Ernst Clefeld
Der philosophierende Vagabund
Ernst Clefeld

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Meine Kindheit.

1853–1866.

Eltern und Geschwister. – Tanten. – Meine Predigten. – Die erste Schulzeit. – Der schnupfende Lehrer. – Sein verhängnisvolles Beispiel. – Gehirnentzündung, – Das Schnupfen und der Sexualtrieb. – Das spanische Rohr. – Geburtsort meiner Mutter. – Benediktinergymnasium. – Allotria. – Meine Fehltritte. – 1866. – Ein Machtwort der Vernunft. – Die Reue. – Tod meines Vaters.

Im Jahre 1853 wurde ich in einer österreichischen Gebirgsstadt geboren, wo mein Vater ein wohlhabender Kaufmann war. Er führte ein größeres Drogen- und Materialwarengeschäft. In meiner Erinnerung steht er als Muster männlicher Ehrenhaftigkeit. Für seine Familie lebte er, den Armen half er, und seinen Angestellten ist er nur zu sehr ein zweiter Vater gewesen.

Meine Eltern hatten sich aus reinster Liebe geheiratet. Die Mutter, eine sehr kluge, praktische und umsichtige Frau, war eine Gutsbesitzerstochter. Ich stand in der Mitte von vier lebenden Geschwistern: drei Brüdern und einer jüngeren Schwester. Der älteste Bruder war als Kind gestorben.

An einem großen runden Tische wurde das Mittag- und Abendessen gemeinsam eingenommen. Oben saß die Familie, zur rechten Seite des Vaters der Buchhalter, in absteigender Reihe folgten die Kommis. Die Lehrjungen aßen mit dem unteren Dienstpersonal in der Küche.

Der Kutscher mußte anfänglich nur die Waren vom und zum Bahnhofe bringen. Um ihn und die einmal vorhandenen Pferde nach jeder Richtung zu verwerten, wurde später eine Equipage angeschafft.

Mein Vater hatte zwei unverheiratete Schwestern, die mit ihm die Eigenschaft unübertrefflicher Herzensgüte teilten und eigentlich nur eine Person repräsentierten, so sehr war ihr ganzes Denken und Fühlen in Eins verschmolzen. Der Heilige Vater möge es mir nicht übel anrechnen, wenn ich durch einen sündigen Eingriff in sein Kanonisationsrecht diese beiden Märtyrerinnen wahrer Frömmigkeit als meine Heiligen verehre.

Die ältere hatte noch das praktische, in den Augen des Feinschmeckers gewiß größere Verdienst, eine vorzügliche Köchin zu sein, und da die Beiden gemeinsam einen von den ersten Kreisen sehr frequentierten Gasthof besaßen, so ist es erklärlich, daß die alten kinderlosen Frauen für mich, ihren Liebling, nur allzu schnell und allzu gerne alles übrig hatten, wonach mein kleines Herz begehrte.

Sie waren einfach und gänzlich anspruchslos. Während die größten Leckerbissen auf dem Herde standen, setzten sie sich zusammen, um aus einer Schüssel ihre saure Milch zu löffeln. Ihr Gasthof stand nicht nur des guten Essens, sondern auch der großen Portionen wegen im besten Rufe. Sie lebten nur für andere. Ich war als Kind schon Zeuge, wie sie mein Vater ihrer großen Freigebigkeit wegen oft eindringlich ermahnte.

Wenn auch Heilige nicht ohne Fehler sind, so ist das gewiß ihr einziger gewesen. Meine natürliche Veranlagung setzte jedoch ihrer übergroßen Opferwilligkeit und Fürsorge schon von selbst gewisse Schranken. Predigen war meine Lieblingsbeschäftigung. Dazu mußte ich aber auch meine Zuhörer haben. Ich stand auf einer aus Pappe angefertigten Kanzel, um die sich das ganze Hausgesinde scharte: Der Gärtner, Knechte und Mägde, die verwundert auf den gescheiten Knaben blickten, wenn ich voll Eifers auf die Kanzel schlagend die goldenen Worte verkündigte, daß es im Himmel kalt sei, weil der Schnee herunterfällt, und daß es donnert, wenn die Engel Kegel schieben.

Ich hatte auch meine Meßkleider, Tabernakel mit Monstranz und alle übrigen Altarrequisiten, da es ja schon als ausgemachte Sache galt, daß ich Geistlicher werde. Weltliche Priester, Kapuziner, Benediktiner, die im Hause verkehrten und da ihren Schoppen tranken, stimmten völlig überein, daß ich ein seltenes Kirchenlicht sei, und ein Dompropst wollte auf meinem Schädel sogar den »Bischofspinkel«Pinkel-Beule. Ich hatte eine solche trotz eifrigsten Forschens jedoch nicht entdecken können. entdecken, als Zeichen meiner Prädestination zur Bekleidung der höchsten Kirchenämter.

Der praktischen Lebensanschauung meiner Mutter konnte dieser mit mir getriebene Kultus nicht gefallen. Sie sagte, daß man mich verziehe, aus mir einen Betbruder mache, und daß ich, weil ich wirklich mehr bei den Tanten zu Hause war, schon gar nicht mehr ihr Kind sei. Mag diese in erster Linie durch eine gekränkte Mutterliebe bedingte Auffassung im allgemeinen noch so richtig gewesen sein, hätte eine solche Erziehung auch in hundert Fällen eine verkehrte Wirkung erzielt, so ist sie doch gerade hier die richtige gewesen. Man hätte mir alle möglichen Spielereien bieten können: ich wäre doch wieder auf die Kanzel gestiegen. Auch hatte ich nie ein Vergnügen daran, mich mit anderen Kindern auf der Straße oder im Hofe umherzutreiben: schon damals war ich am liebsten mit mir allein. Eine so scharf ausgeprägte Individualität erfordert eine auf besondere Prinzipien gegründete Erziehung, und wenn auch von solchen hier nicht die Rede sein konnte, so haben meine Tanten doch in ihrer frommen Einfalt ganz unbewußt das Richtige getroffen. Nur das Gefühl hat sie geleitet. Als ob mein Wille schon damals, ohne sich durch die rechts und links liegenden Verlockungen irremachen zu lassen, nur einem Ziele entgegeneilte, konnte ich nur in diesem einen Spiele Befriedigung finden, und die ideale Forderung, die ich, wie sich später zeigen wird, bis ans Ende hochgehalten habe, tritt hier zum erstenmal in die Erscheinung.

Ich war auch ein fleißiger Junge und habe in der ersten Normalklasse die erste, in der zweiten die zweite Prämie erhalten. Daß ich nicht zu sehr bevorzugt worden, möchte ich allerdings nicht fest behaupten. Jedenfalls war ich aus einem sehr angesehenen Hause, und ich erinnere mich, daß ich dem Lehrer, der meinem Vater und den Tanten seine Not durch Klagen über Familiensorgen und Teuerung der Lebensmittel zu verstehen gab, manchmal Briefe überbringen mußte. Ich vermutete, daß sie Geld enthielten; ich war schon klug genug, zu bemerken, daß der Lehrer an solchen Tagen zu mir besonders freundlich war. Einmal erhielt ich einer kleinen Unaufmerksamkeit wegen mit dem Lineal eine Unzahl von »Batzen«. Ich fühlte, daß mir unrecht geschehe und hatte von dem Tage an nicht mehr die alte Liebe zu ihm. Wenn ich heute an das gerötete Gesicht des Lehrers zurückdenke, der wie besessen drauf losschlug, ist es mir, als ob er einer augenblicklichen, ihm selbst unbekannten sadistischen Neigung nachgegeben hätte, die wohl erst während des Schlagens hervortrat. Der erste Beweggrund dazu war, wie ich annehme, in dem längeren Ausbleiben eines Briefes zu suchen, indem er hoffte, daß mein verweintes Gesicht die Tanten an ihre Vergeßlichkeit mahnen werde, womit er vielleicht auch das Streben verband, durch eine exemplarische Bestrafung des stets Bevorzugten die etwa hinsichtlich seiner Unparteilichkeit ins Schwanken gebrachte Meinung wiederherzustellen.

Wie aber waren auch damals die Lehrer in Oesterreich besoldet! Wer kann auf den armen Mann einen Stein werfen! Er war auf Unterstützungen angewiesen, um seine Familie vor Hunger zu schützen.

Des Eindrucks wegen muß ich hier noch von einer üblen Gewohnheit berichten: er schnupfte leidenschaftlich. Abwechselnd hielt er sich einen Nasenflügel zu, um den Tabak durch den anderen Nasengang mit gehöriger Kraft in die entlegensten Riechgegenden befördern zu können. Wenn der KatecheReligionslehrer eintrat, folgte einer kurzen Begrüßung ein Austausch der Prisen. Mit verklärtem Gesicht und geschlossenen Augen nahm dieser andachtsvoll seine Prise, und die nun eintretende Abwechselung in der Art des Schnupfens der zwei Lehrer forderte meine Urteilskraft zur vergleichenden Kritik heraus, so daß während des ganzen Unterrichts meine Hauptaufmerksamkeit auf die an einer großen, roten, kuppelförmigen, glänzenden Nase einerseits, und die an einer langen, spitzen Adlernase andererseits wahrgenommenen Veränderungen gerichtet war. Wenn mir dadurch zur Auffassung des Kausalitätsgesetzes schon sehr früh eine besondere Gelegenheit gegeben war, so übte diese lasterhafte Eigenschaft auf mich doch eine höchst verderbliche Wirkung aus, indem sie, wie ich vermute, den Grund zu einer bald darauf eintretenden Krankheit legte.

Meine Eltern unternahmen mit mir und den älteren Geschwistern einen Spaziergang. Beim Nachhausegehen, als es schon dunkelte, blieb ich etwas zurück und beschäftigte mich mit dem in meine Phantasie tief eingeprägten Bilde des schnupfenden Lehrers. Nicht die äußeren Förmlichkeiten, die ich verabscheute, beschäftigten mich: die Leidenschaft selbst, mit der er dieses Laster zur Schau trug, brachte mein so leicht erregbares Temperament in Aufruhr. Ich streifte die kegelförmigen Aehrchen der gemeinen Weg-Rispen ab und stopfte die grünen Körnchen wie wahnsinnig in die Nase. Ich geriet in hohe Erregung, die mit einer zum erstenmal auftretenden örtlichen Erscheinung verknüpft war. Von der Bedeutung dieser inneren und äußeren Vorgänge hatte ich natürlich keine Ahnung. Nun wurde ich ein ebenso passionierter Schnupfer wie mein Lehrer, und wenn mir auch die Samenkörnchen zum täglichen Gebrauche genügten, so stahl ich dem Lehrer, wenn er mich nach Tabak schickte, und er schickte stets nur mich, unterwegs eine Prise. Das waren meine ersten Diebstähle. Nach jeder solchen Erregung fühlte ich Kopfschmerzen, und bald darauf stellte sich eine Gehirnentzündung ein. An das Entstehen und den Verlauf dieser Krankheit habe ich keine Erinnerung. Ich sehe nur meine Mutter vor mir, wie sie an meinem Bette saß und mich liebevoll pflegte.

Das erste Semester neigte sich schon seinem Ende zu, als ich in die dritte Klasse bei einem anderen Lehrer eintrat. Seine ersten Worte, als mich mein Vater hinbrachte, waren: »Da ist ja mein vielgeliebter Sohn, den ich mit Schmerzen erwartet habe.« Diese pathetische Begrüßung flößte mir kein kindliches Zutrauen ein. Ich hatte diesem Lehrer auch keine Briefe zu überbringen, wahrscheinlich weil er ledig war und mein Vater die Notwendigkeit einer Unterstützung nicht ersehen konnte. Am Schluß des Schuljahres bekam ich nicht nur keine Prämie mehr, ich war sogar nur der vierzehnte Belobte. Da ich mir diese Zurücksetzung, deren Gründe wohl auch im späten Eintritt und der eben überstandenen Krankheit zu suchen waren, sehr zu Herzen nahm, wurde mir von meinen Eltern durch den neuen Katecheten, einen einfachen, schlichten Mann, ein Album österreichischer Dichter zum Geschenk gemacht. Meine Liebe zur Kanzel war der Liebe zur Poesie gewichen, und zur großen Freude meines Vaters konnte ich schon die meisten Schillerschen Gedichte auswendig.

Der Lehrer der vierten Klasse, ein früherer Feldwebel, hatte seinen Posten als staatliche Versorgung erhalten. Das spanische Rohr stand immer hinter seinem Stuhl. Nur mit dem größten Widerwillen ging ich zur Schule, das Lernen war mir zur Last geworden, weil ich ein Kind war, bei dem man mit Liebe alles, mit Schlägen nichts ausrichten konnte. In diesem Jahre starb mein erster Lehrer. Ich eilte in seine Wohnung, um ihn auf der Bahre zu sehen. Unterwegs traf ich meinen neuen Lehrer. Da er mich einige Tage vorher auch auf einem so eiligen Gange, als ich mir beim Konditor spanische Winde gekauft, überraschte, wofür ich nach Konfiskation der Leckerbissen mit dem Stocke traktiert wurde, glaubte er mich wieder bei einem solchen Staatsverbrechen zu ertappen. »Wohin?« barschte er mich an, sich mir mit militärischer Haltung in den Weg stellend. Ich teilte ihm mein Vorhaben mit. Fast entsetzt trat er zurück, und mich starr anblickend, sagte er: »Wie kann man sich einen Toten ansehen wollen!« Nach einigem Besinnen drehte er mir kurz den Rücken und ließ mich laufen.

Wenn auch angesichts des Todes wieder eine gewisse Zuneigung zu meinem ersten Lehrer in mir erwachte, so trieb mich doch hauptsächlich das Verlangen hin, noch einmal seine Nase zu sehen, die Neugierde, welche Farbe sie jetzt haben mochte. Ich glaubte wirklich zu bemerken, daß ihre Röte selbst dem Tode nicht weichen wollte. Diese Ausdauer befriedigte mich; ich war einer der ersten, um ihm das letzte Geleite zu geben.

Mit dem Vorbilde jener häßlichen Leidenschaft war für mich auch die Anregung dazu geschwunden.

In späteren Jahren erfaßte mich oft ein heißes Verlangen nach einer Prise, deren Genuß mir aber nicht mehr so verhängnisvoll werden konnte.

Nach der Spanischen-Wind-Affaire wurde die Kluft zwischen mir und meinem Feldwebel immer größer. Auch ist er mit seinem verstorbenen Kollegen auf keinem freundschaftlichen Fuße gestanden, weshalb er mich nicht nur aus Opposition gegen die mir zuerst zuteil gewordene Auszeichnung, sondern auch um seine Gerechtigkeitsliebe der Parteilichkeit des anderen gegenüber stark zu betonen, überall zurücksetzte. Ich mochte ihn noch weniger leiden als er mich, und da ich seinem Exerzier-Reglement und den »spanischen Winden« auf meinem Hintern durchaus keinen Geschmack abgewinnen konnte, trieb ich mich, anstatt in die Schule zu gehen, auf der Straße und im Walde umher. Die Folgen davon waren Züchtigungen, Hausarrest, das Verbot, die Tanten zu besuchen, was mich stets am tiefsten traf und meinen Zorn auf den Urheber dieser Strafen bis zum Hasse steigerte. Und wie leicht wäre ich durch Güte und Vernunft zu leiten gewesen!

Meine Eltern waren so einsichtsvoll, den über mich verhängten Haus- und Stubenarrest nicht vorschriftsmäßig zu vollstrecken. Fast jeden Sonntag ging es mit mir und meinen Geschwistern nach einem nahe gelegenen Rittergute, dem Geburtsort meiner Mutter. Welche Seligkeit bot mir die Freiheit nach oft wochenlanger Kerkerhaft; wie freudig pochte mein Herz, wenn ich erst den Eichenwald erblickte, den Schloßteich, und wenn ich durch die lange Pappelallee hüpfend und springend, vorbei an den vielen Wirtschaftsgebäuden, dann endlich vor mir sah das alte Ritterschloß, in dem einst die Mordax hausten. Viele Sagen aus der Vorzeit umgaben es mit romantischem Zauber und beschäftigten lebhaft meine Phantasie. Der Geist des Ahnherrn der seligen Raubritter wandelte zu Zeiten unheilverkündend durch die düstern Gänge, und eine uralte Kindsmagd soll nicht selten ein großes feuriges Rad gesehen haben, das über die steinernen Treppen sauste. Aus den Lauben und lauschigen Plätzchen des tief gelegenen Schloßgartens glaubte ich hier Karls und Amaliens Geflüster, dort das Stöhnen Ritter Toggenburgs zu vernehmen, und eine vielhundertjährige Eiche erzählte mir gar seltsame Geschichten als treue Nachbarin der Schloßkapelle, in der die Trauung meiner Eltern die letzte daselbst vollzogene priesterliche Handlung war. Majestätisch die Häupter wiegend, stolzierten die Pfauen über die grünen Wiesen, und kein Wölkchen trübte mir den dort ewig blauen Himmel. Ich wenigstens kann mich nicht erinnern, daß es dort je geregnet hätte. Wenn ich mich so recht in die Vergangenheit versenke, atme ich noch heute die starke, himmlische Luft, es hebt sich die Brust des Greises, kräftig genug, um hinwegzuhauchen die Form der Zeit, und nichts trennt mich mehr von der goldenen Wirklichkeit meiner Jugend. Das Schuljahr neigte sich seinem Ende zu. Weil mir von meinem Lehrer oft die beschämendsten Strafen auferlegt wurden, indem ich zur Freude derjenigen, die ich früher weit überragte, auf der letzten Bank sitzen mußte, schloß ich mit den dort verdienterweise Sitzenden Kameradschaft. Während jene mich nun mit triumphierendem Lächeln verächtlich anblickten, waren diese stolz darauf, mich als ihresgleichen ansehen zu dürfen. Wenn ich mich auch insgeheim dieser Gesellschaft schämte, so fand mein Selbstgefühl doch einigermaßen Befriedigung, indem ich im Bewußtsein meiner Ueberlegenheit und unverdienter Zurücksetzung und im Gefühle meines inneren Wertes die mir wenigstens von dieser Seite zuteil gewordene Schätzung als mir von rechtswegen gebührend hinnahm. Die Kränkung über das erlittene Unrecht konnte nur durch eine über das Maß hinausgehende Anerkennung ausgeglichen werden. So war ich so früh schon ein Spielball der extremen Meinungen meiner Umgebung. Man beurteilte mich nach meinen Fehltritten, ohne des Uebels Ursprung zu entdecken. Der durch eine unwürdige Behandlung bedingte Trotz und Eigenwille, die eine lange Reihe von Irrtümern und Fehltritten zur Folge hatten, konnte nicht durch eine Steigerung dieser Behandlung gehoben werden. Sobald ich irgend etwas auf dem Gewissen hatte, traute ich mich nicht, meine Tanten zu besuchen, was mir erst recht verhängnisvoll wurde. In ihrer Nähe war ich brav und gut. Wie sollten auch ihre vortrefflichen Eigenschaften auf mein leicht empfängliches Gemüt nicht den besten Einfluß ausgeübt haben! Auf einem meiner Streifzüge kam ich auf den Friedhof. Ich sah auf den Gräbern mehrerer vor meiner Geburt verstorbenen Angehörigen ein prächtiges Blumenarrangement, während auf dem Grabe der Wärterin meiner Kindheit nicht eine einzige Blume blühte. Das schien mir ungerecht. Klopfenden Herzens riß ich mehrere Blumen ab und eilte nach ihrem Grabe. Wie glücklich war ich in diesem Augenblicke, der guten Pflegerin meine alte Liebe und Anhänglichkeit beweisen zu können. Ich glaubte fest, daß sie es vom Himmel aus sehen würde. Doch hinterher kamen die Gewissensbisse: Das Blumenarrangement rührte von meinen Tanten her, denen die Pflege der Gräber besonders am Herzen lag. Längere Zeit besuchte ich sie nicht, bis es mir endlich keine Ruhe ließ, ihnen mein Vergehen zu bekennen. Ich erhielt keinen Vorwurf. Es blühten nur von dem Tage an auch auf dem Grabe meiner Pflegerin Astern und Rosen.


Mit meinem zehnten Jahre kam ich ins Benediktinergymnasium, wohin mir meine Kameradschaft folgte. Jenes lag dem Kloster gegenüber. In der Kapelle des Schulgebäudes fand täglich vor Beginn des Unterrichtes der Gottesdienst statt. Neben jeder Klasse saß in einem Betstuhle der betreffende Klassenvorstand. Es gehörte nicht zu den Seltenheiten, daß ich oft erst während der WandlungHauptaktus in der Messe. die lange Kapelle durchwanderte, um auf meinen Platz zu gelangen. Dieser Versäumnisse und kleiner Spitzbübereien wegen wurde ich bald mit Nachsitzen bestraft. Nach jedem absolvierten »Karzer« wurde ich wie ein Sieger mit lautem Hurra von meinen Spießgesellen empfangen, mit denen ich mich für die ausgestandene Haft durch ein stundenlanges Umherschweifen und die Ausübung neuer Tollheiten entschädigte. Wenn die Entwürfe dazu auch nicht mich zum Urheber hatten, so fand die Ausführung doch in meinem lebhaften Temperament ihre natürliche Stütze. Wir bildeten eine catilinarische Verschwörung: ich war der Catilina. Als solcher mußte ich alle überragen. Auch standen sich die Gymnasiasten und Realschüler wie zwei feindliche Heere gegenüber. Es wurden förmliche Schlachten geliefert, wobei ganz ansehnliche Knüppel als Waffen dienten.

Von der Arithmetikstunde wurde ich stets dispensiert. Sobald der alte ehrwürdige Pater, der auch in der Prima Mathematik lehrte, die Schule betrat, gab er mir, ohne erst den Eintritt meiner Tollheiten abzuwarten, nur den kurzen Wink: Hinaus! Stolz wie ein Triumphator verließ ich zum Gaudium der Klasse und zum Entzücken meiner Bande die Schule. Einmal erschien ich bald darauf am offenen Fenster der im Erdgeschoß belegenen Schulstube, um den Pater mit einem mit Wasser gefüllten Ball zu bespritzen. Ohne die Miene zu verziehen, schloß der alte Mann das Fenster. Diese überlegene Ruhe und das gänzliche Ignorieren dieses Vorgangs, indem er mich sogar straflos ausgehen ließ, machte auf mich einen so gewaltigen Eindruck, daß ich in Zukunft nicht erst die Aufforderung, die Schule zu verlassen, abwartete, sondern schon, bevor er eintrat, verschwunden war. Ich hatte von nun an den heißesten Wunsch, seinen Stunden wieder beiwohnen zu dürfen, und fand nach einiger Zeit auch den Mut, bei seinem Eintritt auf meinem Platze zu bleiben. Nach einem prüfenden Blicke, dem ich reuig entgegenkam, glitt ein Ausdruck der Befriedigung über das Antlitz des großen Erziehers.

Aber noch viel Schlimmeres hatten die armen Patres zu erdulden. In einer höheren Klasse konnte sich einmal der Professor der griechischen Sprache nicht von seinem Stuhl erheben. So oft er es versuchte: Der Talar blieb daran kleben. Man hatte ihm Schusterpech auf den Sitz gestrichen. Sofort wurde der Direktor geholt und eine Untersuchung eingeleitet. Er ließ die drei verdächtigsten, zu denen auch ich gehörte, vortreten und beroch unsere Finger. Keiner konnte überführt werden. Im Bewußtsein meiner Schuldlosigkeit litt ich diesmal unter dem hauptsächlich auf mir ruhenden Verdachte.

Aus dem Beginn meiner Gymnasialzeit ist mir ein Vorfall in Erinnerung, der vielleicht nicht ohne Einfluß auf mein Geschlechtsleben geblieben ist. Ein älterer Herr und Pennälerfreund, den man immer nur in Gesellschaft von Primanern sehen konnte, hatte sich mir eines Abends auf der Straße zugesellt. Ich fühlte mich dadurch sehr geschmeichelt und folgte ihm unter fröhlichem Geplauder in eine dunkle Allee. Schäkernd, als ob er mich necken wolle, berührte er mich fortwährend in schändlichster Weise. Ich war noch rein genug, um darin nicht mehr als nur ein Spiel erblicken zu können. Trotz eines peinlichen Empfindens hinderte mich der Respekt vor dem Primanerfreunde, ihn davon abzubringen. Als er immer zudringlicher wurde und ich schon Schmerzen empfand, erfaßte mich plötzlich ein solches Angstgefühl, ein so heftiger Widerwille, daß ich davonlief. Tagelang fühlte ich mich unbehaglich, und als ich ihm begegnete, durchschauerte es mich. Er wollte mich nicht sehen, er konnte meine Blicke nicht ertragen.

Als Amor meinen Sinnen noch nicht beizukommen wußte, bohrte er mir seine Pfeile desto tiefer in das Herz. Der Graf von Monte Christo und Konsorten halfen ihm, meine Aufmerksamkeit von den Unterrichtsgegenständen auf ein anderes Objekt zu lenken. Kaum vermochte ich das Ende der Schulstunden zu erwarten, um unter das Fenster der Heißgeliebten fliegen zu können. Dort ging ich auf und ab, bis ich einen Blick erhaschte. Mit diesem Blick im Herzen ging ich bis zum nächsten Tage, dann holte ich mir pünktlich einen neuen.

So waren Kopf und Herz von allem Möglichen erfüllt, nur nicht von dem, was sie erfüllen sollte. Da mir durch eine falsche Behandlung die Lernbegierde immer mehr genommen wurde, mußte mein lebhaftes, unbefriedigtes Gemüt zur Aufnahme aller erdenklichen außer der Bahn liegenden Eindrücke immer fähiger werden.

Während des ganzen Schuljahres hatte ich meist durchgängig schlechte Zensuren. Am Ende jedes Monats erhielt ich, wie alle mangelhaften Schüler, einen Schein über die ungenügenden Leistungen, der den Eltern zur Unterschrift vorgelegt werden mußte. Wenn ich auch nur solche Noten erwarten konnte, so fühlte ich doch, daß sie in keinem Einklange mit meinen Fähigkeiten standen. Ich schämte mich, diese Scheine vorzuzeigen und machte die Unterschrift meines Vaters nach. Wie mir die Ausführung gelang, ohne die Fälschung erkennen zu lassen, ist mir noch heute ein Rätsel. Ich war auch jedesmal imstande, die Entdeckung zu verhindern. In den letzten vierzehn Tagen vor einer Semesterprüfung saß ich fast täglich schon um drei Uhr morgens mit dem größten Eifer beim Buche. Stets hatte ich mir die zur Versetzung in die höhere Klasse hinreichende Zensur errungen. Meine Mutter überraschte mich in den Morgenstunden ein paarmal und war sichtlich erstaunt, mich so fleißig zu sehen. Ich erinnere mich auch, wie mein Vater nach einer Hauptprüfung die Hand auf mein Haupt legend, nachdenklich vor sich hinblickte. Es war mir, als ob er sagen wollte: »Du machtest tolle Streiche, dennoch tust du deine Pflicht!« Und was hat mir den Mut zu jenen Handlungen gegeben? Mein Selbstvertrauen, das im Gefühle der Kraft, in kurzer Zeit das Versäumte nachholen zu können, seine Wurzel hatte. Der Erfolg spricht hier für mich. Hätte ein minder Begabter den Mut dazu besessen, so wäre jener höhere Ursprung ausgeschlossen. Mir wurde sie bei noch mangelnder Erkenntnis ihrer eigentlichen Bedeutung nur zum Vehikel meines trotz aller Irrtümer und Torheiten vorhandenen Pflichtgefühls. Ich wollte ein Ziel vor mir sehen, eine Aufgabe, in deren Lösung ich die Befriedigung fand, die mir die trockene Behandlung des Inhalts nicht bieten konnte; und ganz im Hintergrunde erblickt man hier wieder, noch verhüllt und verschwommen, die ideale Forderung, die, anfänglich rücksichtslos in der Wahl der Mittel, erst nach völlig gereifter Erkenntnis unter den schwersten Bedingungen mit der sittlichen übereinstimmen sollte.

Einer meiner Spießgesellen stahl seiner Mutter alte Taler; mir wurde die Aufgabe zuteil, sie umzuwechseln. Dadurch kam es ans Tageslicht. Eine höchst peinliche Verhandlung, die alle Beteiligten an den Ohren herbeizog, verstopfte uns diese Quelle gründlich, womit die nach allerlei Näschereien geweckte Begierde sich nicht zufriedengeben wollte. Ein anderer meiner Kumpane, der Sohn eines Handwerkers, wußte Rat. Wie ein kleiner Mephisto steht der Knirps, der später viele Jahre im Kerker verbrachte, in meiner Erinnerung. Seine Anlage zum Bösen erhielt durch die Dummheit und Affenliebe seiner Mutter die kräftigste Stütze. Sie selbst versetzte meine goldene Spindeluhr, damit wir einen Ausflug machen konnten. Das war mein Verderben. Ich hatte die Uhr als Andenken meines Großvaters von den Tanten erhalten und wagte mich nicht in ihre Nähe. Ihre Klagen hätten nichts gefruchtet, weil ihre übergroßen Zärtlichkeiten den Eindruck machen mußten, daß ich von ihnen verzogen werde. Je mehr Zeit seit meinem letzten Besuche verrann, desto schwerer fand ich zu ihnen den Weg, der mir dieses Geständnis gekostet hätte. Unschlüssig, ob ich es wagen sollte, stand ich oft lange an einer Ecke. Aber gerade in ihrer Nähe, im dadurch erhöhten Gefühle ihrer unendlichen Güte wurde in mir auch das Gefühl der Scham um so größer. Nach wochenlangem Schwanken sah ich eine unausfüllbare Kluft: der Gedanke, daß mir die Rückkehr zu ihnen für immer versperrt sei, raubte mir fast die Besinnung. In diesem Gemütszustande war ich ein schwankes Rohr im Winde. Widerstandslos lieh ich mein Ohr dem Verführer. »Stiehl doch zu Hause,« raunte er mir zu, »stiehl doch, dein Vater ist ein reicher Mann!« Um die Uhr wieder einlösen zu können, stahl ich zum ersten Male Geld. Ich erinnere mich nur noch, daß ich plötzlich mehrere Gulden in der Hand hatte und damit aus dem Hause rannte. Die folgenden Diebstähle fielen mir immer leichter, meine Spießgesellen lagen vor mir im Staube; von Tag zu Tag geriet ich tiefer in ihre Umgarnung, bis ich bei unseren gemeinschaftlichen Ausflügen auch das Letzte in Schlummer wiegte, was die Macht des Bösen in Schranken hielt: die Sehnsucht nach meinen Tanten.

Man wird vielleicht meinen Eltern eine Schuld beimessen wollen. Ich habe gezeigt, wie auf meine sensible Natur so manche Erscheinung einen mächtigen Eindruck machte, die vielleicht auf alle anderen ohne Einfluß geblieben ist: daß meine Irrtümer nicht zum mindesten pathologisch bedingt waren, indem die Nachwehen der Gehirnentzündung meinen geistigen Fortschritt hemmten, und die damit verknüpfte Verminderung des äußeren Erfolges die erste Kränkung meines Ehrgeizes hervorrief. Ich habe gezeigt, wie man in einem nicht sehr umständlichen Regressus zu einem Gliede dieser Kausalreihe gelangend, schließlich ausrufen könnte: Um eine Prise Schnupftabak! Man hat ferner gesehen, wie die subjektiv und durch äußere Umstände bedingte verschiedene Erziehungsmethode und Schätzung meiner Fähigkeiten von seiten der Lehrer auf mein Gemüt den nachteiligsten Einfluß hatten. Man kannte mich zu Hause wohl als kleinen Spitzbuben, wußte aber lange nicht alles, da ich um Ausreden und Lügen nie verlegen war. Es ist zu bedenken, daß mein Vater an einer schweren Herzkrankheit litt und in dieser Zeit schon fast erblindet war, was ihm auch die Leitung des Geschäftes sehr erschwerte; daß wir fünf Geschwister waren und meine Mutter für einen großen Hausstand zu sorgen hatte, so daß ihrem Augenmerk wohl manches entgehen konnte. Der älteste Bruder besuchte ebenfalls das Gymnasium, der jüngste noch die Normalschule, während der Zweitälteste im Geschäfte meines Vaters tätig war, der ihn dann zur Vollendung seiner Lehrzeit einem Geschäftsfreunde anvertraute. Auch mich wollte mein Vater im nächsten Jahre bei einem auswärtigen Gymnasiallehrer unterbringen, was nur infolge des traurigsten Ereignisses unterblieben ist.

Als nicht unwesentlich kommen mehrere böse Beispiele in Betracht. Dem scharfen Auge meiner Mutter war es nicht entgangen, daß im Geschäfte meines Vaters viel gestohlen wurde. Knall und Fall wurde ein Kommis nach dem anderen entlassen. Meines Vaters erhabene Gesinnung hätte es nie zugegeben, sich mit diesen Menschen vor Gericht zu stellen. »Hinaus!« Es hat damals noch keine Kassierer, Kontrolleure usw. gegeben: Das Kassenwesen war eine blinde Vertrauenssache.

Man sollte meinen, daß diese Beispiele auf mich eher abschreckend gewirkt haben müßten. Ursprünglich ist es auch der Fall gewesen. Ich erinnere mich, mit welchem Abscheu ich einen Lehrjungen betrachtete, der von einem später selbst als Dieb entlarvten Kommis auf frischer Tat erwischt worden war. Aber schon war ich zu sehr auf Abwege geraten. Den Einflüsterungen meines Schulkollegen sind diese Beispiele eine erhebliche Stütze gewesen. Auch machte ich mir den Unterschied klar zwischen den von den Kommis verübten Diebstählen und den Diebstählen einiger Gulden im Elternhause. Stets aber hat mich das Gefühl begleitet, auf ein Gebot der Vernunft allen Verlockungen widerstehen zu können. Ich habe mich selbst nicht ernst genommen. Ein so frühreifer, durch solche Umstände irregeführter Intellekt mußte auf Grund meiner natürlichen Veranlagung bei irgendeiner entgegengesetzten Veranlassung auch wieder den Faden zum rechten Wege finden.

Nachdem ich mich mit dem Bewußtsein, ein kleiner Spitzbube zu sein, allmählich abgefunden, hatte ich sogar den Mut, die Tanten wieder zu besuchen. Nur hielt ich es nicht lange bei ihnen aus, da mir die von meiner Kameradschaft winkenden Huldigungen besser zusagten, als die in ihrer Nähe gefühlten stummen Vorwürfe ihrer Güte und Herzensreinheit. Wenn ich mit meinen Eltern in eleganter Equipage durch die Straßen fuhr und einen meiner Spießgesellen erblickte, mußte ich mich zusammennehmen, um nicht hinauszuspringen, so sehr war ich schon in den Klauen des Bösen.

Manchmal hatte ich auch eine heroische Anwandlung. Als im Jahre 1866 der Bruderkrieg ausbrach, fühlte ich mich im Alter von 13 Jahren berufen, der Retter meines Vaterlandes zu werden. Ich wollte mich kurzer Hand nach Berlin aufmachen, um Bismarck zu erdolchen. Schließlich verhinderten allerlei kleine Bedenken und unvorhergesehene Schwierigkeiten die Ausführung dieses heldenhaften Entschlusses. Während des Feldzuges stahl ich zu Hause die verschiedensten Gegenstände und verteilte sie in den Baracken unter die Verwundeten.

Die bevorstehenden Kriegsereignisse waren auch auf meinen ältesten Bruder nicht ohne Einfluß geblieben. Eine ihm in der Obersekunda auferlegte, vielleicht nicht ganz gerechtfertigte Karzerstrafe mag ebenfalls zu seinem unheilvollen Entschlusse beigetragen haben. Er wollte durchaus Husar werden. Schließlich gaben meine Eltern seinem Drängen nach. Er trat als Kadett ein und war in sechs Wochen Offizier.

Leider hat meinen unglücklichen Bruder bald ein trauriges Schicksal ereilt. Er ist ebenfalls fast erblindet und mußte deshalb schon im dritten Jahre den Dienst quittieren.

Zu dieser Zeit sang eine beliebte Sängerin zum Abschied die Dinorah. Auch auf mich machte diese Oper einen solchen Eindruck, daß ich tagelang wie im Traume umherging.

In den Ferien von der dritten zur vierten Gymnasialklasse sagte mein Vater eines Tages zu mir: »Ich habe mit dir etwas vor!« Wie ein Blitz durchzuckte mich der Gedanke: »Mit mir was vor? Dann mußt du von jetzt ab ordentlich sein!« Hört man hier nicht die praktische Vernunft, gleichsam auf einen Anlaß wartend, um alle Neigungen und Begierden mit einem einzigen Machtwort in die Flucht zu schlagen? Ich wußte nicht, um was sich's handelte: ich hatte nur das Gefühl, daß es mit mir so nicht weitergehen könne, als ob mein Vater in demselben Empfinden mich irgendeiner Lebensaufgabe zuführen wolle. Als ich hörte, daß er mich mit ins Bad nehmen wolle, war ich sehr enttäuscht und sagte mir: »Nur das! Dann hat es noch Zeit mit dem Ordentlichwerden.« Und doch hatte es mein Vater so gut mit mir gemeint: er wollte mich meiner Gesundheit wegen mitnehmen, weil ich Spuren eines Nervenleidens zeigte. Als ich einmal in frühester Morgenstunde die Haustorklingel hörte, sprang ich mächtig schreiend aus dem Bette. Ich glaubte, daß der Teufel klingelte und mich zu holen käme: es waren nur die Wäscherinnen. Die vom Religionslehrer geschilderte Bestrafung der Sünden, seine Geister- und Teufelsgeschichten, riefen diese erhabene Wirkung hervor.

Ich reiste mit meinem Vater ins Bad. Die herrliche Natur, die auf mein kindliches Gemüt einen so gewaltigen Eindruck gemacht hatte, konnte nicht mehr zu mir sprechen. Ein ungestümes Wollen verdrängte das reine Empfinden ihrer Schönheit. An dem Orte, wo mein Vater sich erholen sollte, bereitete ich ihm nur Aerger und Verdruß. Ich erzählte einem gräflichen Erzieher voll Stolz meine Spitzbübereien, und als mir mein Vater eines Abends vor den gesamten Badegästen eine wohlverdiente Ohrfeige gab, war ich am nächsten Tag verschwunden. Ich fuhr nach Hause. Bald kam auch mein Vater nach. Keine Züchtigung traf mich mehr, kein Vorwurf kam von seinen Lippen. Ein einziger Blick war es, den er mir zuwarf, ein Blick, aus dem ein tiefer Jammer sprach. An meiner Seite wollte er Ruhe und Erholung finden, mich hatte seine Liebe auserkoren, diese Erholung mit ihm zu teilen, und so hatte ich es ihm gelohnt! Ich lief zu den Tanten und weinte bitterlich. »Komm, mein Kind,« sprachen sie, »wir wollen zur Mutter Gottes gehen, sage ihr alles, was du auf dem Herzen hast, dann wird auch alles wieder gut.« Und vor der Mutter Gottes auf dem Freudenberge kniete ich nieder, zu ihr erhob ich meine Hände in heißem Flehen, sich meiner zu erbarmen. Ich fand meine Ruhe wieder, und mit ihr kam die Erkenntnis. Von dem Tage an mied ich jene Kameradschaft und war wieder bei den Tanten zu Hause. Eine tiefe Traurigkeit bemächtigte sich meiner wie in einer dunklen Vorahnung des nun bald hereinbrechenden schrecklichen Ereignisses. Am Tage vor dem heiligen Abend spielte mein Vater mit mir Schach. Blaß und traurig saß er in seinem Lehnstuhl. Am heiligen Abend um die Mittagstunde hörte ich ihn plötzlich laut stöhnen, und bald darauf schloß er sein liebes Vaterauge für immer. Ich kniete an seinem Bette nieder und gelobte ihm, ehrlich zu bleiben. Ich habe diesen Schwur gehalten.


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