Alphonse Daudet
Die wunderbaren Abenteuer des Tartarin von Tarascon
Alphonse Daudet

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Endlich!

Am Morgen nach diesem so abenteuerlichen und auf so tragische Weise endenden Abend erhob sich unser Held ziemlich früh von seinem Lager. Als er die unumstößliche Gewißheit erlangt hatte, daß sowohl der Prinz als auch sein ganzes Geld auf Nimmerwiedersehen entschwunden waren, als er sich allein in dieser kleinen, weißen Grabkapelle sah – verraten, bestohlen, verlassen, mitten im wilden Algerien, ganz allein mit einem dummen einhöckerigen Kamel und mit nur wenigen Franken in der Tasche, als einziger Unterstützung und Hilfe – da stiegen zum erstenmal Zweifel in der Seele des Tarasconesen auf. Er zweifelte an Montenegro, er zweifelte an der Freundschaft, er zweifelte am Ruhm, ja er zweifelte sogar an der Existenz der Löwen – und der große Mann erhob, wie Christus in Gethsemane, sein Angesicht und weinte bitterlich.

So saß er noch lange vor der Türe des Marabut in tiefes Nachdenken versunken; den Kopf in beiden Händen, das Gewehr zwischen den Knieen, und starrte vor sich hin; das Kamel sah ihn teilnahmsvoll und mitleidig an. Da plötzlich teilte sich das gegenüberliegende Gebüsch, und Tartarin erblickte, starr vor Staunen, nur zehn Schritte vor sich einen riesigen Löwen. Das Tier hob seinen mächtigen Kopf, schüttelte die Mähne und stieß ein furchtbares Gebrüll aus, daß die Mauern des Marabut, all das Flitterwerk daran und sogar die Pantoffeln des Heiligen in ihrer Nische zitterten.

Wer jetzt aber nicht zitterte, das war der Tarasconese . . .

»Endlich!« schrie er, sprang auf, riß den Kolben an die Wange – piff! paff! piff! paff! Da war's geschehen. Der Löwe hatte zwei Sprenggeschosse im Kopf . . . . eine Minute lang gab es gegen den flammenden Hintergrund des afrikanischen Himmels ein schreckliches Feuerwerk von umherspritzendem Gehirn, rauchendem Blut und nach allen Seiten zerstreuten Fetzen von dem gelben Fell. Dann sank alles in sich zusammen.

Als sich der Rauch verzogen hatte, sah Tartarin zwei große wütende Neger mit geschwungenen Knütteln auf sich zueilen. Himmel! Die beiden Neger aus Milianah.

O Schrecken! Es war der abgerichtete Löwe, der arme Blinde aus Mohammeds Kloster, dem die tarasconischen Kugeln den Garaus gemacht hatten!

Diesmal, bei Mohammed! sollte Tartarin ihrer Rache nicht entgehen. Die beiden schwarzen Bettelbrüder hätten ihn in ihrer fanatischen Wut sicherlich in Stücke gehauen, wenn ihm der Gott der Christen nicht einen Schutzengel gesandt hätte in Gestalt des Feldhüters der Gemeinde Orleansville, der mit dem Säbel in der Faust auf einem Feldweg daherkam.

Als sie das Käppi des Beamten sahen, legte sich plötzlich der Zorn der Neger. Ruhig und würdevoll nahm der Mann mit dem Amtsschild am Ort des Verbrechens den Tatbestand auf, ließ auf das Kamel laden, was vom Löwen übrig geblieben war, befahl den Klägern sowohl wie dem Beklagten, ihm zu folgen, und schlug die Richtung nach Orleansville ein, wo alles der Gerichtskanzlei übergeben wurde.

Es kam zu einem langwierigen und schrecklichen Verfahren. Bisher hatte Tartarin von Tarascon nur das Algerien der Stämme auf seinem Zuge durch die Siedlungen kennen gelernt, jetzt machte er Bekanntschaft mit einem anderen, nicht minder seltsamen, nicht minder gefährlichen, dem Algerien der Städte, mit ihrem Gerichts- und Advokatenwesen. Jetzt erfuhr er, was es heißt, wenn die Hüter der Gerechtigkeit nach beiden Seiten schielen und sich ihre Ansicht über den Streitfall in den Cafés zu bilden suchen, wenn die Richter versumpfen, die Akten nach Absinth riechen, die weißen Krawatten mit Champoreau befleckt sind; er lernte die Gerichtsvollzieher, die Anwälte, die Notare kennen – all dieses Gelichter der Stempelbogen, das wie magere ausgehungerte Heuschrecken den Ansiedler aufzehrt bis auf die Stiefelschäfte und erst von ihm abläßt, wenn es ihn wie eine Maispflanze Blatt für Blatt aufgefressen hat. Vor allen Dingen mußte klargestellt werden, ob der Löwe auf dem Gelände des Zivilfiskus oder des Militärfiskus erschossen worden war. Im ersten Falle gehörte der Prozeß vor ein Zivilgericht, im andern Falle jedoch mußte Tartarin vor ein Kriegsgericht gestellt werden, und bei dem bloßen Erwähnen des Kriegsgerichts sah sich der doch gewiß nicht leicht einzuschüchternde Tarasconese im Geiste schon erschossen am Fuße eines Walles oder in einer dunklen feuchten Kasematte umkommen.

Das Schlimme an der Sache war, daß in Algerien die Grenze zwischen den beiden Gebieten nur sehr schwer festzustellen ist. Nachdem ein Monat mit Verhandlungen und Intriguen verbracht war und der Angeschuldigte sich oft in den Höfen der arabischen Gerichtsgebäude den sengenden Strahlen der Sonne hatte aussetzen müssen, wurde endlich eine Entscheidung dahin getroffen: daß der Löwe zwar auf dem Gebiete des Militärfiskus getötet worden sei, andererseits aber Tartarin, als er den Schuß abfeuerte, sich auf dem Gebiete des Zivilfiskus befunden habe. Die Sache wurde also vor dem Zivilgericht verhandelt und unser Held zu einem Schadenersatz von zweitausendfünfhundert Franken verurteilt, ohne die Kosten.

Du lieber Himmel! Wie sollte er eine so große Summe erschwingen? Die wenigen Piaster, die dem Raubzug des Prinzen entgangen waren, hatte er längst für amtliche Papiere und Gerichtsabsinth ausgegeben. Es blieb dem unglückseligen Löwentöter nichts weiter übrig, als den Inhalt seiner Waffenkisten im einzelnen zu verkaufen, Gewehr für Gewehr. Auch an die Schlagringe kam die Reihe, an die malayischen Krise, an die Keulen. Ein Krämer kaufte die Konserven, ein Drogenhändler, was von dem Heftpflaster noch übrig war. Selbst die großen Jagdstiefeln mußte er losschlagen; sie gingen wie auch der so wunderbar konstruierte Schattenspender in den Besitz eines Trödlers über, der sie zu Kuriositäten aus Cochinchina erhob.

Nachdem alles bezahlt war, blieb Tartarin nur noch das Löwenfell und das Kamel. Das Fell verpackte er sorgfältig und sandte es nach Tarascon an die Adresse des tapferen Kommandanten Bravida. (Wir werden gleich hören, was die Absendung dieses fabelhaften Beutestückes für Folgen hatte.) Das Kamel sollte ihm dazu dienen, daß er wieder nach Algier zurückkehren könnte, nicht etwa, indem er es bestieg – an dem ersten Kamelritt hatte er gerade genug gehabt – sondern indem er es verkaufte und mit dem Erlös den Postwagen bezahlte, was immer noch die beste Art ist, mit Kamelen zu reisen. Unglücklicherweise war das Tier aber schwer los zu werden, niemand wollte ihm einen Heller dafür bieten.

Tartarin wollte jedoch mit aller Gewalt wieder nach Algier zurück. Es drängte ihn, das blaue Jäckchen Bajas wiederzusehen, sein Häuschen, seine Springbrunnen; er wollte wieder unter den weißen Kleeblattbögen seines kleinen Hofes der Ruhe pflegen und dabei auf das Geld warten, das ihm aus Frankreich nachgesandt werden sollte.

Unser Held zögerte denn auch nicht länger mehr. Er war gebeugt, aber nicht gebrochen, und so machte er sich auf, ohne einen Pfennig Geld in der Tasche, den ganzen weiten Weg in kleinen Tagemärschen zu Fuße zurückzulegen.

In dieser mißlichen Lage hielt das Kamel treu bei ihm aus. Dieses Tier hatte für seinen Herrn eine sonderbare, unerklärliche Zuneigung gefaßt, und als es ihn aus den Toren von Orleansville marschieren sah, ging es fromm hinter ihm her, hielt immer gleichen Schritt mit ihm und wich keinen Fuß breit von seiner Seite.

Im ersten Augenblick fand Tartarin das rührend. Diese Treue, diese Anhänglichkeit in allem Unglück ging ihm zu Herzen; außerdem war das Tier sehr anspruchslos, es nährte sich fast von nichts. Nach einigen Tagen jedoch fand es der Tarasconese schon sehr langweilig, immer diesen trübseligen Begleiter auf den Fersen zu haben, der ihn fortwährend an all sein Mißgeschick erinnerte. Dann, als auch ein gewisser Ärger über das Tier hinzukam, verdachte er ihm seine stets traurige Miene, seinen Buckel und seine ganze Gestalt, die ihn an eine zusammengebundene Gans erinnerte. Um es gerade herauszusagen, er wurde ihm gram und sann nur noch darüber nach, wie er sich seiner entledigen könnte; aber das Tier blieb ihm treu.

Tartarin suchte sich zu verstecken, das Kamel fand ihn immer wieder; er begann zu laufen, das Kamel lief noch schneller . . . . Er schrie: »Pack dich!« und warf es mit Steinen. Das Kamel blieb stehen, sah ihn vorwurfsvoll an, setzte sich aber nach einem Augenblick wieder in Bewegung und blieb immer auf seinen Fersen. Tartarin mußte jede Hoffnung aufgeben.

Endlich, nach acht langen Marschtagen sah der bestäubte und abgemattete Tarasconese von weitem die ersten weißen Terrassen Algiers durch das Grün der Bäume schimmern. Als er sich nun dicht vor den Toren der Stadt auf der belebten Straße von Mustapha befand, inmitten von Zuaven und Eingeborenen, die ihn umdrängten und musterten, als er mit seinem Kamel vorüberzog, da ging ihm plötzlich doch die Geduld aus.

»Nein! Nein!« rief er, »es ist unmöglich. Ich kann in Algier nicht mit solchem Tiere meinen Einzug halten.« Im Wagengewirr wußte er sich den Blicken seines vierbeinigen Gefährten zu entziehen, schwenkte aufs Feld ab und warf sich in einen Graben.

Einen Augenblick danach sah er über seinem Kopfe auf der großen Heerstraße das Kamel weitertraben. Es streckte seinen Hals weit aus, blickte sich ängstlich nach allen Seiten um und eilte, so schnell es konnte, vorwärts.

Als es aus Sehweite war, kroch unser Held aus seinem Verstecke hervor; es war ihm eine schwere Last vom Herzen genommen. Nun kehrte er auf einer kleinen Nebenstraße, die an der Mauer seines Häuschens entlang führte, nach Algier zurück.


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