Louis Couperus
Der verliebte Esel
Louis Couperus

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14.

Von den Räubern umringt schritt ich nun weiter mit der weinenden Charis auf meinem Rücken durch den Apfelgarten, dann durch einen Eichenwald, bis wir uns der weißbestäubten Wand des Gebirges näherten, das sich ungeheuer und tausendfach getürmt wie eine seltsame Burg erhob. Es nahm mich wunder, wohin sie uns führen würden, bis der Räuberhauptmann sprach: »Jungfrau! Weinet jetzt nicht länger und duldet, daß ich Euch meinen Mantel über das Gesicht breite! Denn Ihr dürft nicht sehen, wohin ich Euch führe. Fürchtet Euch aber nicht! Es soll Euch nichts Böses geschehen. Ich wünsche nur von Euren Eltern oder Anverwandten ein Lösegeld zu empfangen. Sobald Ihr uns die nötigen Aufklärungen gegeben habt, werden wir uns mit ihnen in Verbindung setzen, und ich will hoffen, daß Ihr mit Eurem Esel alsbald wieder frei sein werdet.«

Sein Ton war so höflich, daß Charis in der Tat zu jammern aufhörte und es duldete, daß er ihr seinen Mantel über das Gesicht warf. Währenddessen beobachtete ich alles sehr genau, und wenn ich auch während eines flüchtigen Augenblicks daran gedacht hatte, mich den Räubern zu erkennen zu geben, so hütete ich mich jetzt doch wohl, dies zu tun. Einem Esel verbanden sie nicht die Augen, wie sie es bei einem Manne getan haben würden. Einen Esel ließen sie frei sich umsehen und alles beobachten. Und ich beobachtete, während wir an der weißen Wand des Gebirges vorüberzogen – das erhob sich hier und dort wie mit kalkweißen, halb zerbröckelnden Tafeln –, daß die Räuber, die uns überwältigt hatten, keine rauhen, wilden Männer waren, sondern daß viele von ihnen vielmehr Männer von einem gewissen Ansehen zu sein schienen. Es hatte den Anschein, als seien unter ihnen Herren und Diener. Der Hauptmann selber, den seine Genossen Dionysius nannten, war ein gut gebauter, junger Mann, stolz und gebieterisch, doch äußerst verbindlich zu seinen Gefangenen, und kein unschickliches Wort erlaubte sich einer von ihnen Charis gegenüber. Sie lachte jetzt schon etwas gelassener in den Mantelfalten, die Dionysius beinahe scherzend um sie breitete. Ich aber beobachtete und beobachtete. Ich bemerkte, daß sie uns plötzlich in einen so engen Spalt des Gebirges führten, daß ich kaum meinen gut genährten Leib hindurchzuwinden vermochte, während sie Charis ersuchten, ihre Füßchen auf meinen Nacken zu setzen. Einer von ihnen führte mich an dem Büschel, das zwischen meinen Ohren hing, in den engen Bergspalt hinein. Dionysius folgte. Alle übrigen Männer folgten einer nach dem anderen. Wenn ich versuchte, um mich zu schauen, gewahrte ich in dem dämmrigen Licht, das der Tag zwischen den hohen Mauern hineinsandte, daß sie wohl zufrieden waren und miteinander scherzten, konnte ich ihre schönen Abenteurergesichter besser unterscheiden unter den Rändern der sorglos zurückgeschobenen Hüte, sah ich ihre kostbaren Waffen blitzen unter ihren jetzt lockerer umgehangenen Mänteln. Ihre Schwerter und Dolche waren mit Steinen eingelegt. Einer, der hinter mir herschritt, machte auf mich einen besonderen Eindruck durch seine düstere Erscheinung. Er war so groß wie Dionysius. Dichte Brauen überschatteten seine zugekniffenen, kohlschwarzen Augen. Seine Genossen nannten ihn Manes. Wie lange wir dem sich windenden Gang des Spaltes folgten, vermochte ich mir nicht klarzumachen, als es mir plötzlich zum Bewußtsein kam, oder ich es vielmehr erriet durch eine Art von Tierinstinkt, der sich neben meinem Menschenverstand entwickelt hatte, wie die Räuber immer wieder auf demselben Wege zurückkamen, auf diesem sich schleifenähnlich windenden Mäanderwege, so daß also der Eingang an der Bergwand sehr nahe bei der Höhle gelegen sein müsse, in die sie uns hineinführten. Diese Höhle erhielt durch lange, schmale, unregelmäßige Spalte Bündel von Sonnenstrahlen auf der Südseite – ein Tier wittert sogleich Windstrich und Richtung –, durch andere Spalte blaute der sommerliche Himmel, und das Licht fiel so klar und blendend herein, daß ich sogleich alles zu erkennen vermochte, während allem Anschein nach diese Fensteröffnungen sich von außen gesehen in den unzähligen Klüftungen des Gebirges verloren und dadurch auch für den kühnsten Bergsteiger unerreichbar waren. Dionysius befreite Charis von dem Mantel, der ihr die Augen verhüllte.

»Wo bin ich?« fragte sie ängstlich, während er ihr beim Absteigen behilflich war.

»Bei mir,« erwiderte lächelnd Dionysius. »Sagt mir jetzt, Jungfrau, wer Ihr seid!«

»Ich bin«, antwortete Charis ohne Arg, »Charis, die Tochter des Menedemus aus Hypata.«

»Die Tochter des Menedemus?« rief Dionysius höchst verwundert aus.

»Die Tochter des Menedemus?« riefen auch die anderen Räuber.

»Die ich entführen wollte,« flüsterte Dionysius seinen Spießgesellen zu.

»Die wir entführen wollten, um ein hohes Lösegeld zu erzielen,« riefen die anderen.

Während sie an meiner Seite stand und sich mit ihren Armen auf meinen Nacken stützte, sagte Charis mit einer erklärenden Handbewegung: »Dies ist Charmides, der Sohn des Lysias aus Epidaurus. Er ist mein Verlobter.«

Lächelnd deutete sie auf mich. Die Räuber erschraken über das, was sie sagte.

»Dieser Esel?« fragte Dionysius. »Dieser Esel heißt Charmides und ist der Sohn eines anderen Esels, der Lysias heißt und in Epidaurus wohnt?«

Vor lauter Verwunderung brachen die Räuber in ein wieherndes Gelächter aus.

»Charmides, edle Herren,« sprach Charis ohne Arg und so, wie eine Jungfrau von Ansehen zu sprechen gewohnt ist, »ist kein Esel. Er ist ein Held, der verwundet aus dem Kriege zurückkehrte und der seine Sprache beinahe völlig verlor, obwohl er meinen Namen so zärtlich ausspricht, wie es selbst mein Vater nicht vermag. Er ist mein Verlobter. Wir feierten unsere Verlobung in froher Pracht, und prächtig ist auch er selber nun, da er genesen ist und nur seine Sprache noch nicht völlig zurückgewonnen hat. Er ist prächtig in seiner neuen Gestalt, die ihr zu Unrecht für die eines Esels haltet. Wo sähet ihr jemals, ihr Herren, irgendein Wesen mit solch einem glänzenden, silberähnlichen Fell, mit solchen starken Beinen, mit solchem anbetungswürdigen, lieben, feuchten Maule, mit solchen lieben, beweglichen Ohren und mit so blauen Augen?«

Sie deutete noch immer auf mich, und die Räuber standen ringsumher, entsetzt. Dann sprach Dionysius: »Ihr Geist ist irre.«

»Sie ist wahnsinnig,« sagte Manes.

»Sie ist wahnsinnig,« wiederholten alle anderen.

»Sagt mir, Charis!« sprach Dionysius. »Warum irrtet Ihr so weit weg von Eures Vaters Hause durch diese Gegend, die ein jeder fürchtet? Warum aßet Ihr die Äpfel in unserem Garten?«

»Das Landhaus meines Vaters ist eingestürzt. Es gab ein heftiges Erdbeben, und Charmides rettete mich. Mein Vater! Meine Brüder und Vettern! Wo seid ihr? Wo seid ihr? Tot oder gerettet?«

Sie begann heftig zu schluchzen.

Ich iahte leise: »Cha – i!«

»Ja, Charmides!« rief Charis, während sie ihre Arme leidenschaftlich um meinen Nacken schlang. »Nur du, mein Bräutigam, bist mir geblieben.«

Die Räuber berieten miteinander.

»Charis, des Menedemus Tochter?«

»Ein Erdbeben?«

»Ich habe in dieser Gegend nichts davon bemerkt.«

»Keiner von uns hat etwas davon bemerkt.«

»Charis!« sprach Dionysius mit einer gewissen Ehrfurcht. »Verzeiht uns, daß wir Euren Bräutigam für einen Esel ansahen! Ich sehe jetzt, daß ich mich geirrt habe. Euer Bräutigam ist ein Held, wenngleich seine Gestalt nicht die gewohnte menschliche ist. Wollt Ihr, daß wir ihn bei Euch lassen und daß er Eure Gefangenschaft teilt, oder wollt Ihr allein bleiben, Charis?«

»Nein, nein, nein!« rief Charis angstvoll. »Nehmt ihn mir nicht! Nehmt ihn mir nicht!«

Voller Angst umklammerte sie meinen Nacken.

»Wir werden Euch Euren Bräutigam lassen,« versicherte Dionysius, »bis wir von Menedemus das Lösegeld erhalten haben. Bis dahin soll es Euch an nichts mangeln. Kommt mit! Folgt uns mit Charmides!«

Ich ließ es mir nicht zweimal sagen. Sogleich gesellte ich mich zu meiner Braut. Ich wunderte mich, während wir dahinschritten, über diese seltsame Räuberbehausung. Wir gingen aus der Höhle hinaus durch einen langen, seltsam gewundenen Gang, einen Irrgang gleich dem Labyrinth, wohin Theseus von Ariadne geführt worden war, um den Minotaurus zu töten, und dann nach links und nach rechts, während Charis wiederum die Augen verbunden wurden und ich vergeblich zu entdecken versuchte, welche Richtung wir einschlugen, links und rechts und dann wiederum rechts und links, bis ich nichts mehr wußte und mißmutig meinen Eselskopf schüttelte.

Endlich führten uns die Räuber in einen runden Raum, der ebenso wie die vorigen in den Berg eingehauen zu sein schien. Er war gewölbt, die langen, in der Höhe angebrachten Fensterspalten waren unerreichbar und undurchdringlich sowohl von innen wie von außen. Dionysius sprach, während er Charis von ihrer Hülle befreite: »Seht! Dies ist der Aufenthaltsort für hohe Gefangene. Hier sollt Ihr mit Charmides verweilen, bis wir von Eurem Vater günstigen Bescheid erhalten haben.«

Inmitten des Raumes stand eine breite mit Bären- und Luchsfellen bedeckte Ruhebank. Da waren Tische und Schemel. In einem Schrank stand zierliches und nützliches Tafelgerät. Da waren stehende Bronzelampen, in denen des Abends Dochte entzündet werden konnten. An der weißen Felswand hingen Musikinstrumente, und in bronzenen Behältern standen Buchrollen. Schwere Stoffe lagen faltenreich und in üppigen Farben hier und dort umher.

»Hier«, fuhr unser Gastherr fort, indem er auf einen geöffneten Torbogen aus Felsstein wies, »kann Euer edler Bräutigam hausen. Wir werden ihm ein Strohbett bereiten, das seinen mit silbergrauem Fell bekleideten Gliedern wohlgefällig sein wird.«

Er deutete auf eine Art Höhle, die sich in der Tat vortrefflich dazu eignete, in einen Eselstall umgewandelt zu werden.

Wiederum schaute Charis lächelnd um sich. Der liebenswürdige Räuberhauptmann klopfte mit einem Bronzeklopfer auf eine bronzene Schale.

Aus einem anderen Torbogen kamen hinter buntfarbigen Stoffen drei alte, schwarze Frauen zum Vorschein.

»Hier, Charis,« fuhr Dionysius fort, »sind drei Dienerinnen, die Euch zur Verfügung stehen. Sie sprechen nicht, und sie hören nicht. Denn sie sind taubstumm. Aber sie werden Euch Gewänder bringen und Nahrung. Zwei taubstumme Eunuchen werden die Diener Eures Bräutigams sein, ihn versorgen und striegeln und ihm Futter bringen.«

Die beiden Eunuchen erschienen und erhielten sogleich den Befehl, meinen Stall in Ordnung zu bringen, und die alten Frauen führten der Anweisung ihres Herrn gehorchend Charis in einen angrenzenden Baderaum. Während sie sie badeten, versorgten die Eunuchen mich in meinem Stall. Ich hatte indes keinen Hunger. Nachdem sie mich verlassen hatten, blickte ich verwundert um mich und begann in dieser seltsamsten aller Räuberbehausungen, die sich ein phantasiereicher Dichter nur erträumen könnte, alles sorgfältig zu beobachten. Charis kam zum Vorschein mit den drei Frauen. Sie war in einem Peplos aus weicher, gelber Seide gehüllt, ihre blonden Haare waren geflochten und aufgesteckt. Sie eilte auf mich zu und umarmte mich. Sie hieß mich niedersitzen auf der mit Tierfellen bedeckten Ruhebank. Die Frauen boten ihr eine Leier dar, und sie spielte und summte dazu mit ihrer Kinderstimme. Sie war zufrieden und hatte allem Anschein nach wieder alle Vorfälle in der Hexennacht vergessen, die uns vor dem vermeintlichen Untergang ihres Vaters und ihrer Verwandten hatte die Flucht ergreifen lassen. Die Eunuchen und die Frauen trugen Speisen und Getränke auf, und Charis hieß mich mitessen. Weder die Frauen noch die Eunuchen wunderten sich über irgend etwas. Vermutlich waren sie an noch ganz andere seltsame Dinge an diesem Räuberorte gewöhnt, in diesem Raum der hohen gefangenen Gäste. Dann erhob sich Charis und blickte hinauf zu den hohen Fensterspalten, durch die einige wenige goldene Sonnenstrahlen sich verirrten, und rief schmollend aus: »Ich will hinaus! Ich will in die Gärten gehen!«

Ich fürchtete, daß sie sich ihrer Gefangenschaft bewußt werden könne und daß sicherlich in diesen Berghöhen keinerlei Gärten angelegt waren. Aber die beiden Eunuchen gaben uns gerade in diesem Augenblick zu verstehen, daß wir ihnen folgen sollten. Sie geleiteten die Jungfrau und ihren Esel durch einen dritten Torbogen, durch einen weißen Felsgang, und ganz unerwartet traten wir in einen offenen Raum. Charis stieß einen jubelnden Schrei aus, und ich schaute verwundert um mich. Da breitete sich in der Tat ein großer Garten zwischen den Spitzen des Gebirges, die an dem tiefblauen, spätsommerlichen Himmel wie die Türme einer ungeheuren, weißen Zauberburg leuchteten. Die hohen Felswände, die den Garten umgaben, troffen an der nördlichen Seite von herabrieselnden kleinen Wasserstrahlen, die zwischen den Vertiefungen über grünes und gelbes Moos hervorsickerten, das das Gestein dicht überwucherte. Ein Schatz von Blumen blühte allüberall an den dichten Sträuchern. Die roten und weißen Rosen glühten und dufteten über die ganze Südseite des eingeschlossenen Wundergartens, und ein kleiner See, ein Teich, der den tiefblauen Himmel widerspiegelte, lag in der Mitte. Einige Wasserpflanzen breiteten ihre flachen Blätter darauf aus.

Der Abend brach herein. Im Westen glühte der Himmel orangefarben, nachdem die Sonne hinter der Felswand untergegangen war. Eine honigblonde Zärtlichkeit irrte durch die Lüfte, während die violette Nacht bereits ihre luftigen Schleier breitete. Dann ging der Mond auf, während wir am Ufer des kleinen Sees ruhten. Charis lehnte sich an mich, stützte ihren Kopf auf meinen regungslosen Eselsleib und schlummerte. Sehr hell ging der Mond auf und ließ seine runde, silberne Scheibe in das spiegelglatte Wasser herabsinken. Ich sah, daß inmitten der glänzenden, flachen Blätter der Wasserpflanzen ein Stengel sich erhob und daß seine Knospe sich erschloß. Es war eine einzige Lotosknospe. Während ich noch darauf starrte, erblühte die Blume weit und erstrahlte weiß im Mondenlicht. Ich war bezaubert von dieser Schönheit.

Doch die drei taubstummen, schwarzen Frauen und die drei Eunuchen erschienen an der Türe, und es wollte uns scheinen, als forderten sie uns auf, zur Ruhe zu gehen.

Von den Räubern sahen wir in dieser Nacht nichts mehr.


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