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Lady Mary Slattery

Als ich vor einigen Jahren an einer Angelpartie in Südirland teilnahm, pflegte ich Sonntag nachmittags einen tüchtigen Marsch zu machen, um meine Beine zu strecken, die von dem vielen Sitzen im Boote ganz steif geworden waren, und um das Land zu erforschen. Meistens forschte ich allein; denn mein Bruder und meine Schwägerin zogen es vor, die goldene Zeit lesend, plaudernd und herumschlendernd in den Anlagen des Gasthauses zu verbringen. Bei einem dieser Streifzüge gelangte ich nach etwa einstündiger Wanderung auf einen schattigen Weg, den romantischsten, den ich je gesehen habe. Links türmten sich, gerade über mir, die dunkelroten »Reeks«, rechts glitzerte ein silberner See herauf, und jede Biegung des Pfades, jeder Durchblick zwischen den Bäumen eröffnete entzückende Aussichten auf bewaldete Inseln, Buchten und Vorsprünge. Dann trat eine hohe, verfallene Mauer zwischen mich und das Bild. Sie war hie und da gefährlich ausgebaucht, aber dicht mit Moos und zarten Farnen überwachsen und von Efeu umrankt. Nun kam ein nicht minder verfallenes Tor in Sicht. Auf einem der schiefen Pfeiler saß ein alter Mann im Sonntagsanzug, ein schwarzes Pfeifchen rauchend. Er nahm es aus dem Munde und begrüßte mich, nach Art der Kerryer Landleute, mit einem höflichen »Ein schöner Abend, Eu'r Gnaden.«

»Können Sie mir nicht sagen, wie diese Besitzung heißt?« fragte ich, stehen bleibend und eine grasbewachsene Allee hinabdeutend, die sich ins Unbestimmte verlor.

»Freilich,« versetzte er. »Sie heißt Fota. Aber die Gebäude sind verfallen. Wenn hier zu Land ein Haus leersteht, sinkt's in zehn Jahren in Trümmer. Das macht das feuchte Klima.«

»Ist denn diese Besitzung zehn Jahre unbewohnt gewesen?« fragte ich.

»Dreißig Jahre sogar. – Wollen Sie nicht hereinkommen und sie sich ansehen? – Früher war sie der schönste Ort in ganz Kerry.«

»Das will viel sagen,« antwortete ich. »Allerdings würde ich mich gern darin umschauen.« Damit kletterte ich über das morsche Heck. Der alte Mann klopfte seine Pfeife aus, stieg von seinem hohen Sitz und führte mich durch eine Wildnis von Bäumen und Gesträuch auf einen Hof, der von dachlosen Nebengebäuden umgeben war.

»Nun, haben Sie je so was gesehen?« fragte er mit dramatischer Armbewegung.

Nein, das hatte ich allerdings nicht! Geiles Gras stand fußhoch über dem Pflaster, die Pumpe lag am Boden, die Ställe beherbergten nur Nesseln und altes Eisen.

»Und wie der alte Herr, General Macarthy, noch lebte, lag auch nicht ein Strohhalm herum,« versicherte er kopfnickend. »Auch nicht ein Blatt.«

Wir gingen durch eine Mauerlücke und gelangten in die Hauptallee, die ein dichter Wald umgab. Überall waren Bäume, und mitten darin stand auf einer Anhöhe das Haus. Sein Anblick enttäuschte mich sehr. Es war ein kleines einstöckiges Gebäude – während ich nach dem Umfange des Hofes, der Auffahrt und der Anlagen ein Schloß erwartet hatte. Der Boden fiel allmählich zum Ufer ab, das fast ganz unter dichtem Unterholz verschwand. Links war der Wald getupft mit üppig blühenden Gebüschen: Steppengras, Arbutus, Rhododendron und riesige Fuchsien. In einiger Entfernung erhob sich eine verwitterte Gartenmauer. Ich guckte durch das verrostete Tor und sah eine Wildnis von hohem Gras, Wiesenblumen und entarteten Obstbäumen.

Dann kehrte ich zu dem alten Manne zurück, der auf einem niedrigen Fenstersims saß, und wir schauten eine Weile schweigend auf den See. Lage und Aussicht waren unvergleichlich.

»Also das Haus hat dreißig Jahre leergestanden?« bemerkte ich endlich.

»Ja, diesen Juni waren's dreißig Jahre, daß es verlassen wurde. Ich hab' hier von Jugend auf für den General gearbeitet – und der Garten drunten war ein wahres Paradies. Nach seinem Tod war es eine Zeitlang vermietet – dann fiel's in Schutt und Trümmer.«

»Und kommt nie jemand hin?«

»Bloß der Aufseher einmal die Woche. Es wird an Viehhändler zur Kälberweide verpachtet, und das ist alles. 's ist ein Jammer.«

Ich drehte mich um und blickte in die leere Wohnungshülse. Es war seinerzeit ein vornehmes Landhaus gewesen, mit einem großen Saal und vier geräumigen Zimmern – Küche und Dienstbotengelaß schienen nach hinten zu liegen. Das Dach war noch ganz, Reste reichen Schnitzwerks und Streifen teurer Tapeten liefen über die Wände (die außerdem die Namenszüge der halben Gegend trugen): im Wohnzimmer stand ein Boot, während das Eßzimmer offenbar den Kälbern als Stall diente.

»Wenn ein Haus jahrelang leersteht, ist es natürlich eine große Versuchung,« bemerkte mein Gefährte in entschuldigendem Tone. »Die armen Leute aus der Gegend haben Türen und Fenster und Feuergitter ausgeführt. Der alte Herr General sparte nicht an dem Haus, und wenn er es jetzt sehen könnte, würd' er sich im Grabe umdrehen.«

»Es sieht aus, als ob es eine Geschichte hätte,« bemerkte ich, mich wieder neben ihn setzend.

»Das nicht, Eu'r Gnaden, das kann ich nicht sagen; aber ich könnt' Ihnen eine merkwürdige Begebenheit erzählen von einem Kind, das hier geboren wurde.«

»Ich höre zu, wenn Sie so gut sein wollen,« sagte ich, ihm meinen Tabaksbeutel anbietend.

»Na, dann sollen Sie sie hören – so!« – er stopfte eine gehörige Menge Tabak in seine Pfeife und drückte ihn mit seinem schwieligen Daumen fest. »Es war vor mehr als dreißig Jahren, als es noch keine Landhäuser am See gab und keine Federwagen, oder Eisenbahnen, oder Telegraphen, sondern lange mühselige Reisen auf Karren – und Fische und Vögel im Überfluß. Jetzt kommen eine Menge Herrschaften her und bewundern das alles« – er schwenkte die Hand – »und bringen ein schönes Stück Geld ins Land, Gott sei gelobt! Denn wir haben's nötig. Aber in meiner Jugend war hier ein Fremder ein ebensolches Wunder wie ein Elefant, und es machte großes Aufsehen, als der Graf und die Gräfin von Mortimer dieses Landhaus mieteten.«

»Engländer,« bemerkte ich, »der Name ist mir bekannt.« (Ich kannte den jetzigen Grafen von Ansehen und hatte seine historische Abtei, seine berühmte Büchersammlung, seine unschätzbaren Gemälde bewundert. Er war ein kinderloser, hochmütiger alter Einsiedler, ein Märtyrer der Gicht und des Stolzes.)

»Ja, Mortimer, Herr,« bestätigte mein Gefährte. »Sie waren noch nicht lange verheiratet und kamen auf gut Glück und ohne viel Dienerschaft ...«

»Was führte sie hierher?« fragte ich. »Wie entdeckten sie das Haus?«

»Das weiß ich selbst nicht recht,« entgegnete er, »aber sie waren ganz entzückt, kann ich Ihnen sagen – Seine Herrlichkeit besonders von der Jagd, denn damals konnte man keinen Schritt in den Bergen tun, ohne auf einen Vogel zu treten, und die Fische lauerten auf einen!«

»Was man jetzt nicht behaupten kann!« warf ich ein. »Manchen Tag hab' ich auf sie gelauert.«

»Seiner Herrlichkeit gefiel das Fischen und Ihrer Herrlichkeit der Ort. Es war bald nach des Herrn Tode, und der Garten war märchenhaft. Die Fuchsienhecken waren eine Pracht, die Palmen eine Augenweide, die Magnolien so groß wie Heuschober, die Passionsblumen überwucherten das ganze Haus, die Nelken dufteten bis über den halben See und überall blühten die Rosen.«

Er hielt nach diesem Begeisterungsausbruch inne, um Atem zu schöpfen, strich ein Zündholz an und fuhr fort: »Sehen Sie diese Terrasse hier – ich halte sie noch klar. Da machte der alte Herr seinen Abendspaziergang – da ging sie auf und nieder. Manchen Abend hab' ich sie hier stehen und auf das Boot warten sehen. O, sie war anzuschau'n wie ein Bild, sag' ich Ihnen! – wie ein Engel aus dem Kirchenfenster!«

»Entsinnen Sie sich ihrer noch?« fragte ich.

»Wie sollt' ich nicht? Ganz genau, bei Gott! Wenn ich die Augen zumache, seh' ich sie vor mir stehen: ihr Haar war rotbraun, wie die Blätter der Blutbuchen, und sie hatte eine solche Unmasse, daß man ein Kissen damit hätte stopfen können, dazu ein schmales lilienweißes Gesicht auf einem schlanken Halse, lachende dunkle Augen und winzige Hände, die von Edelsteinen blitzten. Ihre Stimme war so süß wie Gesang, und wenn sie lächelte, hei! dann hüpfte einem das Herz im Leibe. So was hab' ich nie vorher gesehen.«

»Noch auch nachher?« ergänzte ich.

»Bei Gott, Herr, ich hab' das genaue Seitenstück dazu gesehen, wahrhaftig! – Also Ihre Herrlichkeit liebte die Blumen und kam oft und unterhielt sich mit mir bei der Arbeit, fragte nach dem Landvolk und seinen Heiratsgeschichten und wunderlichen Gebräuchen und nach dem alten Herrn, Gott hab' ihn selig! – und sprach davon, wie traurig es sei, diesen Ort an Fremde vermietet zu sehen. ›Es ist ein Paradies,‹ sagte sie, – ›das schönste Fleckchen Erde, das ich je gesehen habe. Sie können stolz sein auf Ihre Heimat, Mat Donovan.‹ Ich sagte ihr, daß ich auch in der Tat stolz darauf sei – und zwar doppelt stolz, weil sie ihr gefiele.«

»Das war ja eine regelrechte Schmeichelei,« bemerkte ich.

»Nicht die mindeste, Herr. Nur, was ihr zukam,« versetzte er eifrig. »Nun, eines Nachts war ein schreckliches Hallo; Ihre Herrlichkeit hatte unerwartet ein Kind zur Welt gebracht! – Kein Doktor da, keine Wärterin, kein Kinderzeug, niemand zur Hand als die alte Brag-Betty, die gerufen wurde; denn die französische Kammerjungfer konnte nichts tun als kreischen.

»Das Kind war ein Mädchen und das war eine schreckliche Enttäuschung, da ein Sohn gewünscht wurde; aber aufgezogen mußte sie doch werden, und da war guter Rat teuer – bis Betty auf Katey Foley verfiel, die ein Kind nährte. Katey war um die Vierzig, ein großes, starkes Weibsbild; sie hatte furchtbares Unglück gehabt und fünf Kinder verloren: einige waren tot geboren, einige schwach gewesen wie ein Hauch. Die Leute meinen, es wär' Feenfluch. Sei's wie's sei, sie hatte endlich ein lebendiges Kind von drei Wochen, und sie nahm das andre arme Würmchen zu sich, und es gedieh prächtig. Wie nun alles im besten Gange war, legte Ihre Herrlichkeit sich auf einmal hin und starb. Löschte unversehens aus, wie ein Licht. – Und, o, was war sie schön im Tode! –«

»Sie haben sie doch gewiß nicht gesehen?«

»Nein, aber ich hab's gehört, und ich sag' Ihnen, Seine Herrlichkeit war ganz außer sich und wie wahnsinnig vor Kummer. Die Fenster standen weit offen – es war im Sommer, wissen Sie – und ich hörte, wie er nach ihr rief und sie beschwor, wiederzukommen. Ich sag' Ihnen, es hätte einen Stein erbarmt, aber sie war dahin. Die Leiche wurde mit großem Gepränge nach England gebracht, und sie ließen hier alles, wie es ging und stand, und das Kind blieb bei Katey, die ein nettes eigenes Haus hatte, denn Seine Herrlichkeit mochte das Kind nicht sehen und grollte ihm. Es schien wirklich ein Unstern über der Familie zu walten; denn nach ein paar Monaten fing das Kind zu kränkeln an und starb. Es wurde in einem schönen weiß und silbernen Sarg nach dem stolzen Erbbegräbnis gebracht und neben seiner Mutter beigesetzt.

»Seine Herrlichkeit sandte Katey fünfzig Pfund für ihre kleine Mary, und damit hatte die Sache ein Ende. Dann kam nach einigen Jahren die Nachricht, daß Seine Herrlichkeit auf einer Jachtfahrt ertrunken sei. Er hatte nicht wieder geheiratet, und so fielen seine Güter und alle seine Reichtümer an seinen Vetter.

»Die kleine Mary gedieh. Bei Gott, sie war ein bildschönes Kind und John Foleys Herzblatt und Augapfel. Sie war so klug und aufgeweckt, wirklich ein allerliebstes Mädchen, aber schrecklich wählerisch und eigensinnig, und grundfaul. Das Lernen wurde ihr leicht, wenn sie nur wollte, und ihre Goldfüchse machten's nicht allein, daß alle jungen Männer hinter ihr her waren. Es war ihr hübsches Gesicht und ihr apartes Wesen – kein bißchen vertraulich, sondern herrisch und von oben herab. Sie hätte haben können, wen sie wollte. Ein wohlhabender Gutsbesitzer aus der Nachbarschaft war ganz vernarrt in sie, und ein Gendarm war rein von Sinnen.«

»Und wen nahm sie schließlich?« fragte ich gleichgültig, denn meine Aufmerksamkeit war im Einschlafen.

»Keinen von beiden,« versetzte er nachdrücklich. »Sie wollte sich nicht verheiraten lassen, sondern war wählerisch wie eine Dame. Das Ende vom Lied war natürlich, daß sie den Schlechtesten von der Gesellschaft nahm. Einen schmucken Burschen aus der Traleer Gegend, der ebenso vergnügungssüchtig war wie sie, und nichts von Geld noch Geldeswert hatte, als ein Strandnetz und eine Handharmonika. Alles Abreden ihrer Mutter war umsonst – sie wollte Mick Slattery und keinen andern, und so heirateten sie sich denn. Sie hat ein ganzes Haus voll Kinder und tut rein gar nichts. Nett angezogen geht sie und hält die Kinder sauber; aber das ist auch alles. Sie steht den halben Tag in der Tür und schwatzt mit den Nachbarn, oder treibt sich in der Stadt herum, und fehlt bei keinem Tanz und keiner Kirchweih in der Gegend. Mick nimmt ihr die halbe Arbeit ab, und sie ist so drollig und so bezaubernd, daß er ihr kein böses Wort sagen kann. O, sie weiß zu reden und die Männer zu nehmen und hat immer ein neckisches Wort bei der Hand. Mich bringt sie stets in gute Laune.«

»Aber wovon leben sie denn, wenn er nichts hatte, als eine Handharmonika?« fragte ich ungeduldig.

»Mick Slattery ist bei der Bahn angestellt und hat ein schmuckes Häuschen am Übergang: dazu fünfzehn Schilling die Woche. So haben sie ihr ganz gutes Auskommen – obgleich sie schrecklich verschwenderisch ist.« Er räusperte sich kräftig und fuhr fort: »Sehen Sie, der alte John, der so stolz auf Mary war, starb; und seine Frau, die hoch in den Siebzigen stand, blieb allein zurück und wurde ganz verdreht im Kopfe. Es heißt, ihre Mutter sei ebenso gewesen, obgleich manche meinten, es käm' vom zu vielen Teetrinken – sie ließ allerdings die Kanne nie aus der Hand! Kurzum, sie war so schrecklich sonderbar, daß Mick und Mary das Haus vermieteten und sie zu sich nahmen; aber es wurde nicht besser mit ihr, sondern immer schlimmer. Sie härmte sich ab und hatte nirgends Ruhe. Endlich bat sie, sie möchten einen Priester rufen lassen, weil sie etwas auf dem Gewissen habe, und als er kam, legte sie los und erzählte ihm, und erzählte Mary, und jedem, der es hören wollte, folgende Geschichte ...«

Pat tat ein paar laute Züge aus seiner Pfeife und fuhr dann lebhaft fort: »Was meinen Sie, daß Katey vorbrachte? – Daß ihr Kind gestorben sei – es war immer schwächlich gewesen – und daß sie sich von dem andern nicht habe trennen können. Sie liebte es wie ihr eigenes. Sein Vater gönnte es ihr gewiß, denn er mochte es ja nicht und würde auch gewiß bald wieder heiraten und andre Kinder bekommen, und so schickte sie ihr totes Kind nach dem stolzen englischen Schlosse und behielt das fremde. Das wuchs heran und wurde stark, klug und liebreizend, dabei munter und unterhaltend. »Katey war sehr stolz auf sie und vergaß bald, daß sie nicht ihr eigenes Fleisch und Blut war. John Foley aber hat nie etwas geahnt, und seine Tochter war sein ein und alles. So ging das lange fort, aber jetzt, wo Katey alt wurde, trat ihre Sünde ihr vor Augen; ihr Gewissen quälte sie, und sie sagte, sie müsse ihre Tat sühnen, ehe sie sterbe. Sie fühle sich schrecklich unglücklich, und wenn Mary sie mit Ihrer Herrlichkeit Augen und Ihrer Herrlichkeit Lächeln ansähe, laufe es ihr kalt über den Rücken.«

»Und wie wurde diese erstaunliche Nachricht aufgenommen?« fragte ich. »Was sagten die Leute?«

»Gott, Mary nahm es für leeres Gerede und lachte dazu. Sie sei eine echte Kerryerin, und Irisch werde ihr leichter als Englisch. Wenn es wahr wäre, und sie eine englische Gräfin werden müßte, Schlösser, Karossen und Dienerschaft haben, und eine goldene Krone auf dem Kopf tragen, wäre es ihr Tod – aber es sei nicht wahr, ihr Mutting scherze, sie sei ihre kleine Mary und niemand anders.«

»Und was sagte der Priester?« fragte ich mit neuerwachtem Anteil.

»Seine Ehrwürden waren auch gegen Mrs. Foley. Sie kam eben mit ihrer Nachricht zu spät. Dreißig Jahre waren vergangen, und wozu sollte man – vielleicht für nichts und wieder nichts – eine hohe englische Familie in Aufruhr bringen! Katey hatte keine Beweise, nichts Schriftliches, keinen Zeugen. Alles lachte über den närrischen Einfall und hielt ihre Geschichte für ein Märchen. Mary war keine Engländerin, landauf, landab tanzte niemand leichtfüßiger die Gigue und sang die alten irischen Weisen richtiger als sie.

»Katey aber jammerte weiter und bat und flehte, ihr Unrecht sühnen zu dürfen. Sie war völlig bettlägerig, und sie gaben ihr die Giebelstube, und da lag sie nun tagaus, tagein und klagte den Wänden ihr Leid. Sie war eben nicht richtig im Kopfe, sehen Sie, und mit ihrer Mutter war es ebenso gewesen. Sie nannte ihre Tochter nie anders als ›Lady Mary‹, und oftmals rief sie: ›Gott, das sind ja gar nich meine Enkelkinder, sondern dem Grafen von Mortimer seine. Und is nich Johnny ihm wie aus'm Gesicht geschnitten? – Ach, was bin ich für eine schlechte Frau gewesen! – Ich hatte keine Gewissensbisse – mögen die Heiligen sich meiner erbarmen! – mein Herz hing an dem warmen, munteren Kindchen – ich konnt' es nich fortschicken und wieder an der leeren Wiege sitzen.‹

»So trieb Katey es eine Weile, ohne daß jemand auf ihre Reden gehört hätte, und endlich starb sie. Sie wurde höchst ehrenvoll begraben, und ihre Leichenfeier kostete wohl zehn Pfund: nicht weniger als zwei lange Wagen waren dabei und Unmengen von Fleisch und Whisky und Porter gab's. Wahrhaftig, die Slatterys begruben die alte Dame nobel.«

»Und war es damit aus?« fragte ich.

»Es war aus mit Katey,« entgegnete er – »aber ich glaube wahrhaftig, daß doch etwas an ihrer Geschichte war. – Aber es wird spät,« fügte er aufstehend hinzu, »meine alten Glieder sind voll Rheumatismus, ich bin so steif wie ein Stück Holz und muß sehen, daß ich nach Hause komme, ehe der Tau fällt, sonst begräbt meine Tochter mich nächstens.«

»Aber zuerst müssen Sie Ihre Geschichte auserzählen,« bat ich, ihm die Allee hinunterfolgend. »Weshalb glauben Sie, daß etwas dran war?«

»Je nun, 's ist kein Geheimnis; jeder, der Augen im Kopf hat, kann es sehen. John und Katey waren schwarz wie Dohlen, Mary dagegen hat Haare wie ein Kupferkessel, einen weißen Schwanenhals, blitzende Augen und winzige Hände. O, sie ist das leibhaftige Ebenbild Ihrer Herrlichkeit. Ist das nicht sonderbar?« Dabei sah er mich scharf an.

»Wenn sie ihre Tochter ist, nicht,« erwiderte ich rasch.

»Scht!« rief er, sich umsehend, als fürchte er, die Bäume könnten Ohren haben. »Lassen Sie das nie verlauten! Ich denk' es nur im stillen, wenn ich hier allein sitze, wie jeden Sonntag.«

»Und ist denn diese merkwürdige Ähnlichkeit nicht auch andern aufgefallen?« fragte ich.

»Nein, Herr« – er richtete seine gekrümmte Gestalt in die Höhe und sprach äußerst würdevoll – »sehen Sie, die Nachbarschaft hatte nicht viel Gelegenheit, die Gräfin zu sehen. Sie war meistens zu Hause oder fuhr Boot, auch ist's dreißig Jahre her, und niemand weiß noch, ob sie schwarze oder blonde Haare hatte. Aber ich sah sie tagtäglich – und zwar stundenlang – und kann sie nie vergessen, denn so was Schönes wie sie hab' ich nie zuvor gesehen und werd's auch nie mehr sehen.«

»Außer Mary Slattery. – Erregt sie nicht Aufsehen und Bewunderung in der ganzen Gegend?«

»Nein, das kann ich nicht sagen. Sie ist den Kerryern zu klein und zu schmächtig und hat zu wenig Farbe. Von ihrem Tanzen und Singen und ihren lustigen Einfällen reden sie drei Kirchspiele weit, aber niemand macht Aufhebens von ihrem Aussehen.«

»Ich muß gestehen, daß ich sie gern sehen möchte,« rief ich unwillkürlich.

»Und warum nicht?« versetzte er. »Das können Sie leicht haben. Sie brauchen sich nur nachmittags zu dem Bahnübergang bei der Kapelle zu bemühen. Da werden Sie Mary in der Tür stehen finden, mit einer reinen Schürze und Haaren wie blankes Messing – bereit, mit jedem Vorübergehenden zu lachen und zu schwatzen – doch das Haus hinter ihr einfach skandalös. Sie drückt sich vor jeder Arbeit.«

»Nun, Sie haben mir eine hochinteressante Geschichte erzählt, und ich will mein möglichstes tun, um Mrs. Slattery kennen zu lernen,« sagte ich, als wir am Tore haltmachten.

»Ja, und alles, was ich Ihnen erzählt habe, ist buchstäblich wahr. So, hier trennen sich unsre Wege. – O nicht doch, Herr! ich kann nichts von Ihnen annehmen. Na, wenn's zu Tabak ist, will ich nichts dagegen sagen. Dank schön für Ihre Gesellschaft und für die Geduld, die Sie mit einem griesgrämigen alten Mann und seinem Geschwätz gehabt haben.« Damit nickte er mir zu und humpelte davon.

Auch ich ließ die Waldung bald hinter mir. Trotz Gestrüpp und Verfall war Fota ein reizender Ort, und ich wunderte mich, daß dieser alte Diener der einzige war, der seine Schönheit zu schätzen wußte. Warum sollte seine Geschichte nicht wahr sein? – War die Wahrheit nicht oft wunderbarer als alle Erdichtungen! Der brummige alte Gärtner mit seiner Anhänglichkeit an den Ort, wo er als Mann und als Knabe gearbeitet hatte, und seiner unauslöschlichen Bewunderung für die schöne Edelfrau war eine eigenartige, fast romantische Gestalt.

Es trifft sich, glaube ich, nicht selten – obgleich die Telepathie noch ein unerforschtes Gebiet ist – daß sonderbare Umstände oder Geschichten, denen man auf die Spur gekommen ist, kurz darauf wiederum auftauchen oder unverhofft bestätigt werden. An diesem selben Abend kam die Rede auf Mary Slattery, und zwar fing ich nicht von ihr an, sondern Dolly, meine lebhafte Schwägerin.

»Also du hast wieder einen von deinen langweiligen Sonntagsspaziergängen gemacht und einen wunderschönen Ort entdeckt,« rempelte sie mich bei der Suppe an. »Nun, ich bin nur eine Viertelmeile weit gegangen und habe eine wunderschöne Frau gesehen.«

»O, das ist kein ungewöhnlicher Anblick in Kerry,« versetzte ich.

»Jawohl, von einer gewissen Sorte: schwarzes Haar und blaue Augen, wie mit schmutzigen Händen eingesetzt, aber meine Entdeckung weist einen andern Typus auf: kastanienbraunes lockiges Haar, feine liebliche Züge. Sie trägt den Kopf wie eine Königin, und van Dyck wäre stolz gewesen, ihre Hände malen zu dürfen – obgleich sie ziemlich rot sind, muß ich gestehen.«

»Ja,« erwiderte ich, »und ich kenne die Schönheit. Sie wohnt an einem Bahnübergang, und ihr Name ist Mary Slattery.«

»Wie in aller Welt hast du sie entdeckt?«

»Ich habe von ihr gehört,« antwortete ich ausweichend. »Aber wie hast denn du sie kennen gelernt?«

»Durch eines von ihren Kindern, das auf einem Tor herumturnte – einen reizenden kleinen Cherub namens Johnny. Ich habe schon eine ganze Menge Bekannte in der Gegend und bin gut Freund mit Mrs. Slattery. Ich habe ihr versprochen, sie morgen zu besuchen und den Kindern Kuchen und Kleidungsstücke mitzunehmen.«

»Nimm mich auch mit,« bat ich unvermutet.

»Du scherzest. Es ist dein letzter Tag, und dich reut ja jede Stunde, wo du keine Angel in der Hand hast.«

»Morgen nachmittag geb' ich den Fischen Ferien. Ich möchte gar zu gerne deine bezaubernde Schönheit sehen.«

»Und sie mit dem Kodak spießen.«

»Ein guter Gedanke! Das möchte ich schon, wenn sie nichts dagegen hat.«

»Sie sieht aus wie die Gefälligkeit selbst. Ich bin überzeugt, sie würde dir mit Vergnügen stehen, wenn du ihr ein Bild versprächest: aber ich weiß genau, daß du ihr Vorhandensein morgen vergessen haben wirst – und außerdem hast du deinen Apparat in Killarney gelassen.«

Aber meine lebhafte Schwägerin irrte diesmal. Die fünfte Stunde des nächsten Nachmittags fand mich an ihrer Seite auf der zugigen Landstraße, die neben dem Bahndamm her läuft, beladen mit ihren Geschenken in Gestalt eines Papiersackes, der ein Dutzend alte Lebkuchen, die besten, die sie hatte auftreiben können, enthielt, und eines geheimnisvollen großen, weichen Ballens. Bald gewahrten wir die weiße Schranke und das schmucke Wärterhäuschen daneben. Es lag nach Süden, keine zwanzig Schritt von der Bahn, und sein nüchternes Angesicht verschwand beinahe unter einem dichten Gespinst von roten Rosen. Auf einem umgestülpten Eimer vor der Tür saß eine schlanke, goldhaarige junge Frau. Sie strickte an einem schwarzen Strumpf und hielt nach Kräften Ordnung unter vier lebhaften Kindern, einem jungen Hunde, einer braunweißen Katze und einer Schar dreister Hühner, die sie umdrängten und ihre Bewegungen erwartungsvoll beobachteten. Als wir näher kamen, stand sie auf und begrüßte Dolly mit strahlendem Lächeln. – Also dies war Mary Slattery! Allerdings, und obgleich ihre Landsleute nichts Besonderes an ihr fanden, war sie unleugbar hübsch, schön sogar – vornehme, klare Züge, und trotz ihrer bäuerlichen Kleidung eine Aristokratin vom Scheitel bis zur Sohle.

»O, 's ist wirklich zu freundlich von Eu'r Gnaden, daß Sie an die Kinder gedacht haben!« rief sie mit bezauberndem Lächeln (dem Lächeln Ihrer Herrlichkeit!). »Johnny, willst du wohl die Hand aus dem Mund nehmen und dich schön bei der Dame bedanken!« Johnny umklammerte nämlich den Papiersack wie ein Schraubstock: offenbar waren Kuchen für ihn eine seltene Beute.

»Du wirst die Kuchen mit deinen Geschwistern teilen, nicht wahr?« sagte Dolly in schmeichelndem Tone.

»Gewiß wird er das, und vielleicht fällt auch noch 'n Happen für den Hund und die Katze ab. Er ist nicht mißgünstig,« rühmte seine Mutter, die Kuchen sorgfältig unter ihre ungestümen Sprößlinge verteilend, während die Hühner, auf Krümchen hoffend, sich eifrig herzudrängten.

»Das ist mein Schwager,« sagte Dolly, mich endlich vorstellend.

»Erfreut, Eu'r Gnaden Bekanntschaft zu machen. Hoffentlich haben Sie eine gute Jagd gehabt.«

»Danke, es geht an,« versetzte ich. »Wie gefällt es Ihnen, so nahe an der Bahn zu wohnen, Mrs. Slattery?«

»Ei, ganz gut, Herr. Es macht mir Spaß, die Züge vorbeifahren zu sehen, vier den Tag, und Sonntags zwei, ohne die Güterzüge.«

»Und versehen Sie die Schranke?«

»Ja, wenn Mick auf der Strecke zu tun hat. – Das ist er« – sie deutete auf einen stattlichen Mann mit buschigen dunkeln Haaren, der eifrig Kartoffeln ausnahm.

»Essen Sie viel Kartoffeln?« fragte meine Schwägerin.

»Brr, nein!« (Sie schauderte.) »Kartoffeln sind mir schrecklich, ich krieg' sie nich hinunter; und wie vorige Woche unser Mehlsack ausgeblieben war, bin ich 'rumgeirrt nach was Eßbarem – wahrhaftig! – Bei Kartoffeln würd' ich verhungern.«

»Und was trieben Sie auf?« fragte ich.

»Ned Macarthy gab mir 'n paar Lachsforellen. Ich hab' einen schwachen Magen (mit Verlaub zu sagen) und kann morgens nich eher aufstehen, als bis mir Mick 'ne Tasse Tee gemacht hat.«

»Also Ihr Mann steht auf und macht Feuer und setzt Wasser zu?« fragte Dolly erstaunt. Ihr Mann würde nun und nimmer so etwas tun, wie wir beide wohl wußten.

»O, Mick ist sehr gut gegen mich,« bestätigte sie mit behaglichem Lächeln, »er weiß, daß ich nich viel leisten kann.«

Mick erschien jetzt selbst und sagte, an den Hut greifend: »Wollen Eu'r Gnaden nich näher treten und ein Glas Milch trinken? Mary, Frauchen, wo hast du deine Manieren?« – Es fiel mir auf, daß Mary weit lieber draußen geblieben wäre, und daß ihr offenbar der echte irische Instinkt fehlte, der sofort ein Obdach, einen Stuhl und, wenn irgend möglich, Erfrischungen anbietet.

»Ach, das Haus is ganz kunterbunt,« sagte sie, widerstrebend die Tür öffnend, »und nich auf Besuch eingerichtet. Aber wenn die Dame nähertreten und sich setzen will, wird es mir eine Ehre sein.«

Auf diese Einladung gingen wir beide hinein – und die Unsauberkeit der Behausung rechtfertigte das Urteil des alten Pat: es war skandalös!

Das Zimmer war ziemlich groß, die Möbel derb und praktisch; aber das Feuer war ausgegangen, über einem Haufen weißer Asche hing ein Kochtopf, eine Wanne mit Kinderhosen stand mitten auf dem Fußboden, der Tisch war mit schmutzigem Geschirr bedeckt und auf den Dielen lagen Kohlblätter und -strünke herum. Mary Slatterys kleine Hände waren offenbar keiner schweren Arbeit fähig; aber ich bemerkte einige bescheidene Ausschmückungsversuche. Die Schenke wies ein paar angeschlagene irdene Töpfe und grell bemaltes Steingut auf, ein mächtiger Feldblumenstrauß stand in einer zinnernen Schüssel, und an den Wänden hing eine ansehnliche Sammlung von Buntdrucken aus illustrierten Zeitschriften. Die Gardinen waren geschmackvoll aufgenommen; aber unter einem Stuhl erspähte ich eine alte Ziege, und hinter der Tür eine Gluckhenne.

Mick machte unterdes verzweifelte Versuche, aufzuräumen. Er trug die Wanne fort, jagte die Ziege hinaus, stellte zwei Stühle hin und bemühte sich mit aller Kraft seiner Lungen, unter dem Haufen Torfasche ein wenig Glut anzufachen. Seine Frau stand mit echt aristokratischer Seelenruhe dabei und strickte und plauderte mit Dolly, als empfinge sie sie in der elegantesten Umgebung, ohne das leiseste Bewußtsein irgendwelcher Mängel.

Wäre sie eine echte Irländerin gewesen, so würde sie einen Schwall stichhaltigster Entschuldigungen vorgebracht haben. Und hierin nun lag für mich ein unanfechtbarer Beweis, daß kein Foleysches Blut in Mary Slatterys Adern floß, sondern daß sie die Tochter einer kaltblütigeren Rasse, der Abkömmling von zwanzig Grafen war. Während sie sorglos plauderte, schmausten die vier adlernasigen, blauäugigen Kinder ihre alten Lebkuchen und beobachteten uns neugierig. Die gesprächige Dolly brauchte ihre Zunge, und ich meinerseits brauchte meine Augen. Die junge Frau, die da an der Schenke lehnte, paßte offenbar nicht in ihre Umgebung: ihre Haltung war die Anmut selbst, unbewußt und ungesucht – die Erbschaft jahrhundertlangen Hoflebens und studierter Knickse. Ihr kurzer blauer Kattunrock ließ schwarzwollene Strümpfe und grobe Schuhe sehen, aber selbst diese konnten den hochgewölbten Spann und den kleinen, schmalen Fuß nicht verbergen; und die Hände, die zwischen den tanzenden Stricknadeln schimmerten, hätten von van Dyck gemalt sein können, so zart, wächsern und unnütz sahen sie aus. Mary Slattery hatte eine liebliche Stimme, sowie einen angenehmen Tonfall, und sie und Dolly hatten einander viel zu sagen. Dolly schwatzte drauf los, stellte sonderbare Fragen und erhielt dafür Kunde von Leichenschmäusen, Kirchweihen, Tanzfesten, Heiraten und Heiratsvermittlern.

»Die Heiratsvermittler ziehen im Land herum und stiften Heiraten,« sagte Mrs. Slattery. »Einer von den beiden Teilen muß Land und der andre Geld haben, und wenn alles abgemacht ist, kommt der junge Mann eines Abends in das Haus der Braut. Gleich den nächsten Tag werden sie zusammengegeben und mit großem Geleit nach Hause gebracht, wenn sie beliebt sind.«

»Aber was wird, wenn das Mädchen dem jungen Manne nicht gefällt?« fragte meine Schwägerin.

»O, dann sagt er ihr ab, aber das kommt selten vor,« versetzte die andre, »und bei den Mädchen nie. Die Alten nehmen das Geld und ziehen ins Ausgedinge, die Jungen kriegen das Gut und wirtschaften. Meistens schlagen die Ehen gut aus, aber ich weiß von einem Burschen, der hatte das Mädchen nie gesehen vorm Hochzeitsmorgen. Na, er war nich sonderlich erbaut!« Dabei lachte sie schadenfroh.

»Ich bin überzeugt, daß Ihre Ehe nicht auf diese Weise geschlossen worden ist,« erklärte Dolly bestimmt.

»Allerdings nicht,« erwiderte Mrs. Slattery lebhaft. »Mick und ich sind zusammen zur Schule gegangen, und ich war ihm immer über im Lernen – nich, Mick?«

»Bei Gott, du warst mich in allem über,« versetzte Mick grinsend. »Ich hab' mir oft gewundert, wo sie die Klugheit her hat. Sie brennt aufs Lesen,« setzte er stolz hinzu, »und sitzt den ganzen Tag überm Buch, wenn sie eins erwischen kann.«

»Aus welchem Teile von Irland stammen Sie denn, Mrs. Slattery?« fragte Dolly weiter. »Sie sind jedenfalls keine Kerryerin, das sieht ein jeder.«

»Doch, ich bin eine, Eu'r Gnaden,« antwortete sie nachdrücklich. »Was denn sonst? – Und warum soll ich keine geborene Kerryerin sein?«

»Weil Sie so ganz anders sind als die übrigen Leute. Die haben dunkle Haare und blaue Augen und einen kräftigen Wuchs, während Sie ...«

»O ja,« fiel sie ein, »ich weiß, daß ich anders bin – klein und schmächtig mit roten Haaren und braunen Augen und wenig Farbe, aber 's is eben ein Zufall wie ein scheckiges Pferd oder eine blauäugige Katze. Wir können nich alle aus einem Holz sein. Mit den Kindern is es auch so. Keines ähnelt irgendwem,« sagte sie, auf die vier neugierigen Gesichter über der Halbtür zeigend. »Ich weiß nicht, wo in aller Welt sie ihr Äußeres her haben. Ihre feinen, weichen Haare und kleinen Ohren und ihr eigenartiges Wesen. – Geh, Micky,« rief sie plötzlich, »und pflück ein paar schöne Rosen für die Dame.«

Micky gehorchte sofort und erschien alsbald mit einem großen, wirren Strauß, den er meiner Schwägerin mit dem Anstande eines kleinen Kavaliers und ohne die mindeste Blödigkeit überreichte.

»So ist's recht!« rief seine Mutter beifällig. Er war ein hübsches, gutgewachsenes Kerlchen mit eckigem Kinn und treuherzigen braunen Augen.

»Danke, Micky,« sagte Dolly. »Wie alt bist du?«

»Zehn, Eu'r Gnaden.«

»Und gehst natürlich zur Schule.«

»Jawohl, ich bin schon im dritten Buch.«

»Was willst du denn werden, wenn du groß bist?«

»Soldat.«

»Oho, da hab' ich auch ein Wörtchen mitzureden,« protestierte seine Mutter. »Wer hat dir die Soldaten in den Kopf gesetzt, Micky, mein Jungchen?«

»Ich weiß nicht,« sagte er errötend. »Ich glaub', sie sind immer drin gewesen. Muttchen, da kommt ein Güterzug!« Damit lief er hinaus.

Mrs. Slattery warf ihr Strickzeug beiseite und eilte ihm nach. Wir folgten ihr.

»Haben Sie keine Angst, daß den Kindern etwas zustoßen könnte?« fragte ich. »Sie wohnen so dicht an der Bahn.«

»Freilich hab' ich Angst gehabt, wie sie noch klein waren,« sagte sie. »Einmal hat Johnny mir 'n furchtbaren Schreck eingejagt. Ich hatte nur gerade noch Zeit, ihn wegzureißen, bevor der Zug kam. Ich war hinterm Haus und fütterte das Schwein, da sah ich den Zug heranbrausen – und er war aus seinem Bettchen geklettert und auf die Schienen gekrochen. Heilige Mutter Gottes, bin ich da gerannt! – Der Schreck stieß mir fast das Herz ab, kann ich Ihnen sagen.«

»Himmel, es ist schon Sechs, und wir müssen gehen,« erklärte plötzlich meine Schwägerin, auf ihre Uhr sehend. »Wir haben nur gerade noch Zeit, hinüber zu laufen, bevor Sie die Schranke zumachen. Adieu, adieu – auf Wiedersehen!«

Damit eilte sie hinüber, blieb stehen und nickte Mary zu, während ich die beiden schweren Schranken vorschob, für welchen Dienst ich durch ein strahlendes Lächeln und einen artigen kleinen Knicks belohnt wurde – und das war das letzte, was ich von Lady Mary Slattery sah.

»Nun!« rief Dolly, während wir die Bahn im Rücken ließen und uns einer weiten Heide zuwandten, die von einer majestätischen Bergkette begrenzt war. »Sag mir offen, wie findest du sie? – Ist sie nicht schön? Sieht sie nicht merkwürdig fein und vornehm aus?«

»O ja, sie sieht ungewöhnlich aus – und alles das,« murmelte ich.

»Hast du ihre leise Stimme und ihr seltsames leises Lächeln bemerkt – ein Familienlächeln, möchte ich sagen – obgleich das natürlich reiner Unsinn ist. Kannst du dir denken, daß ihre Mutter eine alte Kerryerin war, die Kartoffeln ausnahm und Pfeife rauchte? Kannst du's?« wiederholte sie.

»Nein, ich kann es nicht,« versetzte ich maulfaul.

»Und doch hat sie einen Arbeiter zum Mann, und ihre Kinder gehen barfuß, und sie spricht von einer Zulage von achtzehn Pence die Woche für Mick, als ob es das höchste Ziel ihres Ehrgeizes wäre. Bei meinem ersten Besuch schenkte ich ihr einen Sovereign. Da hättest du sehen sollen, wie sie vor Freude errötete, obgleich sie nicht viel sagte – und ich hatte fast das Gefühl, als hätte ich's einer Gleichstehenden geschenkt. Wenn sie fein gekleidet wäre, würde man sie für eine vornehme Dame halten – tatsächlich!«

»Tatsächlich Lady Mary Slattery!« ergänzte ich im stillen, und wir gingen eine Weile schweigend weiter. – Die Mortimers waren eine als hochmütig bekannte Familie, alt, reich und vornehm. Sie waren auf einen schwachen Zweig zusammengeschrumpft. – Was würde der Graf von Mortimer zu dieser irischen Erbin sagen, die Schweine fütterte und wusch und kochte und die die Religion, die Sprache, die Sitten und Vorurteile einer Kerryer Landfrau angenommen hatte; die das Weib eines Kerryer Arbeiters, die Mutter von vier schönen Kerryer Kindern war? – Konnte sie je für ihren hohen Rang erzogen und umgebildet werden? – Nie!

»Seit einer Viertelstunde hast du nicht den Mund aufgemacht,« rief Dolly endlich ungeduldig. »Ein Königreich für deine Gedanken! – Worüber grübelst du?«

»Ob es heute Moosbeertorte zu Mittag geben wird,« log ich gelassen.

»O du gefräßiger Mensch! Ich glaubte, du sännest über das Rätsel der jungen Frau aus dem Wärterhäuschen nach. Ich muß gestehen, daß ich nicht klug aus ihr werde. Sie ist so ganz anders als alle Landfrauen, die ich kenne.«

Sollte ich Dolly die Geschichte erzählen oder nicht? – Nein!

»Sie ist ein Naturspiel, ein weißer Rabe. Wie kommt sie dazu, mit diesen kleinen Wachshänden Schweine zu füttern? Sag mir das!«

Ich war jedoch nicht geneigt, ihr irgend etwas zu sagen. Dolly hatte eine flinke Zunge, einen unermüdlichen Spürsinn, eine ausgebreitete Korrespondenz. Warum sollte ich alten Staub aufrühren und mich vielleicht mit Lord Mortimer und seinem Anhang entzweien? Schweigen ist Gold. Nein, ich wollte nichts sagen. Ich wollte Lady Mary lassen, wo ich sie gefunden hatte – bei ihrem Waschzuber und ihrer Schranke! Sie schien vollkommen zufrieden mit dem Platz, den Gott ihr angewiesen hatte, und wie durfte ich mich vermessen, in ihr Leben einzugreifen! Aber ich hege nicht den geringsten Zweifel an ihrer Identität und bin überzeugt, daß Katey doch die Wahrheit gesprochen hat!


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