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Ein Staatsgeheimnis

Nummer sechsundsiebzig, Domnickstraße, Dublin Nord hatte zweifellos bessere Tage gesehen und sich früher nicht durch die schmutzige Tafel mit der Aufschrift »Zimmer zu vermieten« hervorgetan, die zu Zeiten in der Verglasung des Türbogens erschien. Aber Nummer sechsundsiebzig hatte keine Veranlassung, hochmütig und verdrießlich auszusehen – was es unleugbar tat – oder sich etwas auf seine steinerne Treppe mit Mahagonigeländer und seine vornehme Ausstattung einzubilden; denn einige seiner Bewohner waren reichlich ebenso fein und ebenso heruntergekommen wie das Haus selbst. Wenn Nummer sechsundsiebzig sich im Vertrauen gegen Nummer siebenundsiebzig beklagte, daß man ihm zugemutet habe, seine Tore Fremden zu öffnen, als ob es kein städtischer Edelsitz, sondern ein Gasthaus wäre, so beruhte diese Klage auf Gegenseitigkeit; denn unter den Mietern gab es mehrere, die es sich nie hatten träumen lassen, daß sie einst Bewohner seiner verwahrlosten Staatsgemächer werden könnten. Jedenfalls suchte das ehrwürdige Gebäude noch immer den Schein zu wahren und spielte sich als das feinste Miethaus der Gegend auf. Es prunkte mit einem unleserlichen Messingschild, einem stark von Rechnungen besuchten Briefkasten, verblichenen seidenen Vorhängen in den Gesellschaftszimmern, Tüllgardinen im ersten und duftigen Musselinwolken im zweiten Stock. Mrs. Cooney, die Hauswirtin, machte einen schönen Profit an ihren Mietern, dank Kohlen, Nebenrechnungen und ihrer Katze, die ebenso schlau als raubgierig war. Die Gesellschaftszimmer waren an einen Tanzzirkel vermietet, eine halbwüchsige, lärmende Gesellschaft, und im ersten Stock hauste eine alte Jungfer, die zänkisch und anspruchsvoll, aber dauerhaft war. In den Vorderzimmern des zweiten Stocks wohnten zwei Misses Doran, die verwaisten Zwillingstöchter eines verabschiedeten Offiziers; sie waren jung und hübsch, aber verlassen und bettelarm.

Die Hinterzimmer hatte Madame Vouvray inne. Ihre Wohnung war eine wahre Schmutzhöhle, wo französische und irische Reinlichkeitsbegriffe traulich Hand in Hand gingen und reichlichen Spielraum fanden.

Die Mieter der Dachstuben waren ein Straßenbahnschaffner und ein Musiker, der, wenn er nüchtern war, im Orchester des Queen-Theaters spielte, sonst aber in seinen vier Pfählen wilde Phantasieen zum besten gab. Bei alledem war er ein bewunderungswürdiger Künstler, ein versumpftes Genie.

In den unteren Regionen residierte Mrs. Cooney nebst Dienerschaft, bestehend in einem Hausknecht und einem Laufburschen – und so war Nummer sechsundsiebzig vom Boden bis zum Keller bewohnt.

Wir wenden uns nun den Zimmern des zweiten Stocks zu, die uns hauptsächlich angehen. Die Vorderräume sind kalt und kahl, doch peinlich sauber und bildeten, wie gesagt, die Behausung der beiden Misses Doran. Die armen Mädchen haben sich ihr Beieinandersein und ihre Unabhängigkeit schwer errungen. Ihre Verwandten waren anfänglich willens, sich ihrer »anzunehmen«, und verschafften Dolly einen Gesellschafterinnenposten bei einer kranken Dame, die sich als geisteskrank und gewalttätig entpuppte, während Mary mit vierzehnstündigem Arbeitstag an einer Schule angestellt wurde. Gegenwärtig hatten sie diesen vielversprechenden Berufsarten entsagt und sich auf eigene Füße gestellt, was die Verwandten bewogen hatte, sich gänzlich von ihnen loszusagen. Mabel gab Klavierstunden, spielte bei kleinbürgerlichen Festen zum Tanz und verdiente im Schweiße ihres Angesichts zwölf Schilling die Woche – nach Abzug der Straßenbahnkosten. Dolly blieb daheim und garnierte Hüte und Hauben für einen Schilling das Stück. Beide bemühten sich redlich, ihre Lebensweise und Einrichtung standesgemäß zu erhalten: sie kleideten sich zierlich, gingen zur Kirche, kauften sich Zeitungen, jawohl, und sogar Blumen, legten großen Wert auf ihres Vaters Degen und Orden, ihrer Mutter Gitarre und Uhr, etliche Bücher und Photographieen, und führten eine klägliche Posse auf, Fünfuhrtee genannt. Überhaupt lebten sie größtenteils von Tee, Brot und billigem Eingemachtem. Sie hatten kein Feuer, dafür aber ihre Freiheit und einander.

Madame Vouvray, ihre Nachbarin, war ein hageres, altes Dämchen von lebhaftem Temperament und phantastischen Neigungen, dabei stand sie in dem Rufe, »schrecklich geizig« zu sein. Seit über dreißig Jahren erwies sie den Ufern des Liffey die Ehre, sie denen der Seine vorzuziehen, und noch wußte niemand, wer sie war, woher sie kam und (ein wesentlicher Punkt) ihr Einkommen bezog, noch ob sie irgendwelche Angehörige hatte. Sie ließ alle Frager mit einem Nicken und kurzen Auflachen abfallen, war aber mit Eifer und Erfolg bemüht, andrer Leute Angelegenheiten zu ergründen.

Es gab vielerlei Vermutungen über Madame. Einige hielten sie für eine Spionin der Regierung! Andre meinten, sie sei eine Giftmischerin. – Das war einfach lächerlich; denn es war bekannt, daß Madame keiner Fliege weh tun konnte und regelmäßige Beiträge für das Katzenheim zahlte. Manche erklärten sie für eine Sozialdemokratin und Geächtete. Aber die ausschweifendste von allen Vermutungen war die, daß sie eine gefeierte Schönheit gewesen sei, die man, weil sie sich in Hofumtriebe und Staatsgeheimnisse verwickelt habe, vor die Wahl zwischen Flucht oder Tod gestellt habe.

Ihre Erscheinung war entschieden sonderbar. Sie trug jahraus jahrein einen alten schwarzen Spitzenhut, einen fußfreien karierten Rock, Stöckelschuhe und einen muffigen Samtumhang mit schmutzigem Hermelinbesatz. An ihrem Arm hing ein seidener Beutel und in der Hand hielt sie, je nach der Jahreszeit, einen befransten Sonnen- oder einen mächtigen blauen Regenschirm. Oft und oft ist das arme alte Geschöpf in diesem Aufzuge die Sonnenseite von Stephens Green auf und ab gewandelt, mit albernem Lächeln und geziertem Gang, als glaube sie allen Ernstes, noch hübsch zu sein. Sie mag einst eine Schönheit gewesen sein – wer weiß? – wenn aber, so war die Schönheit grausam gewesen und von ihr gewichen, ohne andre Spuren zu hinterlassen als eine schmale, wohlgeformte Nase.

Madames stechende Augen waren eingesunken; ihre Zähne hatte sie nicht ersetzt, obwohl sie Haar und Gesichtsfarbe erneuert hatte. Sie trug eine rotgelbe Perücke und schminkte sich unverfroren. Trotz dieser Bemühungen, die Zeit zu besiegen, war Madame unstreitig eine eitle, oberflächliche, häßliche alte Frau. Sie ging selten zur Messe, wohnte aber dafür Versteigerungen, Konzerten und Aufführungen um so regelmäßiger bei. Sie lebte von Kaffee, Wurst und Schnupftabak, ließ sich die leichtfertigsten französischen Bücher und eine Pariser Tageszeitung kommen, hatte aber, soviel man wußte, nie einen Brief oder Besuch erhalten.

In ihrer Wohnung sah es aus wie in einer Rumpelkammer. Selbst das Dach des Himmelbettes war gerammt voll Plunder; Stöße von Büchern türmten sich am Boden, und sie schien eine wahre Leidenschaft für alte Uhren, wacklige Lampen, ausgestopfte Vögel und bunte Pappschachteln zu haben. Sie bekannte, daß sie Staub ganz gern habe. »Ich bin daran gewöhnt,« erklärte sie gelassen. »Nicht lange, so werden wir alle selbst zu Staub. Und was schadet der arme Staub? – Wir können nicht wissen, ob wir nicht unsre Ahnen aufwirbeln.« – Und wenn Mrs. Cooney (die selbst nicht allzu sauber war) auf halbjährlichem Ausräumen und Reinmachen bestand – wodurch die Bewohner der angrenzenden Stockwerke fast erstickt wurden – erhob Madame ein Klagegeschrei, als wäre sie eine Elster, deren Nest ausgeraubt würde.

Madame Vouvray und ihre jungen Nachbarinnen hatten zwei Jahre Wand an Wand gelebt, ehe sie miteinander bekannt wurden. Die Dorans waren der alten Dame häufig auf der Treppe begegnet und hatten ein paarmal gesehen, wie sie im Flur nach den feurigen Weisen des Geigers aus der Dachkammer tanzte und mit den Fingern schnippte, woraus sie den naheliegenden Schluß zogen, daß er betrunken und daß Madame verrückt sei.

*

Ein Kessel heißes Wasser vermittelte die Bekanntschaft. In einer Nacht bekam die alte Dame einen beängstigenden Bronchitisanfall und klopfte ohne weiteres ihre Nachbarinnen herbei. O welch einen Anblick bot sie, wie sie, mit einer zerlumpten Nachtjacke bekleidet, in ihrem wackligen Himmelbette saß, das arme alte Gesicht ganz verzerrt durch das Ringen nach Luft! Mabel zündete Feuer an, machte kochendes Wasser, stellte, so gut es gehen wollte, einen Dampfeinatmer und andre Heilmittel her und blieb bis Tagesanbruch bei der Leidenden. Als diese sich erholte, zeigte sie sich dankbar gegen ihre gütige Pflegerin, drückte ihr mit ihren Knochenfingern die Hand und sagte: »Ich weiß, Sie heißen Mabel; aber ich nenne Sie Marie, nach einer hohen Dame, die ich einst kannte, und die ein Engel war. Sie haben ihre Augen, chérie – ihre stolzen grauen Augen – und ihr gütiges Herz.«

Madame ließ es nicht bei Worten bewenden. Ganz heimlich und mit viel Getuschel verabfolgte sie Mabel dann und wann eine Tasse vorzüglichen Kaffee und kleine Geschenke wie eine Schachtel Schwefelhölzer, ein Röllchen Baumwolle oder einen Brief Stecknadeln. Einmal verstieg sie sich sogar zu einer blauen Perlenkette und einem schadhaften Porzellanhund – aber das war an Mabels Geburtstag.

Jetzt war es Herbst und Dolly war durch eine böse Erkältung – die Folge dünner Schuhe und nasser Füße – ans Zimmer gefesselt. Sie sah sehr elend aus, und ihr rauher Husten hallte kläglich in dem weiten, leeren Treppenhause wider. Madame kam häufig mit ihrem Fußwärmer herüber und leistete ihr Gesellschaft. Auch sie war leidend und schlecht aufgelegt. Ihre Besuche bei Dolly waren nicht ganz selbstlos: sie war ihrer eigenen Gesellschaft, ihrer Gedanken und Romane überdrüssig, sie hatte es sogar satt, am Feuer zu sitzen und sich, alte Weisen summend, in die Bewunderung ihrer noch immer hübschen Füße zu vertiefen. Im Hinterzimmer war es langweilig, während es vorn verhältnismäßig unterhaltend war – man konnte dort binnen einer Stunde zwei Lastwagen und eine Droschke vorbeikommen sehen. Außerdem gab es Milchkarren und Briefträger, sowie Polizisten und Bettler.

Die alte Dame verfiel sichtlich, und die arme Mabel hatte zwei Kranke statt einer zu pflegen. Sie selbst hatte ihren leichten Schritt und ihr sonniges Lächeln verloren. Wenn der Husten Dolly Stunde um Stunde nicht schlafen ließ, so tat die Sorge das gleiche bei Mabel. Dennoch behaupteten beide, sie schliefen vorzüglich.

Madame ergab sich endlich und wurde bettlägerig. Mrs. Cooney fand es geboten, einen Arzt holen zu lassen, einen gescheiten, rührigen jungen Mann, der seine Besuche zu Fuß machte und viel Armenpraxis hatte.

» Mir können Sie nicht viel helfen,« redete Madame ihn unumwunden an, als er bei ihr eintrat. »Die Maschine ist alt, das Werk abgenutzt, n'est-ce pas, mon ami?

Er fühlte ihren schwachen Puls und gab keine Antwort. Wie weise ist Schweigen!

»Aber nebenan ist ein Mädchen von zweiundzwanzig – pauvre enfant! Sie hat einen Husten, c'est affreux; aber ich glaube, sie kann noch gerettet werden. Klopfen Sie an und sagen Sie, ich hätte Sie geschickt.« Damit drückte sie ihm ein Goldstück in die solcher Berührung ungewohnte Hand.

Der Doktor fand die Schwestern vermummt – sie hatten kein Feuer – das Zimmer war dumpf und kalt, aber zierlich und in seiner Art sogar fein eingerichtet. Man sah Lehnstühle, die zwar sehr wacklig, aber anständig bezogen waren, Kissen aus allerhand Resten, einen dito Ofenschirm, ein paar Gemälde und Familienbilder – lauter Überbleibsel aus einer andern Häuslichkeit. Er redete bedächtig mit Dolly, stellte ein paar beiläufige Fragen, untersuchte ihre Lungen, sah ihr prüfend ins Gesicht und ging, gefolgt von ihrer zitternden Schwester. Wie würde sein Spruch lauten: Leben oder Tod?

»Nun?« fragte sie endlich. »Sagen Sie mir, bitte, die Wahrheit.«

»Sie ist zart. Die eine Lunge ist unzweifelhaft angegriffen. Sie ist sehr herunter – dies kalte, klamme Zimmer ist Gift für sie. Sie braucht nahrhafte Kost: Eier, Fische, Geflügel, Milch, Portwein und, wenn möglich, Austern.«

Er zögerte und sah Mabel fragend an, dann hob er mahnend die Hand und setzte hinzu: »Bringen Sie sie fort – fort aus dieser feuchten Kälte in ein warmes Klima. Das allein kann sie retten. Wenn sie den Winter übersteht, können wir sie durchbringen. Gehen Sie mit ihr nach den Kanarischen Inseln, nach Algier oder in die Provence.«

»Warum nicht lieber gleich in den Himmel?« rief Mabel leidenschaftlich, die erstarrten Hände um das Geländer klammernd.

»Haben Sie keine Angehörigen?« fragte er.

»Nein, niemand, der uns mehr als einen langen Brief mit Ratschlägen und eine Postanweisung auf zehn Schilling spenden würde,« versetzte sie bitter.

»Dann helfe Ihnen Gott! Ich fürchte, die Sache steht schlimm,« entgegnete er seufzend. Ach, wie viele solche traurige Fälle kamen ihm auf seinen täglichen Gängen vor! Fälle, wo Gold, milde, warme Luft, Sonnenschein und Pflege Leben geben könnten, während die hohläugige Armut auf elendem Lager, in dumpfer Hinterstube sterben muß. Und dann versichert man uns, in hundert Jahren sei alles einerlei!

»Sie glauben also, daß meine Schwester verloren ist?« sagte Mabel Doran langsam und mit Anstrengung. »Daß ich mich von ihr trennen, Tag für Tag Abschied von ihr nehmen und sie vor meinen Augen zollweis sterben sehen muß?«

»Solange Leben ist, ist Hoffnung,« erwiderte der Arzt mit schlecht gespielter Zuversicht. »Ich werde wieder vorsprechen und ein Hustenmittel bringen. – Die alte Französin drüben wird gut tun, ihre Angelegenheiten zu ordnen; benachrichtigen Sie die Angehörigen.« Damit eilte er die Treppe hinab; denn seine Zeit war kostbar, wenn auch nicht für seinen Geldbeutel.

Die arme Mabel blieb stehen, bis seine Schritte verhallt waren: ihr war die Kehle wie zugeschnürt, sie wagte weder Dolly, noch selbst Madame vor Augen zu treten; sie mußte sich erst ausweinen.

Die beiden Dachstuben waren leer, so schlich sie denn die Bodentreppe hinan und setzte sich auf die oberste Stufe. Dort vergrub sie den Kopf in die Schürze und tat nach dem Bibelwort: sie hob ihre Stimme auf und weinte bitterlich.

Am selben Abend schrieb Mabel an ihre Verwandten und warf sich ihnen, bildlich gesprochen, zu Füßen: alles – alles! nur Dolly retten. – Sechzig Pfund, gut eingeteilt, waren der Preis für ihr Leben, und Mabel wollte Tag und Nacht arbeiten, um das Geld zurückzuerstatten. Es war ein inbrünstiger, flehender Hilferuf. Sie trug ihn selbst zur Post und ging dann hinüber, um Madame für die Nacht zurechtzumachen und ihr ihre Pläne zu erzählen für den Fall, daß der Brief Erfolg hätte.

Wie das Zimmer nach Kaffee, Petroleum und Zwiebeln roch! Madame saß lesend im Bette; sie ließ ihr Feuilleton sinken und hörte ernst zu.

Sie war selbst seit vierunddreißig Jahren nicht in Paris gewesen. – »C'est changé sans doute,« räumte sie ein – aber sie nannte ein gediegenes kleines Gasthaus, das, wie sie glaubte, noch bestand. Sie sprach von dem sonnigen Süden, seinem blauen, blauen Meer, seinen Blütenwogen und Orangenhainen – als sie aber auf Arles, ihre Geburtsstadt, kam, rannen Tränen über ihr altes Gesicht.

»Schön wie eine Arlesierin! Ja – und auch ich hatte meinen Tag. Ich war einst eine Schönheit; ich genoß meinen kurzen Frühling. Hélas, la jeunesse n'a qu'un temps! Le bonheur n'aime pas ceux qui vieillissent. La fin de la vie ne vaut jamais grand' chose. Enfin! Ich nützte meine Zeit. Ich wurde bewundert, gefeiert, gefürchtet – oui, ma parole d'honneur – moi – qui vous parle – la misérable Vouvray – ich war mächtig und stiftete manches Unheil, und auch einiges Gute ...« Sie hielt inne und lächelte, als riefe sie sich Stunden des Glückes und des Triumphes zurück. Mabel kannte das Lächeln; sie hatte es oft um die dünnen Lippen der alten Dame flackern sehen, wenn diese am Kamin saß und summend fernen Träumen nachhing oder ihren feingeschwungenen Spann bewunderte.

Trotz all ihrer Wunderlichkeiten war Madame zweifellos eine wirkliche Dame; ihre Hände und Füße bezeugten ihre gute Abkunft, auch war sie vorzüglich erzogen, sprach und las Englisch, spielte mit ihren steifen alten Fingern Gitarre, schrieb eine schöne Handschrift und las nicht allein Romane, sondern auch ernste Bücher, die Werke Racines, Corneilles, Voltaires und Fénélons. Früher waren diese in roten Saffian gebunden und mit einer prunkenden, wenn auch etwas erblindeten, goldenen Krone bedruckt gewesen; aber ach! jetzt waren diese armen Fremdlinge splitternackt. Madame hatte ihnen eines Abends die prächtigen Saffiandeckel vom Rücken gerissen und diese ins Feuer geworfen. Wie garstig es damals nach dem verbrannten Leder roch! Die Dorans fragten einander besorgt, was nur die alte Dame gekocht haben könne.

Ein Tag nach dem andern verging, und Madame wurde nicht müde, herrliche Luftschlösser für ihre jungen Freundinnen zu bauen; aber diese Paläste zerrannen, während Dollys Husten so zunahm, daß selbst der Geiger und der Nickeleinsammler dadurch gestört wurden.

Auch Madame wurde zusehends schwächer und ließ es tatsächlich geschehen, daß Mabel sie ohne Perücke und Schminke erblickte: und ohne diese sah sie reichlich achtzigjährig aus. Sie hatte eine Menge Geld in einem alten Brokatärmel aufgespeichert, den sie zusammengeballt unter ihrem Kopfkissen verwahrte. Daraus zahlte sie mit Ach und Weh kleine Beträge an Mabel für ihre eigenen dürftigen Ausgaben.

»Ich habe übergenug zu meinem Begräbnisse,« erklärte sie, »und es wird bald stattfinden. Ein einfacher Tannensarg, kein Denkmal, kein Leichenstein: Vouvray ist nicht mein wirklicher Name, Vouvray ist ein Wein« – sie kicherte – »und zwar kein übler Wein.«

Madame weigerte sich hartnäckig, einen Arzt anzunehmen, ließ sich aber eines Tages herbei, einen Priester zu empfangen. Dieser besuchte sie wiederholt, und eines Abends klopfte er bei den Dorans. Mabel starrte ihn verwundert an, als sie ihm öffnete, denn bei dem winterlichen Dämmerlicht dachte sie zuerst, er trage ein krankes Kind; bald aber unterschied sie, daß er den Ärmel in seinen Armen hielt. Der Brokat dieses eigenartigen Behälters war sehr mürbe, dazu war er straff mit Gold und Papiergeld vollgestopft und sah nicht aus, als ob er eine Reise überstehen könne.

»Wollen Sie mir freundlichst einen Sack oder Korb leihen?« fragte der Priester. »Sonst rollt, fürchte ich, alles Geld auf die Erde und die Domnickstraße wird mit Gold gepflastert.«

»Also hat sie ihn Ihnen geschenkt?« rief Mabel, während sie bemüht war, das Bündel in einen Korb zu quetschen.

»Ja; sie sagt, es seien mindestens dreihundert Pfund darin. Ein Teil ist für die frommen Schwestern, ein Teil zu Seelenmessen für einen Verstorbenen bestimmt. Den Hauptteil ihres Vermögens aber sollen Sie erhalten.«

»Ich glaube nicht, daß sie mehr hat, als was in diesem Ärmel zusammengespart war,« sagte Mabel ernst.

»Nun, jedenfalls hoffe ich für Sie, daß sie noch etwas hat. Ich schicke Ihnen den Korb morgen mit bestem Dank zurück.« Damit empfahl er sich.

Madame wurde täglich matter; sie starb friedlich an Altersschwäche dahin.

»Der Artikel im ›Figaro‹ hat mir den Rest gegeben,« erklärte sie. »Ich lachte so darüber, daß es mein armes bißchen Lebenskraft erschöpfte. Der Scherz hat mich getötet. – Haben Sie Nachricht von den Barbaren?«

Mabel schüttelte traurig den Kopf.

»Seien Sie unverzagt, Marie, à coeur vaillant rien d'impossible. Sie sollen doch nach dem Süden gehen.«

»Aber ich habe kein Geld. Ich habe sogar meiner Mutter Uhr verkauft, um nicht Schulden machen zu müssen.«

»Nun, ich werde Ihnen etwas schenken, das Sie verkaufen sollen, und das mehr einbringen wird als eine Uhr – aber erst, wenn ich tot bin, chérie. Beten Sie, daß ich bald und kampflos scheide. Ich möchte vite – vite hinübergehen, damit Dolly erhalten bleibt. In diesem Buch hier liegen zwei Briefe, die seit zehn Jahren Marke und Aufschrift tragen. Geben Sie sie selbst zur Post, sobald ich hinüber bin, und geloben Sie mir, daß Sie die Aufschrift nicht lesen wollen.«

»Ja das gelobe ich Ihnen.«

»Öffnen Sie jetzt das Bureau. Geben Sie acht auf den großen gläsernen Armleuchter am Boden – er war ein hervorragender Kauf! Nun stecken Sie die Hand in die oberste Schieblade und tasten Sie umher, bis Sie auf eine Schachtel treffen. Haben Sie sie? Dann bringen Sie sie mir. Ich habe keine Verwandte – das ist alles, was ich besitze, und ich habe es teuer erkauft. Es ist mein Geschenk, mein Vermächtnis, für Sie und Ihre Schwester Dolly.«

Madame hatte sich bei diesen Worten mit äußerster Anstrengung aufgerichtet und bemühte sich, ein Ende Fensterschnur zu lösen, das eine zertrümmerte Pappschachtel zusammenhielt. Endlich kam sie damit zu stande und zog ein dickes Päckchen heraus, das in Zeitungspapier und schwarze Watte gewickelt war. Diesem entnahm sie schließlich ein breites grünes Halsband nebst Bruststück, Diadem, Armbändern, Spangen und Ohrringen, alles genau übereinstimmend. Die Steine schienen dunkelgrünes Glas zu sein; sie waren ungewöhnlich groß (protzig) und in zierlichstes Goldfiligran gefaßt.

»Hier ist Ihr Vermögen, Marie! Dies sollen Sie verkaufen, wenn ich nicht mehr bin, und wenn ich hier hüben in Ihrem Lande auf einem schrecklichen, dumpfen Kirchhof liege, werden Sie und Dolly, so Gott will, in einem irdischen Paradiese sein, umflutet von der strahlenden Sonne meiner Heimat. Dann müssen Sie auch nach Arles gehen, chérie, nach meinem lieben Arles, meiner Vaterstadt. Küssen Sie einen seiner Steine in meinem Namen.«

Mabel nahm den Schmuck mit geziemender Dankbarkeit entgegen – er war natürlich grünes Glas und vollkommen wertlos – aber die Absicht der Geberin war freundlich. Die arme alte Dame hatte ihn gewiß in irgend einer Versteigerung aufgestöbert, wie den Leuchter, und glaubte, einen zweiten »hervorragenden Kauf« gemacht zu haben.

»Ei, ei! méchante,« rief sie erregt, »ich sehe, Sie halten die Steine für falsch! – Aber es sind echte Smaragde und Schmuck, der herrlich ist. Ich wünschte ihn mir einst brennend und erhielt ihn im Austausch gegen etwas Wertvolles – ein – ein – Geheimnis« – sie richtete sich höher auf und wiederholte mit funkelnden Augen: »ein– Staats-geheimnis – ein –« Plötzlich jappte sie ein paarmal auf und sank langsam in die Kissen zurück, während das schwere Halsband ihren kraftlosen Händen entglitt. Ja, es war vorüber. In einem Augenblick war Madame verschieden – vite – vite – wie sie es sich gewünscht hatte, und hinübergegangen in ein Land, wo alle Geheimnisse offenbar sind.

*

Da die alte Französin keine Angehörigen hatte, wurden ihre Habseligkeiten auf einer ihrer geliebten Versteigerungen zerstreut, und die würdige Dame ward schnell und völlig vergessen. Sechs Wochen nach ihrem Tode erinnerten die meisten sich an nichts mehr von ihr, als an ihren großen blauen Regenschirm. Der Regenschirm wurde ihr Denkmal.

Mittlerweile arbeitete Mabel hart, um ihre Kranke mit Nahrung, Feuerung und Licht zu versorgen. Wiederholt hatten die Schwestern Madames Vermächtnis vorgenommen, es klopfenden Herzens besichtigt und seufzend wieder weggelegt. Die großen, dicken grünen Steine hatten auch nicht den kleinsten Makel, und Smaragde, selbst die wertvollsten, sind bekanntlich immer »voll Flecken«.

Eines Tages nahm Dolly zum Zeitvertreib das Diadem vor und putzte es blank. Die Fassung war unstreitig wunderbar zierlich und schön, und die Juwelen sprühten blendende Lichter aus ihren ernsten, dunklen Tiefen. Ob sie am Ende doch echt waren? Weshalb sich nicht erkundigen?

Sie ruhte nicht eher, als bis Mabel ihren Mut zusammennahm und mit dem Halsband zu einem Juwelier ging. Ein Gehilfe trat vor, hörte ihre schüchterne Erklärung an, öffnete nachlässig das Päckchen und besah mit leisem Lächeln den Schmuck.

»Darf ich fragen, wofür Sie diese Steine halten?« fragte er mit belustigter Miene.

»Mir wurde gesagt, es wären Smaragde,« antwortete sie errötend.

»Smaragde!« (Seine Stimme klang entrüstet.) »Warum nicht gar! Sie scheinen französischer Glasfluß zu sein. Sie wären für einen Maskenanzug oder ein Bühnenkostüm passend.« Damit rollte er das Halsband zusammen und gab es ihr mit einer nachlässigen Verbeugung zurück. »Sie sind übrigens nicht schlecht nachgemacht,« fügte er hinzu.

Nach dieser herben Abweisung wurden die grünen Schmucksachen beiseite gelegt. Aber vierzehn Tage darauf führten der Stachel der Not und die ihr eigene Beharrlichkeit Mabel und das Halsband zu einem Trödlerladen nahe am Liffey. Es war derselbe, in dem sie ihrer Mutter Uhr veräußert hatte. Wenn es nicht so dunkel gewesen wäre, hätte sie sie im Schaufenster wiedersehen können, mit einem Preise ausgezeichnet, der sie überrascht haben würde.

Der junge Mann, an den sie die Uhr verkauft hatte, grinste, als er ihr das Päckchen abnahm.

»Diesmal ist es eine Schlaguhr,« rief er scherzend. »Das fühle ich am Gewicht.«

Er wickelte das Papier auf und erblickte ein Halsband. Er war ein schwerfälliger Mensch mit flämischem Blut in den Adern, und an die sonderbarsten Angebote gewöhnt.

»Holla! Man kann wahrhaftig meinen, man sei auf der Smaragdinsel, wenn man das sieht!« – Er lachte meckernd und hielt das Halsband in die Höhe. Als er sich jedoch eine Lupe ins Auge geklemmt hatte, verschwand das Grinsen, und sein Gesicht wurde ernst, ordentlich feierlich. Er prüfte den Schmuck genau und bedächtig und gab dann sein Urteil ab. »Glas! Und für Glas nicht übel. Aber in der Fassung steckt der Zauber – altes französisches Muster, alt und eigenartig – jedoch natürlich unecht. Vielleicht nimmt Mr. Duck es der Merkwürdigkeit wegen; ich will ihn mal fragen.« Nun rief er seinen Herrn in den entferntesten Teil des Ladens, und beide hielten eine gemurmelte Beratung, die Mabel endlos vorkam, in Wahrheit aber nicht länger als zehn Minuten dauerte. Sie begann unruhig zu werden. Es war weit über Sieben und ein trüber, kalter Abend, doppelt unheimlich in diesem wüsten, unwirtlichen Stadtteil. Sie konnte ja morgen wiederkommen. Endlich kam der Besitzer des Ladens nach vorn und sagte, sich die schmutzigen, fetten Hände reibend: »Na, fünf Pfund will ich Ihnen meinetwegen dafür geben, Miß.«

Fünf Pfund für Glas und Messing! Und sie brauchte das Geld so nötig! Mabel zögerte einen Augenblick. Schon schwebte ihr das zustimmende Wort auf der Zunge, da fing sie in einem Spiegel ein verschmitztes Zwinkern auf, das der Ladendiener seinem bereits die Kasse aufschließenden Herrn zusandte.

Augenblicklich verwandelte sich ihr Ja in ein »Nein, ich danke.«

»Nein? Nicht für fünf Pfund!« rief der Alte, den Schmuck verächtlich um und um drehend.

Sie trat unversehens näher an den Ladentisch.

»Sehen Sie, liebes Fräulein, ich mache gern einen kleinen Handel mit 'ner hübschen jungen Dame, und Kunden tun mir's manchmal an wie Sachen – Sachen ohne eigentlichen Wert. Ich bin nicht bloß Uhrmacher und Juwelier, sondern auch Raritätensammler. Wissen Sie was – es ist freilich Raub an meinen Kindern – aber ich will Ihnen zehn Pfund für das Halsband geben, zehn blanke Sovereigns.« Er verschlang den Schmuck mit den Augen, offenbar gefiel er ihm je länger je besser.

»Nein, ich danke,« entgegnete sie fest.

»Was will eigentlich die Dame?« fragte er seinen Gehilfen in klagendem Tone.

»Sie denkt doch nicht etwa, die Steine seien echt! Haha!«

Wenn die Fassung echt war – und daran ließ Mr. Ducks Angebot keinen Zweifel – warum sollten die Steine es nicht auch sein? Weshalb waren die Männer so eifrig, so voll verhaltener Aufregung? fragte Mabel sich.

»Zwanzig Pfund!« er schlug mit der Faust auf den Tisch. »So ein Angebot bekommen Sie nie wieder. Gott du gerechter! Nie!«

Das Mädchen, das jetzt am ganzen Körper zitterte, glaubte zu bemerken, daß der Gehilfe sich sachte zwischen sie und die Tür zu postieren suchte. Der Prinzipal sah dunkelrot aus, seine dicke Unterlippe geiferte und zuckte, der Schweiß stand ihm auf der Stirn, als er schrie: »Fünfzig Pfund! Siebzig Pfund!«

»Nein!« rief Mabel fast kreischend und riß mit plötzlichem Griff das Halsband vom Ladentisch. Im nächsten Augenblick war sie draußen auf der dunkeln, nassen Straße und lief davon, so schnell ihre Füße sie trugen.

Einmal wandte sie unwillkürlich den Kopf und sah zwei Gestalten in der erhellten Tür stehen, von denen die eine sich anschickte, ihr zu folgen. Sie stürmte um die Ecke, flog eine enge Gasse hinauf, rannte gegen eine betrunkene Megäre, die entsetzlich fluchte, bog dann endlich in eine erleuchtete Straße und hörte, o Wonne! das wohlbekannte Klingeln der Straßenbahn. Eilig kletterte sie in den Wagen. Einerlei, wohin er fuhr – sie war in Sicherheit. Die Leute starrten verwundert das blasse, durchnäßte Mädchen an, das keuchend zwischen ihnen saß und ein breites grünes Halsband (oder war es ein Rosenkranz?) lose in der zitternden Hand hielt.

*

An jenem Abend überlegten die Schwestern lange hin und her und kamen endlich überein, den Pfarrer des Kirchspiels, Herrn Patrick Capel, um Rat und Beistand anzugehen. Er sowohl als seine Frau hatten den verwaisten Mädchen stets Wohlwollen gezeigt, aber der Stolz der beiden war noch größer als ihre Armut, und wenn sie auch stets höflich und verbindlich waren, schraken sie doch vor jedem Entgegenkommen zurück – offenbar hegten sie den Verdacht, der Beweggrund könne Mildtätigkeit sein. Nie fanden sie sich zum Tee im Pfarrhause ein, obgleich sie bereitwillig an Nähkränzchen teilnahmen, die Missionszeitung hielten und Sonntags selten den Sammelteller vorübergehen ließen. Mrs. Capel, die mannigfache Kirchspielspflichten hatte, war wiederholt bei ihnen gewesen, hatte sie aber nie zu Hause gefunden und erklärte sie bei sich für ein paar hübsche, liebe, aber völlig unzugängliche Mädchen. Sie ahnte nicht, wie arm sie waren, wie lange ein Brot, ein Licht bei ihnen vorhalten mußten, und daß sie die Kohlen pfundweis kauften!

Mr. Capel war daher nicht wenig erstaunt, als ihm eines Tages gemeldet wurde, die ältere Miß Doran wünsche ihn in einer besonderen Angelegenheit zu sprechen und warte seit über einer Stunde im Wohnzimmer. Er ging sofort hinein, steckte das Gas an, und begrüßte Mabel. Es fiel ihm auf, wie elend sie aussah – oder war es das Licht? Bald darauf lauschte er mit größtem Anteil ihrer Erzählung, während seine Augen mit ebenso großer Unerfahrenheit auf dem Schmuck ruhten.

»Nun hören Sie, was ich tun will,« sagte er lebhaft. »Lassen Sie die Steine hier. Ich werde sie in mein Pult schließen. Ich habe in meiner Gemeinde einen Juwelier, einen vortrefflichen Mann, auf dessen Sachkenntnis und Ehrenhaftigkeit Sie sich unbedingt verlassen können. Dem will ich den Schmuck zeigen und Ihnen sein Urteil dann sofort mitteilen. Lautet es günstig, so schicken wir die Steine nach London und sehen, was sich machen läßt. Wenn meine Frau nach Hause kommt, will ich sie ihr zeigen. Sie wird sie sicherlich bewundern; denn ob wertvoll oder nicht, jedenfalls sind sie wunderbar schön. Sie sind meine Lieblingsedelsteine. Wie Sie wissen werden, ist der vierte Grundstein der heiligen Stadt ein Smaragd, gewiß nicht klarer oder makelloser, als diese hier.«

Und sicher hatten sie nie prächtiger, echter, würdiger ausgesehen, als jetzt, wo das ganze Geschmeide unter der Gasflamme auf des Pfarrers hochroter Tischdecke lag.

Am nächsten Nachmittag klopfte es an die Tür der Misses Doran, und herein traten, zum nicht geringen Schrecken der beiden Mädchen, der Pfarrer und seine Frau. Die Besucher hatten es vermieden, am Haupteingang zu klopfen und so die stehende Lüge des Hausmeisters umgangen.

O welch ein ärmliches, kaltes Zimmer es war! Aber ordentlich, fein und etwas auf sich haltend, gerade wie seine Bewohnerinnen. Mrs. Capels rasches Auge erfaßte manche kleinen Kunstgriffe, die es wohnlich machten; sie bemerkte auch, daß kein Feuer brannte.

»Ich bringe gute Kunde,« sagte der Pfarrer, den Schwestern die Hand schüttelnd. »Ich habe die schönen Steine heute morgen meinem Freunde, dem Juwelier, gezeigt, und er erklärte sie für echt – für echte Smaragde von ungeheurem Wert.«

»Aber der erste Juwelier ...« fing Dolly an.

»Freilich,« fiel Mrs. Capel ein. »Ihre Größe und Makellosigkeit führte die Leute irre – derartige Steine sind überaus selten, selbst in London und Amsterdam, geschweige denn hier. Ein Juwelier, dem solch herrliche Smaragde in Zeitungspapier gewickelt über den Ladentisch gereicht wurden, wäre nie auf den Gedanken gekommen, sie ernstlich zu untersuchen.«

»Allerdings,« gab der Pfarrer zu, »aber der alte Trödler hatte seine Vermutungen, und Sie können sich glücklich schätzen, ihm entkommen zu sein. Denken Sie nur – wenn Sie den Schmuck für fünf Pfund verkauft hätten! Ich kann Ihnen sagen, daß Harris Foley, der Juwelier, ganz blaß wurde, als ich ihm Ihr Abenteuer erzählte.«

»Wir haben einen ausgezeichneten Plan,« sagte Mrs. Capel. »Sie müssen beide zu uns ins Pfarrhaus ziehen.« Sie sah eine Ablehnung auf Mabels Lippen schweben und fuhr fort: »Nein, bitte, lassen Sie mich ausreden. Sie, Miß Mabel, sollen sofort nach London hinüberfahren. Wir können Ihnen eine gute, ruhige Pension empfehlen, und ein Bekannter von uns wird für Sie unterhandeln und die Smaragde so vorteilhaft als möglich veräußern. Natürlich kann sich das ein wenig hinziehen ...«

»Aber,« fiel Mabel hastig ein, »ich muß Ihnen offen sagen, Mrs. Capel, daß wir ausschließlich auf meinen Wochenverdienst angewiesen sind. Und selbst wenn ich die Mittel hätte, nach London zu gehen – was soll aus uns werden, wenn ich meine Schüler verliere!«

»Ich sehe, Sie glauben noch nicht an Ihr Glück,« sagte der Pfarrer. »Ich aber glaube daran und werde Ihnen eine Summe Geldes vorstrecken, ob Sie wollen oder nicht. – Sie sind meine Pfarrkinder und haben mir zu gehorchen,« schloß er kopfnickend. Er war ein stattlicher Sechziger, groß und aufrecht, mit gütigem Gesicht und gewinnendem Lächeln.

»In einer Stunde schicken wir eine Droschke nach Ihnen,« fügte die umsichtige Pfarrerin hinzu, »falls Sie mich nicht hier behalten und packen helfen lassen wollen. – Gut denn, ich gehe – wenn Sie aber nicht Punkt vier Uhr im Pfarrhause sind, komme ich und hole Sie.« Damit empfahl sich das Ehepaar.

Mrs. Capel konnte jedoch die Schwestern nicht bewegen, sich zu trennen, obgleich sie gehorsam im Pfarrhause blieben, in großer Verwirrung und Bangigkeit der Entscheidung harrend. Madames Vermächtnis wanderte inzwischen nach London, um sein Glück zu suchen. Nach einiger Zeit kam die erstaunliche Kunde, nicht nur daß der Schmuck aus unvergleichlichen Smaragden bestand, sondern daß er wiedererkannt und eidlich als ein Satz berühmter und vor langer Zeit abhanden gekommener Juwelen aus dem französischen Kronschatz bestätigt worden war – ja, mehr noch: daß die französische Regierung willens war, ihn für den Preis von zehntausend Pfund Sterling zurückzukaufen.

Als Mabel und Dolly diese Wundermär vernahmen, glaubten sie zu träumen. Bald aber begriffen sie, daß es herrliche Wirklichkeit war. Ihre gütigen Beschützer brachten die Sache schleunigst ins reine, die Edelsteine wurden gegen einen Scheck vertauscht, und kurz darauf folgten die Schwestern ihnen nach Paris. Sie gingen nach dem Süden, wie ihre Wohltäterin es vorausgesagt hatte, und dort in der weichen, milden Luft und unter der goldenen Sonne gewann Dolly nicht allein eine Gnadenfrist, sondern neues Leben. Das glückliche Schwesternpaar pilgerte treulich nach Arles und erfüllte gewissenhaft Madames Bitte. – Wer sie war, oder wie sie in den Besitz der Kronjuwelen gelangt war, ist ein Geheimnis (vielleicht ein Staatsgeheimnis), das bis auf den heutigen Tag den Gegenstand müßiger Erwägungen und törichter Vermutungen bildet. Aber die Hand, die den Schlüssel des Rätsels hielt, ist Staub, und das Geheimnis ist mit Madame Vouvray gestorben.


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