutsche, sagte ihr, sie solle guten Mutes sein, preßte seine Lippen noch einmal auf die ihrigen, riet ihr, das Fenster zu schließen, um nicht vom Zugwind belästigt zu werden, und stieg auf den Bock.

›Warten Sie noch, mein Lieber‹, rief die junge Dame.

›Was gibt's?‹ fragte mein Onkel vom Kutschenbock aus.

›Nur noch ein Wort‹, sagte die junge Dame, ›nur noch ein einziges Wort.‹

›Muß ich hinabkommen?‹ fragte mein Onkel.

Die Dame antwortete nicht, aber sie lächelte wieder. Solch ein Lächeln, meine Herren, das geht über alles. Mein Onkel stieg in einem Augenblick von seinem Bock herab.

›Was ist's, meine Teure?‹ sagte mein Onkel, zum Kutschenfenster hineinsehend.

Die Dame beugte sich zufällig in demselben Augenblick vorwärts und mein Onkel glaubte, sie sehe schöner aus als je zuvor. Er war ihr eben jetzt ganz nahe, meine Herren, und so mußte er es wirklich wissen.

›Was ist's, meine Liebe?‹ sagte mein Onkel.

›Werden Sie auch nie eine andere lieben als mich – nie eine andere heiraten als mich?‹ fragte die junge Dame.

Mein Onkel schwur einen teuren Eid, daß er nie eine andere heiraten wolle, und die junge Dame zog ihren Kopf zurück und schloß das Fenster. Er schwang sich wieder auf den Bock, zog die Ellbogen zurück, machte sich die Leine zurecht, ergriff die Peitsche, die auf dem Dach lag, gab dem Leitroß einen Hieb, und fort flogen die vier langgeschweiften, flattermähnigen, schwarzen Pferde, fünfzehn gute englische Meilen in der Stunde, und hinter ihnen die alte Postkutsche – hui, wie sie zogen und sprangen.

Aber das Geräusch wurde immer lauter. Je schneller die alte Postkutsche dahinflog, um so schneller kamen die Verfolger – Männer, Pferde und Hunde hatten sich vereinigt, auf sie Jagd zu machen. Das Getöse war schrecklich, aber alles überragte die Stimme der jungen Dame, die in jammervollen Tönen meinem Onkel zurief: ›Schneller, schneller!‹

Mein Onkel gebrauchte Peitsche und Zügel, und die Pferde flogen dahin, bis sie weiß waren von Schaum; aber immer erschrecklicher wurde der Lärm hinter ihnen, und immer angstvoller schrie die junge Dame: ›Schneller! Schneller!‹ In der Bedrängnis dieses Augenblicks stampfte mein Onkel kräftig auf den Boden und fand – daß der Morgen graute und er selbst in dem Gerätschaftslager des Wagners auf dem Bock einer alten Edinburger Postkutsche saß, schauernd vor Kälte und Nässe und mit den Füßen stampfend, um sie zu erwärmen. Er stieg herab und sah sich eifrig nach der schönen jungen Dame um – aber ach, die Kutsche hatte weder Tür noch Sitz – sie war ein bloßer Rumpelkasten.

Natürlich sah mein Oheim sehr wohl ein, daß etwas Geheimnisvolles an der Sache sein müsse, und daß alles sich genau so ereignet hatte, wie er zu erzählen pflegte. Er blieb dem großen Eid, den er der schönen, jungen Dame geschworen, treu, schlug ihr zuliebe mehrere Wirtinnen, die er hätte wählen können, aus und starb endlich als Junggeselle. Er sagte immer, wie gar wunderbar es sei, was er durch einen bloßen Zufall, wie durch sein Klettern über das Staket, ausfindig gemacht habe, daß die Geister der Postkutschen und Pferde, der Schaffner, Postillione und Passagiere regelmäßig jede Nacht Reisen machen, und dann pflegte er hinzuzusetzen, er halte sich für die einzige lebendige Person, die jemals auf einer dieser Fahrten als Passagier mitgenommen worden sei. Ich glaube auch, daß er recht hat, meine Herren; wenigstens habe ich nie von einer andern gehört.«

»Ich möchte nur wissen, was diese Geister von Postkutschen in ihren Beuteln stecken haben«, sagte der Wirt, der die ganze Erzählung mit großer Aufmerksamkeit angehört hatte.

»Natürlich die Totenbriefe«, antwortete der Hausierer.

»Ach ja, das ist wahr«, antwortete der Wirt, »daran hatte ich nicht gedacht.«

 


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