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Es ist meine Absicht, auf Grund meiner Erfahrung anzugeben, welchen Handlungen ich moralischen Wert zuerkenne und auf welcher von selten des Erziehers gegebenen Unterlage die Möglichkeit ihres Geschehens eintritt. Schließlich will ich auf praktisch-anthropologischem Wege zu zeigen versuchen, wie die Idee der Freiheit zur Triebfeder werden kann. Es soll dies an der Hand einer Uebersicht der Moralphilosophie von Kant bis heute geschehen. Ich bitte, mit dem Laien Nachsicht zu haben und mir zu verzeihen, daß ich es wage, an den Lehren großer Männer, zu deren Scharfsinn und Gelehrsamkeit ich voll tiefster Bewunderung und Verehrung aufblicke, vor deren Verschleierung ihrer Schwächen ich aber in demselben Maße zurückschrecke, eine dem Wortlaut nach vielleicht oft unbescheidene Kritik zu üben.
Die Ausführung meiner wesentlichen Absicht stützt sich auf Kantsche und Schopenhauersche Philosophie.
Der Ethik muß die Metaphysik vorangehen, und da es nur eine wahre Metaphysik geben kann, ist auch in der Moralphilosophie der Despotismus zu Hause. Der Schüler stürzt den Meister vom Throne, und der konträre Gegensatz der kurz vorher gefeierten Wahrheit nimmt den Triumph der »Wahrheit« in Beschlag.
Kant stürzt den Eudämonismus und gibt der Ethik auf Grund seiner spekulativen Philosophie eine von allem Empirischen unabhängige, rein rationale Unterlage. Im Aufbau seines architektonischen Systems erweitert die Vernunft die Verstandeskategorien zu transzendentalen Ideen. Kant findet die Idee der FreiheitDie bis zum Unbedingten erweiterte Kategorie der Kausalität über den spekulativen Gebrauch hinaus zum praktischen geeignet und läßt unter deren Voraussetzung das Moralgesetz a priori in unserem Kopfe entstehen. Die praktisch gewordene Vernunft wird zur Ausrichterin eines höchst komplizierten Gedankenprozesses, dessen Frucht der kategorische Imperativ ist.
Dieser gibt seinen Nachfolgern den Ausgangspunkt zu den unglaublichsten Irrfahrten. Trotzdem Kant selbst wiederholt eingesteht, daß das Moralgesetz in der Regel erfolglos bleibe, daß es durch kein Beispiel, mithin empirisch, auszumachen sei, daß der Wille ohne andere Triebfeder bloß durchs Gesetz bestimmt werde, wird der kategorische Imperativ von ihnen als begründete Tatsache hingestellt. Der Mensch ist nur mehr ein Werkzeug des Sittengesetzes. Die bisher so stiefmütterlich angesehene Vernunft avanciert sukzessive zur höchsten Machtvollkommenheit; ihr wird das Vermögen verliehen, Uebersinnliches vernehmen zu können, bis endlich Hegel auf Grund des Spinozismus als Prinzip alles Daseins den Weltgeist erkennt, die absolute, göttliche Vernunft. Das Gute soll nicht erst hervorgebracht werden, es ist schon an und für sich da. Er setzt die von Kant gründlich widerlegte spekulative Theologie wieder in ihre alten Rechte ein und stellt die von diesem so klar dargelegte Erkenntnis, daß alles, »was reine Vernunft ausrichtet, indem sie über die Grenzen der Erfahrung hinaus Aussichten eröffnet, nichts mehr, als zwei Glaubensartikel« seien, jenes bewunderungswürdige, kindliche »Ich weiß nicht«Dieses »Ich weiß nicht« als Bezeichnung Kantscher Philosophie ist ein von Grillparzer geprägtes Wort. als die »letzte Stufe der Erniedrigung des Menschen« hin. Es gibt kein Geheimnis mehr. Man braucht nur in sein Inneres einzukehren, um Majas Schleier zu lüften. Ich habe das Gefühl, daß Hegel dadurch Schopenhauer den Impuls zur Erkenntnis des Dinges an sich gegeben. Wenn dieser das hören könnte, würde er mir freilich aus dem Grabe heraus in nicht sehr höflicher Weise seine Meinung sagen.
» Vehementissime invehens« erscheint nun Schopenhauer auf der Bildfläche, schiebt Hegel als »eitlen Scharlatan« verächtlich beiseite und geht »mit besonderem Vergnügen daran, der Moral das breite Ruhepolster wegzuziehen und die praktische Vernunft mit dem kategorischen Imperativ als völlig unberechtigte, grundlose und erdichtete Annahmen nachzuweisen.« Seine Kritik der Kantschen Ethik ist sehr oft falsch. Man merkt die Absicht und wird verstimmt. Er sagt z. B., daß die in Kants oberster Regel enthaltene Anweisung zur Auffindung des eigentlichen Moralprinzips auf der stillschweigenden Voraussetzung, daß ich nur das wollen kann, wobei ich mich am besten stehe, also auf Egoismus beruhe, was nach seiner Behauptung durch den Kantschen Satz zum Ausdruck kommt: »daß ich ein allgemeines Gesetz, zu lügen, nicht wollen könne, weil man mir dann nicht mehr glauben oder mich mit gleicher Münze bezahlen würde.« Nach Kants zweiter Formel des kategorischen Imperativs: »Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest«, muß ich mich als Zweck ebenso im Auge behalten wie jeden anderen; um einen Maßstab für die Allgemeingültigkeit der Maxime zu erhalten, muß ich, mich selbst zur Richtschnur nehmend, mein Wohl als identisch ansehen mit dem allgemeinen Wohle.
Nachdem Schopenhauer die Kantsche Ethik » per fas aut nefas« in den Grund gebohrt, geht er daran, in einer Eigenschaft unseres Wesens, dem Mitleid, der Ethik »ein minder breites, aber sicheres Fundament zu geben.« Die königlich holländische Sozietät, auf deren Ausschreiben einer Preisfrage er die »Grundlage der Moral« verfaßt, verlangt aber ein von jeder Metaphysik unabhängiges Fundament der Ethik, weshalb er analytisch verfahren muß und das auf diesem Wege gewonnene Resultat scheinbar akzessorisch mit einer metaphysischen Grundansicht, die seine eigne ist, verknüpft. In der Vorrede zu den beiden Grundproblemen der Ethik sagt er: »Da übrigens die Dänische Akademie über das Grundgebrechen meiner Arbeit großmütig geschwiegen hat, werde ich mich hüten, es aufzudecken.« Er, der vom Philosophen stets die strengste Wahrheit fordert, hütet sich aus Trotz gegen die Akademie, das Grundgebrechen zu bekennen? Es besteht darin, daß er die Hauptstütze der Moral nicht in der Vernunft, dieser spezifischen Eigenschaft des Menschen, sondern im Mitleid sucht, das der Mensch mit dem Tiere gemein hat. Bei einiger Kenntnis seiner Philosophie kommt man zur Einsicht, daß ihm, um seinem System treu zu bleiben, nichts anderes übrig blieb, als sich das Mitleid zum Fundament der Moral zurecht zu drechseln, weil er dieses nicht in einem Hinzugekommenen, in dem nach ihm sekundären Phänomen der Vernunft, die lediglich das Abstraktionsvermögen repräsentiert, sondern in einer Eigenschaft des Willens suchen konnte.
Dennoch muß er den Wirkungskreis der Vernunft erweitern, so sehr er sich dagegen sträubt. Er sagt: »Da unser empirischer Charakter als die zeitliche Entfaltung eines außerzeitlichen und unveränderlichen Willensaktes, oder eines intelligiblen Charakters anzusehen ist, durch welchen alles Wesentliche, das heißt der ethische Gehalt unseres Lebenswandels unveränderlich bestimmt ist und sich demgemäß in seiner Erscheinung, dem empirischen Charakter ausdrücken muß, so könnte man schließen, daß es vergebliche Mühe wäre, an einer Besserung seines Charakters zu arbeiten oder der Gewalt böser Neigungen zu widerstreben.« Wer kann und soll nun an einer Besserung des Charakters arbeiten und die bösen Neigungen unterdrücken? Die Vernunft!
Ferner heißt es: »Brachte es der intelligible Charakter mit sich, daß wir einen guten Entschluß nur nach langem Kampfe gegen eine böse Neigung fassen konnten, so muß dieser Kampf vorhergesehen und abgewartet werden.« »Brachte es der intelligible Charakter mit sich!« Man bedenke, was das sagt! Er brachte es mit sich, daß die Vernunft, das Akzidens, das Sekundäre, mächtiger ist als die böse Neigung, die, als zur Substanz, zum Willen gehörig, der unmittelbare Ausdruck des intelligiblen Charakters ist. Immer wieder die Vernunft!
Ich unterschätze das wahre Mitleid keineswegs, es wird nur weder auf die Dauer noch für alle Fälle hinreichend sein. Kann es mich in der tiefsten Not abhalten, einen reichen Mann zu bestehlen, oder dazu anspornen, ihm etwas Gefundenes wiederzugeben? Wird es mich vor den gemeinsten Ausschweifungen bewahren, wenn mich nicht hygienische Gründe davon abhalten?
Aus einer gewissen Durchschauung des principii individuationis,Schopenhauer nennt Zeit und Raum, weil nur durch sie und in ihnen Vielheit des Gleichartigen möglich ist, das principii individuationis. d. i. aus der Erkenntnis, daß das Wesen an sich der eigenen Erscheinung auch das der fremden ist, läßt Schopenhauer die Gerechtigkeit hervorgehen. Der Gerechte sieht sich nicht mehr, wie der Böse, von allen anderen durch eine weite Kluft getrennt, er erkennt und findet sein eigenes Wesen, den Willen zum Leben als Ding an sich, schon bis auf einen gewissen Grad in der fremden Erscheinung wieder, und aus dieser Durchschauung im höhern Grade geht die eigentliche Güte der Gesinnung, die wahre Menschenliebe hervor. Und: »Alle Liebe ist Mitleid.« Sollte aber wirklich dieses Phänomen einzig und allein den Egoismus, der, wie Schopenhauer sagt, »im Tier wie im Menschen mit dem innersten Kern und Wesen desselben aufs genaueste verknüpft, ja eigentlich identisch ist,« in Schranken halten können? Und wenn das wahre Mitleid auf der Fähigkeit zur Durchschauung des principii individuationis beruht und auch erst auf einer hohen Stufe intuitiver Erkenntnis, die eine große Erfahrung voraussetzt, hervortritt, so ist als seltenste Ausnahme nur ein in schon sehr vorgerückten Jahren stehender Mensch wahrhaft moralischer Handlungen fähig. Dieses Identifizieren setzt schon einen gewissen Grad der Verneinung voraus. Der Ethiker muß aber gänzlich auf dem Standpunkt des Bejahers stehen. Ich behaupte, daß das Identifizieren mit dem Nächsten auf der Phantasie beruht und je nach der individuellen Beschaffenheit sehr heterogene Empfindungen hervorruft. Den einen wird das Grauen, die Furcht vor demselben Zustande zum Geben bestimmen: »Da, nimm, aber nun fort, ich kann das nicht sehen!« Den andern – ich habe es selbst erlebt – wird die hervorgerufene peinliche Empfindung in so hohen Zorn versetzen, daß er seinen Nächsten prügeln könnte; dem Dritten, auf den in einem glücklichen Augenblicke das Leid seines Nächsten einen ganz vorübergehenden, schwachen Eindruck macht, wird es zur Abwechslung einmal, dem Vierten hin und wieder, wenn er gerade sehr viel übrig hat, ein kleines Vergnügen sein, helfen zu können; erst der Tausendste wird vielleicht den innigsten Drang dazu fühlen. Wer kann dessen Edelmut bestreiten? Es gibt wohl auch kaum ein größeres Lob als: »Das ist ein herzensguter Mensch!« Die Herzensgüte wird aber abgestumpft durch erlittenes Unrecht, durch Undankbarkeit und Bosheit. Wenn mich diese nicht erbittern sollen, muß ich schon ganz auf dem Standpunkt des Verneiners stehen oder – die Vernunft muß helfen. Ich habe herzensgute Menschen gekannt, denen es eine wahre Freude war, helfen zu können; als ich sie nach Jahren wieder traf, erkannte ich sie nicht wieder. Es fehlte eben der Eingriff der Vernunft. Ein Mensch, den praktische Vernunft regiert, wird sich in jeder Lage seiner qualitativen Aeußerung nach gleich bleiben, nur dem Grade nach wird er verschieden handeln. Durch Gewöhnung an die verschiedensten äußeren Umstände kommen die sinnlichen und seelischen Triebfedern immer mehr ins Gleichgewicht, es entsteht ein Zusammenwirken aller Kräfte: Die praktische Vernunft fängt mit Erfolg zu sprechen an. Sie sagt: »Das ist deiner unwürdig – das darfst du – das mußt du!« Die Idee der Freiheit tritt immer mehr ins Bewußtsein. Ich habe wenigstens an mir selbst die Erfahrung gemacht, daß ich ohne Kenntnis ethischer Prinzipien, soweit die Selbstschätzung reicht, wahrhaft gut gehandelt habe. Oft ist es mir nicht leicht geworden; es stieg auch mancher häßliche Gedanke in mir auf, ich schreckte vor mir selbst zurück, daß mir ein solcher Gedanke überhaupt kommen konnte. Was bewirkte dessen schleunige, entrüstungsvolle Abwehr? Das sittliche Bewußtsein! Nach einer solchen Abwehr fühlte ich mich frei und glücklich. Und dieser Sieg hat der Vernunft den Boden für eine fernere Leistung schon wieder mehr geebnet.
Im Gegensatze zur imperativen Form der Kantschen Ethik sagt Schopenhauer in der »Grundlage der Moral«: »Ich setze hingegen der Ethik den Zweck, die in moralischer Hinsicht höchst verschiedene Handlungsweise der Menschen zu deuten, zu erklären und auf ihren letzten Grund zurückzuführen.« Er muß ihre Aufgabe so sehr beschränken, weil er ihr auf Grund seines Systems nur einen sehr schmalen Boden geben konnte. Ich erblicke aber die Aufgabe der Ethik nicht darin, durch Aufstellung eines sehr schmalen Fundaments nur sehr wenige Handlungen als echt moralisch nachzuweisen, sondern hauptsächlich darin, durch Angabe der praktischen Regel dem Menschen den Weg zu zeigen, nach Maßgabe seines intelligiblen Charakters, dessen Wirkung mir in der Erscheinung antreffen, in jeder Lebenslage moralisch handeln zu können.
Wir sehen, daß nicht nur das Gesamtwollen der Individuen verschieden ist, sondern auch deren Reaktion auf Motive. Während der eine in ungestümem Drange nach Genuß und Reichtum strebt, ist der andere mit einem gemäßigten Wohlleben zufrieden. Hier ist die Sucht nach Ruhm und Ehre die mit jedem Erfolge wachsende Triebfeder, dort sitzt im stillen Kämmerlein der Denker, um die Mysterien der Natur zu ergründen. Hinter allem und jedem steht die Vernunft. Sie läßt sich zur Führerin über Leichen gebrauchen, sie wird zur höchsten Stufe menschlicher Erkenntnis führen. Ist das aber ihre einzige Aeußerung? Mag die Vernunft unmittelbar von Gottes Gnaden stammen oder sich aus dem Erdkloß entwickelt haben, – ich halte mich an dieses einzige große Unterscheidungszeichen zwischen Tier und Mensch. Wer kann leugnen, daß sie die Trägerin einer sittlichen Macht ist, mag man sie Sittengesetz, moralischen Sinn, sittliches Bewußtsein oder wie auch immer nennen, mag sie a priori oder a posteriori gegeben sein: sie ist da! Auf einem Spinatboden wächst kein Spargel. Nicht selten durchbraust ihre Donnerstimme die Welt, die ganze Menschheit erhebt sich in der durch einen gewaltigen Anlaß wieder einmal aufgerüttelten Idee der Freiheit. In der Allgemeinheit wie im Individuum ist sie von der Materie der Sinnenwelt mehr oder weniger verdeckt und verschleiert. Der Grad ihrer möglichen Aeußerung ist durch den intelligiblen Charakter bedingt. Diese bei den Rassen und Individuen dem Grade nach so unendliche Verschiedenheit bezeigt den Werdegang der Vernunft: Das sich erst da und dort leise meldende, langsame Aufflackern ihrer höchsten Bestimmung. Noch steht sie im Dienste des tierischen Willens, sie rächt aber auch jeden Mißbrauch ihrer selbst durch die Stimme des Gewissens. Auch diese wird dem Grade nach abhängen von der Stufe, die das Individuum auf dem Werdegänge der Menschheit einnimmt. Die Zukunft antizipierend, hat Kants Genius eine Ethik für ferne Geschlechter geschaffen und Handlungen geboten, »von denen die Welt vielleicht bisher noch gar kein Beispiel gegeben hat.«
Hegel nennt die Gewohnheit den Weg zur Freiheit der natürlichen Seele. Er sagt, »daß Begierden und Triebe abgestumpft werden durch die Gewohnheit ihrer natürlichen Befriedigung, nicht aber durch mönchische Entsagung.« Wenn auch nicht durch mönchische Entsagung, so doch auch durch die Gewohnheit der Nichtbefriedigung. Das sage ich aus eigener Erfahrung. Darum sollte, wie Lichtenberg sagt, »Bedürfnislosigkeit das sein, was man der Jugend durchaus einzuschärfen, und wozu man sie zu starken suchen müßte. Je weniger Bedürfnisse, desto glücklicher, ist eine alte, aber sehr verkannte Wahrheit.« Er spricht ferner das große Wort aus: »Die Gewohnheit ist das Ding.« Durch die Gewöhnung an Befriedigung und darauf folgende Nichtbefriedigung wird allmählich die Herrschaft über Triebe und Begierden errungen, als Unterlage intellektueller und moralischer Freiheit.
Je größer die Gewalt ist, die der Mensch über seine rein sinnlichen Triebe errungen, desto mehr wird das Gemüt für feinere Freuden empfänglich. Auch die Aeußerung des Mitleids hängt vom Grade jener Selbstüberwindung ab. Der Trieb, dem Nächsten zu helfen, wird aber mehr als jeder andere abgestumpft durch die schon gewohnte Befriedigung.Ich ging einmal mit einem reichen Mann spazieren. Auf dem Wege trafen wir viele Bettler. Beim ersten und zweiten griff er zuerst in die Tasche; er gab gern. Beim dritten folgte er erst ungern meinem Beispiele, plötzlich raffte er sich auf mit den Worten – »Man muß sich konsequent bleiben!« wer hört hier nicht die leise Meldung der praktischen Vernunft? Aus ihrem Schlummer aufgerüttelt, schob sie das ursprüngliche Motiv, vom armen Teufel nicht beschämt zu werden, beiseite. Hier ist der Entscheidungspunkt. Bei dem einen geht neben dem verlorenen Reiz zum Wohltun nach und nach eine durch trübe Erfahrungen, wie Undankbarkeit usw. erzeugte Erbitterung hervor; er wird sich selbst zum Rätsel, wie er für andere besorgt sein konnte. Vor Begierde, den erlittenen Undank zu rächen, bereitet ihm das Unrechttun, also die Bosheit, dasselbe Vergnügen, das ihm früher das Wohltun gewährte. Der andere wird sich erst einer gewissen Bitterkeit ebenfalls nicht erwehren können und geraume Zeit indifferent verhalten. Allmählich fängt die Vernunft zu sprechen an. Auf dem Boden des erlittenen Undanks treibt nun die Idee der Freiheit ihre ersten Blüten. Das Geben macht ihm keine Freude mehr, aber er gibt. Ohne die Miene zu verziehen, ohne Ansehen der Person gibt er dem Menschen überhaupt.
Ich muß hier erwähnen, daß Schopenhauer einmal betont, man müsse sich den Grundsatz » neminem laede, imo omnes, quantum potes, juva« fest einprägen, da einem das Mitleid nicht immer zu Gebote wäre. Die Vernunft weiß sich also ohne Mitleid zu helfen. Was aber ist ein Handeln aus Mitleid, wenn die Vernunft fehlt? Ein höchst sonderbares Ding: »Keine bewußte Moralität«, die eben, wie Schopenhauer sagt, das Tier hat. Um das Mitleid als einzig echte moralische Triebfeder nachzuweisen, fühlt er absichtlich einen Fall der stärksten Rechtsverletzung an. Obgleich vor Entdeckung und jedem Verdachte sicher, schafft Titus, zuerst fest dazu entschlossen, seinen Nebenbuhler nicht aus der Welt. Nach der Rechenschaft, die er ihn ablegen läßt, hat er es aus Mitleid nicht getan. Im Mord spricht sich aber nach seiner Lehre die gänzliche Verneinung des im anderen Individuum erscheinenden Willens zum Leben aus. Noch dazu in einem Morde aus Eifersucht. Um meinen Nebenbuhler nicht umzubringen, braucht also die Bejahung des Lebens, der Egoismus, bloß nicht den höchsten Grad erreicht zu haben.
In seiner Preisschrift »Ueber die Freiheit des Willens« beruft sich Schopenhauer in seiner Erklärung von dem Verhältnis zwischen empirischem und intelligiblem Charakter auf Kant. Er betont, daß er sich gänzlich zu dessen Lehre vom Zusammenbestehen der Freiheit mit Naturnotwendigkeit bekenne, obgleich sich diese von der seinigen doch wesentlich unterscheidet.
Beide Systeme stimmen darin überein, daß der intelligible Charakter die von den Bedingungen der Sinnlichkeit unabhängige, unveränderliche Grundlage seiner Erscheinung, des empirischen Charakters ist. Nach diesem, der jenem gemäß gedacht weiden muß, ist der Mensch allen Gesetzen der Sinnlichkeit unterworfen. Merkwürdig ist es, daß Schopenhauer, der so sehr darauf hält, daß das Wort genau dem Begriffe entspricht, die Bezeichnung »intelligibel« beibehält, welche seiner Darstellung des außerzeitlichen Charakters durchaus nicht entspricht.
Was ist nun das Ding an sich bei Schopenhauer und was ist es bei Kant? Dieser weist es zuerst als einen Grenzbegriff = X nach. Später tritt das Intelligible im Menschen als Wille hervor, der aber nichts anderes ist als die Vernunft, während es bei Schopenhauer der auch in erkenntnislosen Wesen vorhandene, mit dem menschlichen Willen identische Wille zum Leben ist.
Nach Kant ist der Wille eine Art von Kausalität vernünftiger Wesen, das ist »ein Vermögen, nur dasjenige zu wählen, was die Vernunft unabhängig von der Neigung als praktisch notwendig, das ist als gut, erkennt.«Kant sagt in der Kritik der reinen Vernunft: »Die praktische Freiheit setzt voraus, daß, obgleich etwas nicht geschehen ist, es doch habe geschehen sollen und seine Ursache in der Erscheinung also nicht so bestimmend war, daß nicht in unserer Willkür eine Kausalität liege, unabhängig von Naturursachen und selbst wider ihre Gewalt und Einfluß etwas hervorzubringen, was in der Zeitordnung nach empirischen Gesetzen bestimmt ist, mithin eine Reihe von Begebenheiten ganz von selbst anzufangen.«
Das mit einem Gefühle der Lust verknüpfte wollen, mögen die Vorstellungen der Gegenstände, welche den Wille» affizieren, noch so ungleichartig sein, nennt Kant das untere Begehrungsvermögen. Schopenhauer leugnet diese Kausalität, verwirft also auch das Sittengesetz, welches bei Kant mit der Autonomie des Willens und der Idee der Freiheit unzertrennlich verknüpft ist, und beruft sich wiederholt auf den schon vorhin von mir zitierten Satz: »Man kann also einräumen, daß, wenn es für uns möglich wäre, in eines Menschen Denkungsart, so wie sie sich durch innere sowohl als äußere Handlungen zeigt, so tiefe Einsicht zu haben, daß jede, auch die mindeste Triebfeder dazu uns bekannt würde, imgleichen alle auf diese wirkenden äußeren Veranlassungen, man eines Menschen Verhalten auf die Zukunft mit Gewißheit, so wie eine Mond- oder Sonnenfinsternis, ausrechnen könnte, und dennoch behaupten, daß der Mensch frei sei,« wobei er aber jedesmal die Schlußworte »und dennoch behaupten, daß der Mensch frei sei« wegläßt, weil sie in sein System nicht passen.
Wenn wir nämlich, wie Kant im anschließenden Satze sagt, noch einer intellektuellen Anschauung desselben Subjekts, die uns freilich gar nicht verliehen ist, fähig wären, »so würden wir doch inne werden, daß diese ganze Kette von Erscheinungen in Ansehung dessen, was nur immer das moralische Gesetz angehen kann, von der Spontaneität des Subjekts, als Dinges an sich selbst, abhängt.« Warum also das Weglassen jener so wichtigen Worte? In der Kritik der reinen Vernunft ist ein Satz, der mit dem oben angeführten große Aehnlichkeit hat. Dort fehlen aber die Worte: »und dennoch behaupten, daß der Mensch frei sei«, weil Kant dort nur die Sinnesart, den empirischen Charakter, im Auge hatte. Die Handlungen werden nur auf das Sinnenwesen bezogen, hier aber das Sinnnenwesen selbst auf das intelligible Substrat.
Warum Kant hier zwischen der Einsicht in die Denkungsart, das ist in den intelligiblen Charakter, und der intellektuellen Anschauung einen Unterschied macht, ist nicht einleuchtend. Er hatte eben eine Steigerung nötig. Schopenhauer führt jene zwei Sätze an, als ob Kant damit sagen wollte, daß es nur Naturnotwendigkeit und keine Freiheit in den Handlungen des Menschen gebe. Kant hat aber zeigen wollen, daß Freiheit der Naturnotwendigkeit in einer und derselben Handlung nicht widerstreite. Man braucht sich, wie Kant sagt, nur zu besinnen, daß die Erscheinungen noch Gründe haben müssen, die nicht Erscheinungen sind. Eine solche intelligible Ursache ist »samt ihrer Kausalität außer der Reihe, dagegen ihre Wirkungen in der Reihe der empirischen Bedingungen angetroffen werden.« Was einerseits bloße Naturwirkung ist, könne doch andererseits als Wirkung der Freiheit angesehen werden; die Vernunft mache sich eine eigene Ordnung nach Ideen, in die sie die empirischen Bedingungen hineinpaßt. Eine Handlung müsse »allerdings unter Naturbedingungen möglich sein, wenn auf sie das Sollen gerichtet ist; aber diese Naturbedingungen betreffen nicht die Bestimmung der Willkür selbst, sondern nur die Wirkung und den Erfolg derselben in der Erscheinung.« Wenn ich also jene tiefe Einsicht hätte, könnte ich nicht nur eines Menschen Verhalten auf die Zukunft mit Gewißheit ausrechnen: ich würde in der Kausalkette vielleicht auch da und dort ein Glied als Wirkung einer intelligiblen Kausalität, d. i. des moralischen Gesetzes, antreffen können. Eine andere Auffassung ist unmöglich, ohne mit dem kategorischen Imperativ in einen unlöslichen Konflikt zu geraten.
Kants Darstellung bewegt sich hier an den äußersten Grenzen menschlichen Scharfsinns, man staunt nur noch, mit welcher Kunstfertigkeit die höchst disziplinierte Vernunft über Riesenklippen hinwegvoltigiert, um sich das »du kannst, denn du sollst« zu retten.
Er sagt: »Und wenn wir sagen, daß, unerachtet seines ganzen, bis dahin gefühlten Lebenswandels, der Täter die Lüge doch hätte unterlassen können, so bedeutet dieses nur: daß sie unmittelbar unter der Macht der Vernunft stehe, und die Vernunft in ihrer Kausalität leinen Bedingungen der Erscheinung und des Zeitlaufs unterworfen ist.«
Warum macht aber die Vernunft, die allen Handlungen des Menschen gegenwärtig ist, ihre Autorität nicht geltend? Warum hat sie jenen Menschen nicht bestimmt, die Wahrheit zu sagen, selbst wenn sie ihm Nachteil brachte?
» Ein anderer intelligibler Charakter würde einen anderen empirischen gegeben haben.« Hier treffen sich die zwei großen Philosophen und gehen auseinander. Die Spontaneität, des Subjekts, als Dinges an sich selbst, macht das große Unterscheidungszeichen zwischen ihren Lehren über den Zusammenhang der Freiheit mit Naturnotwendigkeit. Schopenhauer verneint die reine Selbsttätigkeit der Vernunft und mithin auch die Idee der Freiheit als Voraussetzung zur Möglichkeit, unabhängig von Naturinstinkten zu handeln. Nach seiner Lehre ist Freiheit nur »im ganzen Sein und Wesen des Menschen zu suchen, das als seine freie Tat gedacht werden muß.« Der Mensch ist schon, was er will. Ein Riesengedanke!
Kant läßt schließlich Gott die Ursache des Daseins der handelnden Wesen als Noumenen, das ist als Dinge an sich selbst, sein. Wenn aber ein anderer intelligibler Charakter einen anderen empirischen gegeben hätte, so würde der Mensch zwar nicht mehr ein vom obersten Meister direkt, wohl aber indirekt aufgezogener »Vaucansonischer Automat« sein. Kant gerät hier in große Widersprüche, auf die ich nicht näher eingehen kann.
Aus der Durchschauung des principii individuationis, also aus derselben Quelle, aus der die Gerechtigkeit, alle Liebe, Güte und Tugend entspringen, läßt Schopenhauer zuletzt auch die Verneinung des Willens zum Leben hervorgehen. Er sagt: Diese unmittelbare Erkenntnis der Identität des Willens in allen seinen Erscheinungen wird aber einen noch weiter gehenden Einfluß auf den Willen zeugen: Der Mensch wird auch die endlosen Leiden alles Lebenden als die eigenen betrachten. Er sieht das Ganze in einem nichtigen Streben und inneren Widerstreit, welche Erkenntnis ihn endlich zur Verneinung des Lebens führt. Die einzelnen Dinge in ihrem Verhältnisse zu seiner Person werden nicht mehr zu Motiven: Die Erkenntnis des Wesens der Dinge an sich wird nun zum Quietiv des Wollens. Der Leib, als Erscheinung des Willens, hört auf, noch irgend etwas zu wollen.
Wenn ich mich also, wie Kant sagt, in Ansehung dessen, was in mir, unabhängig von sinnlichen Antrieben, reine Vernunftstätigkeit ist, als Glied einer intelligiblen Welt betrachten kann, wodurch, wenn ich solches allein wäre, alle meine Handlungen der Autonomie des Willens gemäß sein würden, da ich aber zugleich als Glied der Sinnenwelt unter Naturgesetzen stehe, gemäß sein sollen –, so ist bei Schopenhauer eine Unabhängigkeit von sinnlichen Antrieben nur auf jener äußersten Stufe intuitiver Erkenntnis möglich. Dort durch die Idee der Freiheit, hier durch die zum Quietiv gewordene Erkenntnis des Wesens der Dinge an sich. Ein Analogon zu diesem Lossagen von allem Wollen findet Schopenhauer in der ästhetischen Anschauung, wozu ein Losreißen vom Dienste des Willens erforderlich ist. Er verlangt, daß man sich in seinen Gegenstand verliere, seinen Willen vergesse, wodurch man zum reinen Subjekt des Erlebens werde. Als solches erkennt man nur noch das Wesentliche der Dinge, die Idee. Man ist dem Satze vom Grunde enthoben; zugleich ist man aber auch Individuum, als welches man ihm angehört. »Bei diesem Erkennen der Idee, dem Lossagen von allem Wollen, tritt mit einem Male völlige Ruhe ein, so daß wir für kurze Augenblicke von allen Wünschen und Sorgen befreit sind. Mithin müßte derjenige Mensch, dessen Wille nicht auf Augenblicke, wie beim Genuß des Schönen, sondern auf immer erloschen ist, ein seliges Leben führen. Aber mir dürfen nicht glauben (das ist ein wichtiger Satz! d. V.), daß, nachdem durch die zum Quietiv gewordene Erkenntnis die Verneinung des Willens einmal eingetreten ist, sie nun nicht mehr wanke und man auf ihr rasten könne, wie auf einem erworbenen Eigentum. Vielmehr muß sie durch steten Kampf immer aufs neue erworben werden.«
Wenn ich jetzt infolge Erkennens des Wesens der Welt allen bisherigen Grundsätzen, Begierden und Neigungen entsage, später aber wieder in den alten Lebenswandel verfalle, so ist die Kausalkette durch eine absolute Freiheit unterbrochen worden. Nach einem gänzlichen Verlassen des Satzes vom Grunde ist es demnach möglich, ihm wieder ganz zu verfallen, so daß die Freiheit in der Erscheinung sozusagen ein- und austreten kann. Man könnte nach Kants Lehre die Unabhängigkeit nun der Nötigung durch sinnliche Antriebe die Freiheit des Lebensbejahers nennen, während es bei Schopenhauer die Freiheit des Verneiners ist. In Ansehung des Bejahers wird die Handlung in der Erscheinung von einer ihrem Vermögen nach intelligiblen Ursache »allen Gesetzen der empirischen Kausalität gemäß sein«. Wenn ich aber davon abstrahiere und nur die Unabhängigkeit von der Nötigung durch sinnliche Antriebe, die darauf gemäß meiner subjektiven Beschaffenheit wieder mehr oder weniger Gewalt über mich gewinnen können, ins Auge fasse, ohne die Dauer dieser Unabhängigkeit zu berücksichtigen, so kommt es, wenn man sich recht besinnt, schließlich auf eins hinaus, ob mich das durch das Erkennen des Wesens der Welt eingetretene Quietiv des Wollen« oder die Idee der Freiheit dazu bestimmte.
Das habe ich vorläufig feststellen wollen.
Nun noch einiges über Schopenhauers Ding an sich und seine Verneinung des Willens.
Er sagt endlich klar und deutlich, daß die Erkenntnis des Dinges an sich zwar von den Formen des Raumes und der Kausalität, die der äußern Erkenntnis anhängen, frei sei, daß ihr aber noch die Form der Zeit anhafte, infolgedessen mir den Willen nicht im Ganzen an und für sich, sondern nur in seinen seccessiven einzelnen Akten erkennen, daß er ferner streng genommen auch im Selbstbewußtsein noch an die Form der Vorstellung gebunden sei und daher für uns in gewissem Grade immer noch Erscheinung bleibe. Wenn man auch die Ueberzeugung erhält, daß seine Lehre vom Ding an sich, dem Willen zum Leben, große Lichtseiten hat: durch seine Verneinung des Willens gerät er in Widersprüche. Er sagt: »Man könnte behaupten, daß wenn, per impossibile, ein einziges Wesen, und wäre es das geringste, gänzlich vernichtet würde, mit ihm die ganze Welt untergehen müßte.« Nun verlangt er aber vom Verneiner eine gänzliche Mortifikation des Willens. Wie reimt sich das zusammen? Da, wie er sagt, jeder Mensch gewissermaßen als eigene Idee anzusehen ist und mit jedem Individuum gewissermaßen eine neue platonische Idee in die Erscheinung tritt, so könnte man wohl die Frage stellen, ob der Verneiner nicht die Idee, die adäquate Objektität des Willens, mortifiziert. Freilich müßte mit ihm auch die Hälfte der Ideen seiner Vorfahren und Nachkommen untergehen, da sich die Idee der Kinder aus der der Eltern zusammensetzt.
Am seine großen Widersprüche zu zeigen, führe ich folgende Stellen an. Die Schlagworte sind von mir hervorgehoben. Er sagt im vierten Buche seines Hauptwerks: »Freiwillige, vollkommene Keuschheit ist der erste Schritt in der Askese oder der Verneinung des Willens zum Leben. Sie verneint dadurch die über das individuelle Leben hinausgehende Bejahung des Willens und gibt damit die Anzeige, daß mit dem Leben dieses Leibes auch der Wille, dessen Erscheinung er ist, sich aufhebt.« Er sagt ferner über den Verneiner: »Wie den Willen selbst, so mortifiziert er die Sichtbarkeit, die Objektität desselben, den Leib!« – »Mit ihm endigt hier nicht, wie bei andere», bloß die Erscheinung, sondern das Wesen selbst ist aufgehoben.« – »Daß der Selbstmord die willkürliche Zerstörung einer Erscheinung, bei der das Ding an sich ungestört stehen bleibt« – usw.
Daraus geht offenbar hervor, daß durch die Verneinung das Wesen selbst, also das Ding an sich, aufgehoben wird.
Dagegen führe ich aus dem zweiten Bande seines Hauptwerkes folgende Stellen an.
»Daß das Ding an sich, welches wir am unmittelbarsten im Willen erkennen, ganz außerhalb aller möglichen Erscheinung, Bestimmungen, Eigenschaften, Daseinsweisen haben mag, welche für uns schlechthin unerkennbar und unfaßlich sind, und welche eben dann als das Wesen des Dinges an sich übrig bleiben, mann sich dieses, wie im vierten Buche dargelegt wird, als Wille frei aufgehoben hat.« Danach wäre also das Ding an sich, dessen Einfachheit er stets betont, etwas Zusammengesetztes, und der Wille eine Eigenschaft desselben, welche es bei der Verneinung verliert. Dieser Vorgang und die Zusammensetzung selbst setzen aber Zeit und Raum voraus, welche Formen dem Ding an sich fremd sind. Dann heißt es wieder: »Ding an sich aber ist allein der Wille.« In »Ueber den Willen der Natur« sagt er: »Bei mir ist das Ewige und Unzerstörbare im Menschen der Wille.« Wie soll dieser also gänzlich mortifiziert werden?
In den »Parerga« erhalten wir endlich in Parenthese eine offenbar durch seine Ausleger provozierte Aufklärung, wodurch er aber im Grunde nur ein sehr verschleiertes Bekenntnis seiner Schwächen ablegt. Er sagt: »Gegen gewisse alberne Einwürfe bemerke ich, daß die Verneinung des Willens zum Leben keineswegs die Vernichtung einer Substanz besage, sondern den bloßen Aktus des Nichtwollens – –« keineswegs die Vernichtung Wie zweideutig! Es bleibt von der Substanz, dem Wesen des Dinges an sich, noch mancherlei übrig, nachdem es sich, wie aus dem oben angeführten Satze hervorgeht, als Wille frei aufgehoben hat. Ferner spricht er vom bloßen Aktus des Nichtwollens. Ebenfalls ganz unklar. Wenn es den bloßen Aktus des Nichtwollens betrifft, der selbst Erscheinung ist, würde ja der ganze Vorgang, auf deutsch gesagt, hübsch »unter uns« bleiben. Dann heißt es: »Die Bejahung und Verneinung des Willens ist ein bloßes Velle und Nolle. Das Subjekt dieser beiden Aktus ist eines und dasselbe, wird folglich weder durch den einen noch den andern Aktus vernichtet. Sein Velle stellt sich dar in dieser anschaulichen Welt, die eben deshalb die Erscheinung ihres Dinges an sich ist. Vom Nolle erkennen wir keine andere Erscheinung, als bloß die seines Eintretens, und zwar nur im Individuum, welches ursprünglich schon der Erscheinung als Velle angehört.« – Erscheinen kann aber nur das Ding an sich. – »Daher sehen wir, solange das Individuum existiert, das Nolle stets noch im Kampf mit dem Velle: hat das Individuum geendigt, und in ihm das Nolle die Oberhand behalten, so ist dasselbe eine reine Kundgebung des Nolle gewesen.« Der zweideutige Ausdruck »reine Kundgebung« ist hier ebenfalls absichtlich gewählt. Das Nolle schlägt sich also mit dem Velle herum, daß die Haare fliegen, und tritt mit diesem abwechselnd in den Vordergrund. Bis zum Tode bleibt es unentschieden, ob das Individuum eine reine Kundgebung des Velle oder des Nolle war. Nach Auflösen der Erscheinung des Willens zum Leben zeigt es sich, ob sich dieser in ihr sukzessive in den Willen zum Nichts verwandelte, der dann losgelöst von der Substanz, dem eigentlichen Ding an sich, im »relativen Nichts« als selbständig gewordener Herr ein seliges Nichtsein führt. Wer kann sich da zurechtfinden!
Warum hat denn Schopenhauer die Einschränkung seiner Lehre nicht zusammenhängend im Hauptteil gegeben, sondern ganz zerstreut, an Stellen, wo man sie gar nicht suchen würde? Ferner sagt er: »Die Individualität inhäriert dem Willen nur in seiner Bejahung, nicht aber in seiner Verneinung.« Es bedarf wohl keiner Erörterung, daß das gesamte Wollen, als Nichtwollen, kein individuelles Gepräge zeigen kann, daß es aber, als wahre Verneinung durch den intelligiblen Charakter bedingt, die stärkste und erhabenste Individualität verleiht. Gibt es aber wahre Verneiner? Auch in rein subjektiver Hinsicht wird die Verneinung hinfällig. Gemäß seiner Lehre, daß durch die ästhetische Freude am Schönen der Mensch, dem Dienste des Willens enthoben, selige Augenblicke genießt, und mithin das Leben desjenigen, dessen Wille für immer beschwichtigt, ein seliges ist, könnte man wohl fragen, ob nicht die Voraussicht dieser Seligkeit, die der höhere Mensch nach einem wechselvollen Leben in Augenblicken großer Entsagung in der damit verknüpften Gemüts- und Geistesruhe kennen und schätzen lernte, zur Triebfeder der Verneinung und mithin zum eigentlichen Zwecke wurde? Aus dieser Erkenntnis ist der Kynismus hervorgegangen. Schopenhauer macht zwischen diesem und der Verneinung einen großen Unterschied. Stolz kennzeichne den Geist des Kynismus, Demut den der Verneinung. Beider Askesis ist aber aus der intuitiv aufgefaßten Erkenntnis der Welt hervorgegangen, Kyniker und Verneiner erkannten die Nichtigkeit alles Strebens, aller Wünsche. Jener war diesem sogar überlegen: er ist mit einem »seligen« Leben auf Erden, das die Tugend hervorbringt, zufrieden gewesen. Zu jener Zeit hätte es auf Grund der herrschenden ethischen Prinzipien noch seine Verneiner im Schopenhauerschen Sinne geben können. Er sagt: »Ein Heiliger kann voll des absurdesten Aberglaubens sein oder er kann umgekehrt ein Philosoph sein: beides ist gleich. Sein Tun allein beurkundet ihn als Heiligen: denn es geht in moralischer Hinsicht nicht aus der abstrakten, sondern aus der intuitiv aufgefaßten unmittelbaren Erkenntnis der Welt und ihres Wesens hervor, und wird von ihm nur zur Befriedigung seiner Vernunft durch ein Dogma ausgelegt.« Es ist die Frage, ob es ohne Dogmen, Aberglauben und die Aussicht auf ein seliges Leben nach dem Tode Heilige gegeben hätte. Ich wundere mich, daß Schopenhauer, der stets betont, daß sich aus den Folgen nie mit Sicherheit der Grund bestimmen läßt, gerade hier eine Ausnahme macht. Ich habe neulich gelesen, daß sich ein Menageriebediensteter aus unglücklicher Liebe in den Rachen einer Löwin stürzte. Diese Art Selbstmord soll aber die Verneinung des Willens zum Dasein kennzeichnen, während der gewöhnliche Selbstmörder nur das Individuum verneint. Ist nun das Motiv der unglücklichen Liebe plötzlich zum Quietiv des Wollens geworden? Aus Handlungen läßt sich nicht immer die Gesinnung erkennen. Man könnte am Schluß seiner Darstellung der Verneinung, mit der er seiner so glanzvollen Lehre die Krone aufsetzen wollte, fragen: »Wozu der Lärm?«Bei Durchsicht der Korrektur kommt mir die Befürchtung, daß ich dem großen Manne gegenüber nicht pietätvoll genug gehandelt, d. h. meinen Gedanken nicht die rechte Form gegeben habe.
Nietzsche stellt Schopenhauers ganze Philosophie auf den Kopf: jeder Satz wird zum diametralen Gegensatz der Lehre des von ihm vorher vergötterten Mannes. Mit noch größerem Pathos als Schopenhauer für die Verneinung tritt er für die Bejahung des Lebens ein und packt kurzweg das Mitleid am Kragen, um es aus der menschlichen Natur hinauszuwerfen. Sein Kampf gegen das Mitleid ist ebenso unfruchtbar wie Schopenhauers Aufstellung desselben als Fundament der Moral. Es wird sich behaupten, solange es Tiere und Menschen gibt.Kerner teilt die Geschichte einer Gans mit, die das Bein gebrochen und der von anderen Gesellschaft geleistet wird. Bei Herdentieren ist das Beistehen die Regel; Herdenmenschen sollen es ja unterlassen: es ist Gift!
Nicht aus Mangel an Mitleid hilft der Reiche nicht dem Armen, sondern nur, weil er dem Elend nicht ins Auge sieht. Der Gedanke, daß das Mitleid ein Gift für die menschliche Kultur sei, ist ihm vor Nietzsche nicht in den Sinn gekommen. Sein Verkehr beschränkt sich aber nur auf seinesgleichen, die Exterieur-Sympathie und allerlei auf Stand und Geburt gegründete Vorurteile meiden die Exzitatoren des Mitleids. Im Anblicke der selbstverschuldeten Not eines ihm an Rang Gleichstehenden denkt er gar nicht daran, daß es unnatürlich sei, etwas dem Untergang Geweihtes im Verfall aufzuhalten.
Aber nur ein selbst durchgemachtes Leiden weiß man gehörig zu schätzen, und der Hartherzigste wird in der Anschauung eines analogen Falles Mitleid empfinden. Da jedoch selbst die Wirkung gleicher Ursachen von der Individualbeschaffenheit und der Verkettung äußerer Umstände abhängt, kann dieselbe Ursache dem Grade nach so vielerlei verschiedene Wirkungen erzielen, als es Menschen gibt. Was den einen oft zur Verzweiflung bringt, hat einen anderen, als er es erlebte, kalt gelassen. Es kann daher auch vorkommen, daß der Mitleidigste bei Erkenntnis der Ursache über das Leiden seines Nächsten in lautes Lachen ausbricht. Man müßte stets zugleich der andere sein können. Ein Steinchen, das du mit deinem Fuße leicht beiseite schiebst, kann mir den Rest geben, weil es das millionste ist, das ich beseitigen mußte. Das Hinwegräumen der kleinen Hindernisse, die einem in den Weg gelegt werden, ist es, wodurch zuletzt selbst Riesenkräfte erlahmen.
Davon wißt ihr nichts, ihr dort, jenseits von Gut und Böse, auf den Bergterrassen des Apennin, um Golf der »la Superba.« und am See von Silvaplana. Umfaßt dort glühend den Wiederkunftsgedanken, ihr Göttlichen, mästet ihn mit Austern und Schnepfendreck, badet ihn in Sekt und Burgunder, und wenn ihr einen gefallenen Riesen auf eurem Wege findet, so geht ja an ihm vorüber: es ist ein von der Natur Ausgespiener!
Mir kommt Nietzsches Philosophie vor wie ein Haus mit hundert Toren und tausend Hintertüren. Wenn der Angreifer alle Haupttore besetzt hat, findet der Nietzscheaner immer wieder eine Oeffnung, durch die er entschlüpfen kann. Angesichts der vielen Auffassungsmöglichkeiten des Uebermenschen wird es schließlich dem Geschmacke des einzelnen überlassen, wie er sich dieses Ideal zurechtdichten will. Ein in glänzende Form gebrachtes dichterisches Phantasiegebilde wird von diesen Schöpfermenschen mit einer Schneidigkeit, hinter der sich Prometheus verstecken kann, zu einer kosmischen Tatsache umgewertet. In einem solchen Buche las ich: »Nehmen wir einmal an, der Uebermensch wäre Wirklichkeit geworden, hätte sich in Fleisch und Blut verwandelt und schritte als lebendiges Wesen unter der Sonne einher – so würde er für uns zwar, die wir nicht oder noch nicht Uebermenschen sind, nach wie vor ein Ziel unseres Werdens usw. bedeuten.« Noch nicht! Er räumt es gnädigst ein,' daß wir es noch nicht sind. Seht euch dieses Material zum Uebermenschen genau an! Die erste Vorbedingung ist freilich erfüllt: Das asketische Ideal ist längst überwunden, der Mensch will kein Himmelreich mehr, ein Auto, das über Leichen geht, bietet ihm vollauf Ersatz dafür, die scheußlichsten Verbrechen sind an der Tagesordnung, die Bestie ist herausgebrochen. Das ist aber auch alles. Schafft nun aus dieser perversen Bestie, ihr Schöpferkünstler, den Uebermenschen!
Daß der Wiederkunftsgedanke, wenn er im menschlichen Bewußtsein Wurzel gefaßt, den Menschen zum höchsten Streben anspornen würde, liegt auf der Hand. Wie aber könnte dieser Gedanke Eingang finden? Sollte er dem Kinde eingeprägt, als Tatsache des Bewußtseins proklamiert werden und sich dann vererben von Geschlecht zu Geschlechte? Gesetzt, es wäre möglich: Wie viele große Wahrheiten würden von dieser großen Lüge begraben werden! Wenn aber die ewige Wiederkunft auf Wahrheit beruhte, oder das Ding an sich und die Natur, einmal zu einem kleinen Scherze aufgelegt, sich diesen Hirngespinsten fügen würden: Welches Schauspiel würde uns die Welt einst bieten? Wie würde sich die bisher vergangene, aber immer gleich wiederkehrende Menschheit dem durch die Bildungsmacht des Wiederkunftsgedankens hervorgegangenen Uebermenschentum gegenüber ausnehmen? Als Fäustling stünde Faust dem Nietzscheanischen Riesengeschlecht gegenüber. Und der Schöpfer Nietzsche selbst – wie würde er dastehen, der schließlich selbst bekennt, daß der Wiederkunftsgedanke in ihm seine Macht verloren? Es würde Stoff zu einer Posse geben, wie er drastischer nicht erdacht werden kann.
Nietzsche verneint die Voraussetzung für die Moral. Wo ist die Voraussetzung für die Verwirklichung solcher Ideen? Die Herdenmenschen sollen ihr höchstes Ziel darin erblicken, den Uebermenschen hervorzubringen. Nicht mehr das Volk soll Selbstzweck sein, nicht mehr der einzelne soll sich der Allgemeinheit unterordnen: Der Egoismus aller dem einen großen Egoisten! Hier wird das Kantsche Reich der Zwecke auf den Kopf gestellt. Daß sie dadurch an ihrer eigenen Vervollkommnung arbeiten würden, kommt mir vor wie die Versicherung eines reichen Industriellen, der an seinem Geburtstage den ausgemergelten Arbeitern Honig ums Maul schmiert. Und wenn die Menschheit den Uebermenschen schaffen soll in der Voraussetzung, von ihm dereinst beschenkt zu werden, so wäre das ein Zeichen des höchsten Schwächebewußtseins, das mit der zu erfüllenden Aufgabe in keinem Einklang stünde. Vorläufig aber ist noch das Genie da – der Ansatz zum Uebermenschen: bis zum Einschlagen des »Blitzes« wird ihm die Herrschaft zuerkannt. Wo läuft er also schließlich doch hinaus? Wer soll herrschen? Der Intellektualmensch! Die Vernunft!
Nietzsches so sehr gerühmte Sätze, daß der Mensch, wenn er sich nicht mehr für böse halt, aufhört, es zu sein, und daß der Wert einer Erkenntnis nicht in deren tatsächlicher Wahrheit, sondern im Glauben an diese Wahrheit liege, sind nur Nachbildungen des Kantschen Satzes: »Ein jedes Wesen, das nicht anders als unter der Idee der Freiheit handeln kann, ist eben darum in praktischer Hinsicht wirklich frei«, worin aber ein tiefer Gehalt liegt, weil die Idee der Freiheit in der Vernunft ihren Sitz hat, während jene ihre Voraussetzung nur in der Einbildung haben.
Um Erlösung vom Leide zu finden, schuf Nietzsche das Sinnlichkeitsideal des Uebermenschen. Hat er sie gefunden? Nein! Ueber den höheren Menschen steigt Zarathustra hinweg, weil er kein Schaffender ist, kein Selbstbefreier. Aus Not nicht schaffen zu können, ist ja gerade sein Leid. Dennoch kann er zum Schaffenden werden. Durch eine im harten Kampfe an der Hand der Gewohnheit mögliche Anpassung an alle Lebenslagen, worunter ich nichts anderes als Einverleibung verstehe, wird er sich endlich selbst befreien. Dadurch ist er ein Schaffender und in meinem Sinne auch ein Mächtiger geworden. Er braucht deshalb durchaus kein Lebensverneiner, also Unterdrücker der Leidenschaften zu sein; er hat nur die Macht errungen, sie lenken zu können. Die »kleine Vernunft« hat die große Vernunft am Gängelbande. Diese erhält ihren Urlaubsschein, sich auszulachen und auszutollen, auch wohl zu einem Ausflug nach der Riviera – sie wird bei höheren Exkursionen ihrer Herrin bescheiden in den Winkel kriechen.
Ich bewundere den großen Dichter Nietzsche; seinen im Rauschzustände der Inspiration 6000 Fuß jenseits von Menschen und Zeit entstandenen Phantasiegebilden kann ich keinen praktischen Wert zuerkennen.
Es gibt ein Mittelding zwischen Hegels göttlicher und Nietzsches kleiner Vernunft. Kants Fehler war, daß er ihr in sittlicher Hinsicht zuviel, im abstrakten Gebrauche zu wenig zuerkannte und dafür dem Verstande zuviel zuschob. Auch wollte er sie nicht als Ausrichterin sinnlicher Absichten gelten lassen, wofür er den Instinkt für geeigneter hielt. Schopenhauer nahm ihr wieder die von Kant verliehenen Eigenschaften gänzlich, indem er sie lediglich zum Abstraktionsvermögen degradierte. Was ist sein Mitleid ohne die »sekundäre« Vernunft, was die »große« Vernunft ohne die »kleine«? Arme Vernunft, was hast du schon ausstehen müssen! Je nach Bedarf des Systems wurde sie bereichert oder geplündert. Nietzsche geriet dagegen mit seiner Verherrlichung der körperlichen Stärke ohne System in den größten Irrtum: Die Vernunft ist nur mehr ein Werkzeug des Leibes.
Wohin wäre ich ohne sittliche Vernunft gekommen! Ich habe aber erfahren, daß sie in mir einen fast nur negativen Charakter zeigte, indem sie mich mehr vom Bösen ferne hielt, als zum positiv Guten anspornte.
Das war in meiner Lage auch gerade genug. Mehr als die Negation des Bösen ist überhaupt nicht nötig. Sobald kein Unrecht mehr geschieht, wird das positiv Gute überflüssig.
Ich schreite nun zu meiner eigentlichen Aufgabe: zu zeigen, wie die Idee der Freiheit zur Triebfeder werden kann. Da dieses nur an einer äußersten Grenze möglich ist, könnte man auch sagen, daß, wie nach dem Schopenhauerschen Kausalitätsgesetze der ganze Zustand die Ursache des nächstfolgenden ist, so auch das ganze Selbst zum Evolutionsprinzip der Freiheit werden könne. Der Erzieher mag seine Schlüsse daraus ziehen.
Man könnte sagen, daß ich in frühester Jugend eine große Anlage zum Bösen zeigte. Ob meine Taten die Willungen einer bösen oder übelgeleiteten Gesinnung waren, konnte erst die Zukunft lehren. Mein lebhaftes Temperament mußte so oder so zum Ausbruch kommen. Jedenfalls ist nur der Grad meiner Aeußerungen auf Rechnung meiner so früh entwickelten geschlechtlichen Energie zu setzen. Die Qualität der Aeußerungen wird nach gereifter Erkenntnis vom intelligiblen Charakter bestimmt, während auf einem höheren Standpunkte von diesem die Aeußerung der Freiheit dem Grade nach abhängig sein wird.
Man hat gesehen, wie ich durch Schläge immer verstockter wurde, während ein Blick die größte und beste Wirkung ausübte. Nur für den unmittelbaren Ausdruck der Vernunft war meine Vernunft empfänglich. Ich fälschte die Unterschrift meines Vaters. Gleichsam als Aequivalent für die ihm versagte Pflege hat sich der Intellekt selbst eine Aufgabe gestellt, die er voll Eifer löste. Die schlechte Tat brachte eine gute Wirkung herum. Hegel erblickt in der Geschichte den Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit. Jene zeigt aber, daß dieser Fortschritt nicht durch moralische Mittel erreicht wird. Mein Selbstbewußtsein wurde erhöht; ich hatte nach der Hauptprüfung das freudige Gefühl, meinen Eltern schweres Leid erspart zu haben, das durch den sonst bestimmt eingetretenen Verlust eines Jahres noch erhöht worden wäre. Mein Ehrgeiz bäumte sich dagegen auf, ein auf Grund einer instinktiv gefühlten falschen Behandlung hervorgegangenes Resultat auf Rechnung angeborener Faulheit, mangelnder Fähigkeiten und anderer Defekte setzen zu lassen. Man kann sagen, daß die Furcht vor der Strafe mich zu jener Handlung bestimmte. Darauf entgegne ich, daß nicht die Strafe selbst, sondern deren moralische Bedeutung auf mich den tiefsten Eindruck machte. Nicht der Leib: die Vernunft erhielt die Peitsche. Die unverdiente Strafe reizte mich zu bodenloser Wut, während mir die verdiente dem Grade nach fast nicht genügte. Hätte man die Fälschung der Unterschrift erkannt, so würde ich die Strafe als wohlverdient ertragen haben: das Gefühl der eigentlichen von seiten meiner ersten Lehrer gegebenen Wurzel meiner Fehltritte würde aber immer schärfer hervorgetreten sein. Als ich die Bedeutung meiner Taten schon zu ermessen anfing, hatte ich sie doch nie ernst genommen. Stets hat mich das Gefühl begleitet, daß ich mich auf mich selbst verlassen könne. Das traurigste Ereignis rief endlich den Machtspruch der Vernunft hervor. Hinfort ehrlich zu handeln, war ihr erstes Gebot.
Man hat gesehen, wie ich als Knabe Menschen und Dinge nicht mit gewöhnlichem Auge ansah und schon manchem Rätsel gegenüberstand. Durch die Pedanterien und das auf lächerliche Äußerlichkeiten und leere Formen gerichtete Augenmerk der Herren Apotheker blieb mir der wahre Sinn des Berufes verborgen. Als ich ihn zu erkennen anfing, war die Lust dazu schon einer anderen Neigung gewichen. Ich wollte die Idee jeder Sache erfassen. In meinem Unglücke wurde der Schmerz der Erreger der Sinnlichkeit. Was an jedem Normalmenschen spurlos vorübergegangen wäre, ist mir zur Quelle alles Elends geworden.
Der von meinen Lehrherren auf mich ausgeübte persönliche Zwang machte mir meinen Beruf endlich gänzlich verhaßt und trieb mich zur Bühne. Negative Bestimmungsgründe brachten meine intelligible Maxime zum ersten entscheidenden Ausdruck. Heilige Ehrfurcht vor der Kunst und glühender Ehrgeiz versetzten mich in einen Zustand heftiger Erregung, durch den mir ein an sich unbedeutendes Leiden immer verhängnisvoller wurde. Um mich von einer qualvollen Idee zu heilen, entsagte ich diesem Berufe, ohne deshalb die Forderung meines innersten Wesens aufzugeben. Ich wurde Abiturient. Ein neuer Mißerfolg war die Frucht des eifrigsten Strebens. Das entmutigte mich nicht, noch einmal bei der Bühne mein Glück zu versuchen. Den in der Not des Daseins gereiften Grundsatz, jedem sein Recht zu geben, verlangte ich auch mir gegenüber respektiert zu sehen, und jedes mir oder anderen zugefügte Unrecht konnte mich gewaltig erregen. In diesem Streben habe ich unbewußt ein Surrogat für die nicht befriedigten Ideale gefunden. Die Kluft zwischen mir und meiner Umgebung wurde immer größer und ich war aufrichtig genug, ihr meine Gesinnung nicht zu verhehlen. Der Konflikt war gegeben, die Zahl der Feinde vermehrte sich, und die Armut war ihr Gefährte, mir ein Emporkommen unmöglich zu machen. In der Einsamkeit, im Elende, hatte ich stets die Kraft, jeden niedrigen Gedanken fernzuhalten. Im Kampfe um den Bissen Brot, bei aufreibender unbefriedigender Tätigkeit bin ich oft der Versuchung unterlegen. Der Versucher bin ich nie gewesen. Nur zur Betäubung meiner intelligiblen Maxime stürzte ich mich in den Sinnestaumel, oft Recht und Pflicht vergessend, nur von der Aussicht auf ihre Erfüllung abhängig, war ich Herr meiner selbst oder ein schwankes Rohr im Winde.
Ich habe, wie jene beiden obenerwähnten Falle zeigen, mit Ueberwindung der gewohnten Armut frei, mit Nichtüberwindung des ungewohnten Besitzes unfrei gehandelt. In der Not schliefen alle Neigungen und Begierden den Schlaf des Gerechten; der idealen Forderung, die der Wirklichkeit stets unterlag, war durch die Phantasie ein freies Feld gegeben. Im zweiten Falle weckte jene der ungewohnte Besitz. Späterhin war auch die Macht gewichen, die ein rascher Eintritt des Besitzes über mich gewinnen konnte. Nur dem so krassen, ganz plötzlich sich ergebenden Kontraste war mein Gemüt anfänglich nicht gewachsen.
Im Auf- und Niedergehen meiner Verhältnisse lernte ich Menschen und Dinge immer genauer kennen und fing im Bewußtsein dieser Erkenntnis an, ihr selbst ein Interesse abzugewinnen. Die mir auferlegte Entsagung wurde mir erleichtert durch den Anblick der von ihrem Gegensätze erzielten Wirkung; der Intellekt ermüdete in seinen vergeblichen Anpreisungen des der verlockenden Gegenwart entnommenen Stoffes und konzentrierte sich immer mehr auf abstrakte Gedanken; mein nie aufgegebenes Streben nach Glückseligkeit machte ihn immer erfinderischer, das von der Außenwelt nicht zu erwartende Glück in den entlegensten Plätzchen der Innenwelt zu suchen. Im Verhältnisse des sich immer mehr zum Zwecke herausschälenden reinen objektiven Erkennens ward mir die Befriedigung physischer Bedürfnisse immer mehr Mittel zum Zwecke; immer mächtiger trat die ideale Forderung hervor, als Trägerin aller Handlungen und Motive. Durch alle möglichen Sinnlichkeitsideale immer höher und höher geschraubt, klammerte sie sich in ihrer Not an jeden Strohhalm der Vernunft, bis ich, am äußersten Punkte angelangt, nur auf mich selbst angewiesen, auch in mir selbst den Erlöser erblickte.
Aussichtslos und verzweifelt stand ich an jenem Abend an der Ecke, um im Trunke Vergessenheit, das mir in dieser Lage höchste erreichbare Glück zu suchen.
Da ging vor mir auf ein schwaches Licht und wurde immer mächtiger und größer; das schon gereifte intuitive Erkennen des Wesens dieser Welt traf an der äußersten Grenze zusammen mit der durch Gewöhnung an Not und Elend nicht mehr gehemmten Spontaneität: immer mehr verlor ich mich in das Land der Freiheit. An dieses mir einzig erreichbare Ideal der Vernunft klammerte sich der bis dahin geknechtete und gefolterte Wille, die ideale Forderung, die an diesem durch fortwährende Nötigung aus der Innenwelt unter Schmerz und Qualen hervorgeholten Etwas notwendig ein Interesse nahm. In ihrer höchsten Form genügte sich die ideale Forderung selbst, im Aufgeben des der Sinnenwelt entnommenen Stoffes, in der Idee der Freiheit also, erblickte sie ihre höchste Erfüllung. Erhabener konnte auch die Wirkung des Wiederkunftsgedankens nicht sein nach seinem Auftauchen beim großen Block am See von Silvaplana.
Nach Kant könnte ich nun sagen, daß ich mit dieser Begebenheit eine neue Reihe angefangen habe. Er würde freilich nie zugeben, dies durch ein der Erfahrung entnommenes Beispiel gezeigt zu haben. Nur die Modifikationen meines inneren Sinnes, welche selbst Erscheinungen sind, kann ich wahrnehmen. Nach dieser Wahrnehmung aber hat mich alles zum Hineingehen bestimmt, so daß als Bestimmungsgrund zum Nachhausegehen nur die Kausalität der Freiheit als Grenzbegriff übrigblieb. Nicht hygienische oder diätetische Vorschriften, an die ich in diesem Augenblicke wirklich nicht dachte, haben mich zurückgehalten, noch das Vergnügen an meiner Seelenstärke, der Versuchung widerstehen zu können, da mir die durch den Trunk bewirkte Stimmung ein viel größeres Vergnügen versprach. Nicht die Allgemeinheit der Maxime, nicht das Gebot »du sollst nicht saufen« bestimmte mich zu dieser Handlung, sondern das auf Grund der durch Erfahrung geläuterten und verfeinerten idealen Forderung mögliche Interesse der reinen Vernunft, als notwendige Voraussetzung, mich mit gänzlichem Vergessen des Individuums in eine intelligible Welt verlieren zu können. Begreiflich zu machen, wie diese Idee zur Triebfeder werden könne, ist gerade die Aufgabe, die Kant nicht lösen konnte. Nach Schopenhauer könnte ich sagen: ich bin mir selbst zum kontemplierten Objekt geworden. Wenn er sagt, daß den Heiligen sein Tun als solchen beurkundet, so kann meine durch unmittelbare Einsicht aufgestellte Behauptung nicht minder zulässig erscheinen, zumal auch die ohne irgend einen subjektiven Zweck nach völliger Selbstüberwindung eingetretene erhabene Wirkung, die ich vorher nie gefühlt, für eine ihr homogene Ursache spricht.
Man hat aber ersehen, daß diese Begebenheit in dem vorhergegangenen Zustande, der meine ganze Vergangenheit, mein ganzes vereiteltes Streben sozusagen in nuce repräsentierte, ihre Wurzel hatte. Nur auf Grund dieses Zustandes lief die Idee der Freiheit eine solche Wirkung hervor.
Wenn ich in der nun begonnenen Reihe auch bald wieder »ganz dem Satze vom Grunde verfallen war«, so hat jener Vorfall auf diese neue Reihe, wie eine ewige Lampe, doch stets sein mildes Licht geworfen, das mir immer wieder hinüberleuchtete in jenes herrliche, nicht jedem Sterblichen sichtbare Land. Unter diametral entgegengesetzten äußeren Umständen kann derselbe Charakter zum gleichen Ziele gelangen. Mit dieser Andeutung muß ich mich hier begnügen.
Dort – an den äußersten Grenzen – zeigt sich demjenigen, der klare Augen hat, zu sehen, und Sinn genug für seine reine Schönheit, ein lichter, wundervoller Stern, der ihn mit hohen Kräften anzieht. Heraus aus der Erscheinung wächst er in solchen Augenblicken und gleich dem mathematischen Pendel schwingt höher sein Ich in der Idee der Freiheit.
Woran aber hängt mein lebenslanges Elend – woran diese Augenblicke der Freiheit selbst? An einer Prise Schnupftabak.