Ernst Clefeld
Der philosophierende Vagabund
Ernst Clefeld

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Ein furchtbarer Betrug.

1894-1896.

Theaterdirektor. – Eine Pleite. – In der Not. – Im ungewohnten Besitz. – Beginn einer Liebestragödie. – Ein süßes Geheimnis. – Heiraten? – Ein Wink. – Auf der Spur. – Beim Frauenarzt. – Das Lügengewebe. – Die Entlarvung. – Das Kleeblatt. – Der Kampf um die Briefe. – Mit einem Fuß im Zuchthaus. – Ich finde mich wieder.

Bald nach meiner Ankunft in Berlin wurde ich von einem früheren Kollegen nach Eberswalde engagiert. Schon nach der dritten Vorstellung erfolgte der Zusammenbruch, weshalb der größte Teil der Schauspieler sofort abreiste. Nur fünf Mitglieder blieben zurück: eine Dame und vier Herren, zu denen auch ich gehörte. An diesem verhängnisvollen Tage war »Die Rantzau« angekündigt. Wir brauchten Geld. Die Vorstellung mußte stattfinden. Die Besetzung wäre noch das wenigste gewesen. Uns drückte eine größere Sorge: wir hatten noch kein Rollenmaterial. In letzter Stunde kam es an. Wir setzten uns hin, richteten das etwa zweiundzwanzig Rollen umfassende Stück für fünf Personen ein und spielten es, abwechselnd soufflierend, ohne Bühnenprobe. Nicht zum Vorteile des Stückes muß gesagt werden, daß die Handlung infolge der Striche keine wesentliche Einbuße erlitt. Der unerwartete Erfolg gab uns den Mut, das Stück in der ganzen Umgegend aufzuführen. Zwei der Beteiligten sind heute wohlbestellte Direktoren, die Dame debütierte fast unmittelbar darauf an einem ersten Hoftheater, der Dritte, vielleicht talentierteste von uns allen, hat den Schauspielerberuf aus innerstem Antriebe mit dem eines Kapellmeisters vertauscht, ohne auch hier etwas Besonderes zu erreichen, und was aus mir geworden ist, wird man bald erfahren. Wie viele, die sich mit meinen Fähigkeiten nicht messen konnten, sah ich später auf der Höhe stehen! An der Seite glänzender Vorbilder reiften ihre mittelmäßigen Talente, das letzte Restchen ihres bescheidenen Reichtums wurde mühsam hervorgeholt und gefeilt und geformt, während ich im steten Kampfe mit den oft in nackter Häßlichkeit hervortretenden Erscheinungen der niedrigsten Ideen der Menschheit den mir von der Natur verliehenen Schatz in Schmutz und Schlamm versinken sehen mußte. Nur auf dem Platze, den die Natur mir angewiesen, hätte ich gedeihen können: auf einsamer, stiller Höhe, deren reine Sphäre der Menschheit stinkiger Auswurf nicht verpestet. In dem mir vom Geschicke angewiesenen Kreise mußte ich mit eiserner Notwendigkeit dem Untergange näherrücken, bis ich, an der äußersten Grenze angelangt, die Kraft gewonnen, jene Höhe auf einem anderen Wege zu erklimmen.

Nach Auflösung des »Rantzau-Ensemble« promenierte ich eines Tages, ohne einen roten Heller in Berlin umher. In der Friedrichstraße kam ein Schauspieler auf mich zu. »Mann, Sie haben einen Kunstschein,« sprach er, »wir wollen Direktion anfangen.« »Ja – und das Geld?« – »Das gebe ich. Wieviel brauchen wir für den ersten Anfang, für Zettel, Reklame usw.?« Sehr zögernd rückte ich heraus, daß es sich unter fünfundzwanzig Mark wohl schwerlich machen ließe, da ich auch noch meinen schwarzen Rock einlösen müsse, um als Direktor gehörig auftreten zu können. Bon! Ich holte mir am nächsten Tage das Geld, wobei ich einen Vertrag unterzeichnete, worin ich ihn als meinen Teilhaber anerkannte, und bald darauf schwang ich das Direktionsszepter in Kyritz »an der Knatter«.

Wir hatten die Mitglieder in Gage genommen, was ein unverantwortlicher Leichtsinn war, der nur dadurch einigermaßen entschuldigt wird, daß mir alle bekannt und befreundet waren und im Vertrauen auf meine Ehrenhaftigkeit und Erfahrung stillschweigend auf das Risiko eingingen: bei schlechtem Geschäftsgange einem plötzlichen Ende des Unternehmens gegenüberzustehen. Meinem unermüdlichen Fleiße gelang es, den Karren in Gang zu bringen. Infolge des geringen Ueberschusses kam es indessen zwischen meinem Kompagnon und mir sehr bald zu Zerwürfnissen. Am tiefsten wurmte es mich, daß er mir bei jeder Gelegenheit vor dem Lokalbesitzer den mir von seinem Gelde eingelösten schwarzen Rock sehr dick aufs Butterbrot schmierte. Diese Herabsetzung meines Besitzes schien mir mit der Direktionswürde noch weniger vereinbar, als wenn ich ihn nie besessen. Der unselige schwarze Rock, der in der Welt schon so viel Unheil angestiftet, wurde auch zum Friedensstörer zwischen mir und Phöbus Apollo an der Knatter. Kurz vor Ende der Sommersaison war ich gezwungen, meinen Musentempel zu schließen, wobei ich einer Dame eine restliche Forderung von sechs Mark und einem erst später hinzugekommenen nicht unbemittelten Anfänger eine solche von ca. zwanzig Mark nicht mehr auszahlen konnte. Ich hatte keinen Pfennig in der Tasche und mußte die Hilfe meines Bruders in Anspruch nehmen, um nach Berlin reisen zu können.

Hier wieder das alte Lied. Nachdem ich schon zwei Tage nichts gegessen hatte, borgte mir ein Bekannter eine Mark. Beim Wechseln derselben wurde mir aus Versehen statt eines Zehnpfennigstückes ein Fünfzigpfennigstück herausgegeben, das ich nach einigem Besinnen gegen das mir zustehende Zehnpfennigstück zurückgab. Da ich damals noch keine Ahnung von einer Ethik und den ihr gegebenen Fundamenten und Prinzipien hatte, war ich unmittelbar auf das mir innewohnende Fundament angewiesen. Es war ein kurzer aber heißer Kampf gegen ein mir von der Phantasie besonders schmackhaft zubereitetes Beefsteak mit Bratkartoffeln und ein für den nächsten Tag in Aussicht gestelltes Menü in der Volksküche. Nach errungenem Siege war aber das Ansehen meiner Notlage tief gesunken: eine mich erhebende Zufriedenheit kehrte in mir ein, ich fühlte mich frei – ich war glücklich.Da der Herausgeber des Geldes ein wohlsituierter Mann war, hätte ich ihn durch die Nichtzurückgabe des geringen Betrages keineswegs objektiv, und, da er nichts davon gewußt, auch subjektiv nicht geschädigt. Nach Kant hätte ich das Geld behalten können, indem die Maxime, daß ich einen in der größten Notlage von einem Wohlhabenden irrtümlicherweise zuviel herausbekommenen Betrag behalte, wodurch ich ihn nicht schädige, mir aber helfe, in Ansehung der notwendigen Pflicht gegen sich selbst ganz gut Anspruch auf die Form der Allgemeinheit erheben kann; ich kann wollen, daß ein solches Prinzip als allgemeines Naturgesetz gelte, da jeder Mensch, auch der Reichste, an den Bettelstab kommen und mithin von diesem Prinzip, ohne den Menschen bloß als Mittel zu betrachten, Gebrauch machen könnte.

Dieser traurigen Lage wurde ich nun von Direktor M ...., mit dem ich einst der mir gegebenen sofortigen Entlassung wegen prozessierte, entrissen: er engagierte mich wieder. Es entging mir nicht, daß ich diese Handlung nicht nur dem Umstände, daß er mich brauchen konnte, zu verdanken hatte, sondern auch seinem ihm selbst nicht klar bemühten Drange, ein gegen mich verübtes Unrecht wieder gutzumachen: und sein Entschluß war um so lobenswerter, als dieser Drang mit dem Unwillen darüber, daß ich ihn vor Gericht zitierte, kämpfte, was er mir nie vergessen konnte. Auf seine Anregung schrieb ich ein aktuelles Sensationsstück, das er mir nach der mit gutem Erfolge stattgefundenen Premiere in der sicheren und auch nicht getäuschten Erwartung einer großen Zahl von Aufführungen für alle unter seiner Leitung stehenden Bühnen für hundert Mark abkaufte. Ich fühlte mich als wahrer Krösus, und als ich mit diesem seltenen Reichtum in der Tasche in einen Laden trat und eine Mark zuviel herausbekam, habe ich diese Mark ganz selbstverständlich – behalten. Und was bestimmte mich, so zu handeln? Was übte eine so verderbliche Wirkung auf mich aus? Der ungewohnte Besitz! Wie ein Alp liegt dieser Dämon auf jedem höheren Begehren. Die so plötzliche Umgestaltung der Verhältnisse ruft einen völligen Umschwung des Empfindens hervor. Der wieder so lange vernachlässigte Körper tritt gebieterisch in den Vordergrund: das augenblicklich nur auf Befriedigung sinnlicher Bedürfnisse konzentrierte Streben streckt schon nach dem abscheulichen »Mehr, immer mehr« gierig die Krallen aus und verleugnet – o Blasphemie ohnegleichen! – für eine Mark den innersten Kern meines Wesens, die einzige Stütze meines Daseins, die mich aufrecht erhielt in Sturm und Nöten, sie, die ideale Forderung, die sich nun meinend verkriecht und ihr göttliches Haupt verhüllt – –! O pfui, pfui! Dich konnte ich verraten, dich! Denn du bist es gewesen, du allein, die mich so oft über jedes Bedürfnis erhob, die mir den Weg zur Wahrheit zeigte und mich den ersten kleinen Schritt tun ließ ins Gefilde der Freiheit.

Hinterher stellte sich freilich Scham und Reue ein. Allerlei törichte Bedenken, u. a. das Preisgeben meiner Schriftzüge, hielten mich ab, das Geld an den Herausgeber zurückzusenden. Schließlich verteilte ich die Mark groschenweise an Hausierer und Bettler.

Ich führte nun ein rohes Sinnenleben, als ob das Tier plötzlich in mir hervorgebrochen und die Natur sich ihm verpflichtet hätte, das Versäumte nachzuholen. Befriedigung habe ich darin nicht gefunden, da ich das Weib nicht fand, das meinen Ansprüchen genügen konnte.

Als ich eines Abends ins Theater ging, sah ich vor dem Eingange ein hübsches junges Mädchen und eine etwas ältere Dame stehen. Verheißungsvoll wurden meine Blicke von jenem erwidert. Täglich konnte ich nun in der Garderobe auf meinem Platze einen Blumenstrauß finden, bis mir nach einigen Tagen ein Dienstmann eine Einladung zu einem Rendezvous brachte, der ich mit Vergnügen folgte. Das herzliche, zutrauliche Benehmen des lieben, gebildeten Mädchens übte auf mich bald einen mächtigen Eindruck aus. Sie sagte mir, daß ich ihr als Martin Luther so sehr gefallen und mein weiches, wohlklingendes Organ mich ihr ins Herz geschmeichelt habe. Wir trafen uns täglich und bald genoß ich in ihren Armen zum erstenmal in meinem Leben in vollen Zügen das Glück der Liebe. Da ich dem in guten Verhältnissen lebenden Mädchen außer meiner Person nichts zu bieten vermochte, mußte ich an dessen Liebe nur um so fester glauben. In meinem Besitze schien Helene glücklich und zufrieden, und mein immer mehr befestigter Glaube an ihre Herzensneigung rief auch eine Steigerung meiner Gefühle hervor. Und ich durfte sie besitzen, keine Vorwürfe und Gewissensbisse trübten mir unsere Zusammenkünfte: sie war mein! Bald flüsterte mir Lenchen ein süßes Geheimnis ins Ohr. Nein! Das konnte ich nicht glauben. So hoch war mein Selbstbewußtsein noch nicht gestiegen. Täglich erwartete ich die befreiende Nachricht, doch immer wieder verkündigte mir ihre traurige Miene schon von weitem den qualvollen Status quo. Ich mußte Gewißheit haben. Mein Lenchen ging zur weisen Frau, und gar nicht lange stand ich in banger Erwartung an einer Ecke, als mir mein Lenchen auch schon die Gewißheit brachte. Obwohl ihr Zustand nun keinen Zweifel mehr übrig lieh, lag doch der Zweifel an meinen Fähigkeiten mit dem sich nun regenden, verlockenden Gefühle der Mannheit im Kampfe. Die Eitelkeit siegte, und weinend umarmte ich mein Lenchen als Spenderin eines Glückes, das ich mir niemals hätte träumen lassen. Diese Seligkeit trübte nur zu bald der Gedanke an ihre Angehörigen. Ihr Vater war ein angesehener Beamter, der Bruder Offizier! Doch ich sollte nicht verzagen. Liebevoll strich mir mein Lenchen die Falten von der Stirne. Sie sei volljährig, sprach sie, und nichts stehe uns im Wege, wenn ich sie heiraten wolle. Und wie sie diese Worte sprach! Als sähe sie in unserer Verbindung nur die Erfüllung ihres höchsten Wunsches, in ihrem Zustande nur das willkommene Mittel, mich für immer besitzen zu können. Ich war völlig aus dem Häuschen. Heiraten – mein Lenchen und – Papa! Wonnetrunken stürmte ich ins Theater, wo ich den Kollegen triumphierend meine Verlobung verkündigte. Der jugendliche Liebhaber lachte, und so zynisch, und alle anderen lachten mit. Auf meine Frage, was das zu bedeuten habe, gab es nur ein noch stärkeres Lachen. Ich sprach mein Bedauern aus, daß ich so töricht war, mein Inneres ihnen preiszugeben, ihnen, die für ein tieferes Empfinden kein Verständnis hätten. Sie dürften doch noch lachen, sagten sie, und sich freuen, wenn ich mich freue; sie wünschten mir von Herzen Glück zu der Verlobung. Als das Gekicher den ganzen Abend kein Ende nehmen wollte, bat ich den jugendlichen Liebhaber unter vier Augen, mir die Ursache dieses Betragens zu entdecken. Er wußte erst nicht, was er sagen sollte. Auf mein weiteres Drängen, ob er das Mädchen kenne, frug er mich, ob sie nicht Violistin sei? »Ja!« »Schlank, brünett mit braunen Augen?« »Ja!« und da und da bei ihrem Vater wohne? »Ja, ja, ja!« Dann stimme ja alles auf ein Haar. Ganz in derselben Weise habe sie sich unlängst ihm genähert. Als seine Braut dahinterkam, sei sie wie eine Furie zum Mädchen hingerannt, um ihm die Lust ganz gründlich zu vertreiben. Es täte ihm unendlich leid um das schöne, liebe Mädchen. Er habe mir bloß nichts gesagt, um mir die Freude nicht zu verderben.

Ich konnte kaum den nächsten Tag erwarten: ich hoffte noch, daß Helene sich rechtfertigen würde, obwohl ich an der Richtigkeit dieser Aussage kaum mehr zweifeln konnte. Er hatte mich auch nicht belogen. Lautlos mit dem Kopfe nickend, bestätigte mir Lene die volle Wahrheit seiner Worte. Mir war noch alles wie ein Traum. Ich fragte sie, warum sie es so eilig hatte, was ihr den Mut gegeben, sich erst ihm und gleich darauf sich wieder mir zu nähern. Leise schluchzte sie, daß sie sich so verlassen fühlte; die Mutter sei schon lange tot und der Vater nie zu Hause. Sie hätte diese Einsamkeit nicht mehr ertragen können und sich deshalb ein Herz gesucht. Ich wandte sehr gelassen ein, daß ihre Schwester doch noch da war und ihr Schwager, wohin sie jetzt doch täglich gehe. Als ich das Wort »Schwager« aussprach, bemerkte ich, daß sie zusammenzuckte. Ein schrecklicher Gedanke stieg in mir auf. Der Schwager ging mir nicht mehr aus dem Sinne, mein Verdacht nahm täglich zu, und als ich ihm endlich in noch sehr zarter Form Ausdruck gab, legte ihre sonst so helle Stirne sich in Falten, mich traf ein flammender, stechender Blick des Zorns.

Ich trug keinen Zweifel mehr, daß ich der Betrogene war. Verschiedene Momente aus dem Anfang unserer Bekanntschaft, auf die ich damals kein Gewicht gelegt, sprachen mir nun immer deutlicher für ihre Schuld. Lene wollte mir eines Tages etwas anvertrauen. Als sie nach einiger Ueberlegung aus ihrer ernsten Stimmung, die ein Geheimnis auf den Lippen trug, plötzlich in einen leichten, heiteren Ton verfiel, drang ich nicht mehr in sie, es mir zu offenbaren. Ich liebte sie zu sehr, ich war so voll des Glückes, daß noch kein Argwohn Wurzel fassen konnte. Es kam mir in Erinnerung, daß sie mir manchmal kleinere Geldbeträge zeigte mit dem scherzenden, leicht hingeworfenen Bemerken, daß sie nicht wisse, was sie damit beginnen solle. Als mir ihre Absicht nicht mehr entgehen konnte, begnügte ich mich doch damit, ihr eine Wiederholung dieses versteckten Anerbietens durch eine vornehme Zurückhaltung für immer zu verleiden. Meine ehrliche Gesinnung war ihr ein Stein des Anstoßes, auf den sie nicht gerechnet hatte. Nicht selten sagte sie: Du tust ja schon wieder so ehrbar! Auf ihrer Jagd nach einem Vater hat sie mit großer Einsicht, die nur Erfahrung geben konnte, ein sehr geeignetes Revier gewählt. Unter dem Komödiantenvölkchen mußte sich – Schockschwerenot! – doch noch ein Kerl finden lassen, der für ein kleines Taschengeld und das Vergnügen ihres Umgangs die Vaterrolle übernimmt! Nur erst einen Vater her und einen recht geschmeidigen, das Uebrige gibt sich von selbst!

Als ich ihr zum erstenmal meinen Arm reichte, hielt sie ihn krampfhaft fest. So klammert sich der Ertrinkende an seinen Rettungsanker. Der erste Hoffnungsschimmer war das Signal für ihre Sinnlichkeit, den Dienst als Trösterin in der Verzweiflung zu quittieren. Der Zauber der Romantik, wofür das Mädchen sehr empfänglich war, mit allem Drum und Dran, mit dem Reize der Gefahr, der Neuheit und des Betruges selbst hatten in aller Hast die Leitung ihrer Sinne übernommen. Sie konnte mich auch recht gut leiden. Mein Scharfblick, mit dem ich den Betrug langsam zu durchschauen anfing, bewirkte selbstverständlich wieder einen völligen Umschwung der Gefühle.

Als ich eines Morgens noch im Bette lag, wankte Helene als halbe Leiche in mein Zimmer. Sie hatte die Frucht getötet. Ich hätte ein Barbar sein müssen, um in diesem Augenblicke noch etwas anderes als nur das tiefste Mitleid zu empfinden. Auch fehlte mir noch die Gewißheit. Die Möglichkeit, daß ich falsch vermutet, war nicht ausgeschlossen.

Ich brachte sie zu einem Frauenarzt. Nach wenigen Stunden kam die Rohrpostnachricht, daß alles glücklich überstanden sei, und als ich sie nach einer Woche wiedersah, fiel sie vor mir auf die Knie und bedeckte meine Hände mit glühenden Küssen. Ich konnte ihr meine Neigung nicht versagen; jeder düstere Zweifel schien getilgt; mein Mitleid wurde noch verstärkt durch den Gedanken, daß mein unseliger Verdacht sie zu dieser Tat getrieben. Ich hielt mich für den Schuldigen. Und dieser Gedanke verfolgte mich auf Schritt und Tritt: er ließ mir keine Ruhe mehr, er machte meinen Zweifel wieder rege. Ich zitterte bei dem Gedanken, daß ich's bin, mir schauderte davor, daß ich es nicht sein könnte. War ich es nicht, dann mußte er, der nur als unbestimmter, düsterer Schatten vor mir schwebte, gleichfalls betrogen sein – oder – erst jetzt kam ich zu dieser Einsicht – um mein Verhältnis mit ihr wissen.

Mittlerweile war es mir nicht entgangen, daß sie mich loszuwerden suchte. »Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen.« Gehen wollte ich ja auch, nur erst die Wahrheit! Ich griff zu einem sehr verbrauchten Mittel, das aber von Erfolg gekrönt war. Als sie mich eines Abends erwartet hatte, sagte ich ihr mit großer Ruhe und Bestimmtheit, daß es mir gelungen sei, den Herrn Schwager durch List zu fangen. Ich wäre nachmittags bei ihm gewesen und hätte ihm ganz ohne Umschweife gesagt, daß er zu ihr in intimster Beziehung stehe. Er möge sich nicht unterstehen zu leugnen, da sie mir alles eingestanden habe. Die Bestimmtheit, mit der ich ihm das auf den Kopf zusagte, hätte ihn auch überzeugt, daß alles Leugnen fruchtlos wäre, weshalb er sich gezwungen sah, mir ein Geständnis abzulegen.

Sprachlos starrte sie ins Leere. Damit begnügte ich mich nicht. Ich wollte von ihr hören, daß sie mich betrogen habe. Sie hauchte nur ein leises Ja. Nun überraschte ich sie noch mit teuflischem Behagen zum Abschied mit der Nachricht, daß mir nicht der ehrenwerte Doktor, ihr Herr Schwager, sondern sie selbst ins Garn gegangen. Adieu!

Ich triumphierte. Ich hatte es doch noch erreicht: die Wahrheit hatte doch gesiegt, die Lüge lag zertreten vor mir. An einen Schlaf war kein Gedanke. Ich lief aus einer Straße in die andere, von einem Gasthaus in das andere. Hoch ließ ich die Wahrheit leben.

Am nächsten Morgen kam Helene in meine Wohnung. Sie hatte den Mut, mich zu besuchen. Abgewiesen. Ich dachte an den Anfang unserer Bekanntschaft. Mir fiel die Schwester ein, die an jenem Abend der ersten gegenseitigen Begrüßung mit ihr vor dem Theater stand. In ihrem Blick, den ich noch heute sehe, schien mir der Ausdruck des vollsten Einverständnisses zu liegen, einer schlecht verborgenen Freude über die Eroberung ihrer Schwester. Ohne es zu wollen, hatte mir Helene einmal verraten, daß sie vor ihrer Schwester kein Geheimnis habe. Also kannte diese das Verhältnis und mithin auch ihren Zustand. Dann aber mußte sie auch ihren Mann als Urheber desselben kennen. Mir war es, als ob ich erst ein kurzes Ende der Wahrheit in den Fingern hätte, als läge noch das Hauptgeschäft vor mir, ihren zarten Faden einem Riesenknäuel der Lüge zu entwinden. Was hatte ich bisher ergründet? Daß sie zu ihm in zärtlicher Beziehung stehe. Damit war seine Vaterschaft nicht anerkannt. Und die Beseitigung der Leibesfrucht! Auch diesen Punkt ließ ich bisher ganz unberührt, obgleich ich nicht einmal ihre Absicht kannte, mithin der Tat ganz fernestand.

Ich war so sehr erschüttert, daß ich den vielseitigen Betrug nicht auf einmal durchschauen konnte. Erst nach Ueberwindung des einen allumfassenden Empfindens ging ich daran, jenen dem Inhalte, der Form und Möglichkeit der Folgen nach näher zu betrachten. Da kroch nun, wie aus einem Schlangennest, ein Ungeheuer nach dem anderen hervor, jedes für sich schrecklich genug, um mich bei seinem Anblick schon mir selbst zu rauben.

Ich forderte nun von Helene ein schriftliches Geständnis, daß ich an ihrem Zustande sowohl als an der Beseitigung desselben schuldlos sei, ihr zugleich das Versprechen gebend, gegen jeden Unbeteiligten das strengste Schweigen zu bewahren. Sie schrieb: »Ich habe keinen Grund mehr, dir zur Erhaltung meiner Liebe die Wahrheit zu verhehlen und bekenne nun, als stünde ich vor Gott, daß ich von dir schwanger wurde, die Leibesfrucht jedoch allein beseitigt habe, mithin der Mann, dem zuliebe ich soweit gekommen, daran nicht beteiligt war. Ich bin mit meinem Schwager einst aus Mitleid, weil er mich unendlich liebte, in sträflichem Verkehr gestanden. Von der Stunde an, wo ich dich kennen lernte, habe ich diesen abgebrochen. Wenn ich den Mut besessen hätte, ihm alles zu gestehen, so würde er mich augenblicklich freigegeben haben, das muß ich zu seiner Ehre sagen. Mein Herz ließ es nur nicht zu, sein Leben zu vernichten. Indem ich also mit der Wahrheit zurückgehalten habe, trage freilich ich allein die Schuld. Für diese Falschheit verdiene ich, daß du dich nun im Zorn von mir wendest.«

Wie ein Erlösungsschrei klang es mir aus diesen Zeilen, wie ein himmelhohes Jauchzen, daß sie nun endlich Aussicht habe, den Geist, den sie gerufen, für immer loszuwerden. Nur diese einzige, volle, große Wahrheit war es, die ich daraus lesen konnte und die ihr wirklich aus dem tiefsten Herzen kam. Das konnte mir aber nicht genügen. Ich bestimmte eine Zusammenkunft. Sie erschien auf die Minute. Ich stellte kurze Fragen. »Hast du mich je geliebt?« Sie schüttelte das Haupt. »Ihn aber liebst du?« Heftig schluchzend nickte sie nun mehrmals. »Du suchtest einen Vater?« Sie bejahte wieder schluchzend. »Um dich zu retten, griffst du zu diesem schändlichen Betrug und heucheltest mir Liebe?« »Nicht meinetwegen tat ich's,« sprach sie leise, »nur um ihn zu retten.« »Den du so unendlich liebst?« »Ja!« »Er wußte auch, daß du die Frucht beseitigt?« »Ja!« Dann ist's ja gut.

Was wollte ich noch mehr? Nun kannte ich doch die volle Wahrheit.

Dieses Geständnis, das auf mich im ersten Augenblicke befreiend und versöhnend wirkte, war bald der Reflexion ein sehr ergiebiger Boden. Ich sah mich nur mehr als ihr Werkzeug, das sie zu seiner Rettung brauchte und dann sehr schnell beiseite warf. Und er – das war der schrecklichste Gedanke – er hatte mich zu diesem Werkzeug ausersehen. Er wußte auch, daß sie die Frucht beseitigt. Und als Gefahr vorhanden war, als der Arzt eingreifen mußte, kam sie zu mir. Helene schrieb mir auch, daß sie es allein getan, ohne jede fremde Hilfe, und das »allein« war unterstrichen. Lüge! Er war der Anstifter und Täter – er hantierte ruhig darauf los, er setzte selbst des Mädchens Leben auf das Spiel in dem Bewußtsein, mich zum Hintermann zu haben. Ich forderte auch hierin ihr volles Einverständnis. Sie sollte mir bestätigen, daß er die Folgen beseitigt habe. Auf Grund des gewonnenen Eindrucks, wie erlösend die Wahrheit auf mich wirkte, räumte sie auch dieses ein. Nun war ich mit dem Mädchen fertig, ich hatte es nur noch mit ihm zu tun und teilte Helene mit, daß ich es als meine Mannespflicht erachte, von ihm Genugtuung zu fordern. Das hatte sie nicht vorausgesehen. In ihrem Streben, sich durch die Wahrheit endlich Ruhe zu verschaffen, hatte sie ihn vergessen. Er durfte nicht erfahren, wie sehr sie ihn mir gegenüber preisgegeben. Ihre Weisheit war zu Ende, sie wußte sich nicht mehr zu helfen und schickte ihre Schwester ins Feuer. Diese kam zu mir und schien gar nicht zu begreifen, wie es nur möglich war, daß Helene sich hinreißen lassen konnte, mir solche Lügen aufzutischen. Es müsse bei ihr im Kopfe nicht mehr richtig sein. Das war natürlich nur Komödie. Sie war die Pflegerin Helenens, als diese nach dem Eingriff des Arztes das Bett hüten mußte, und Helene hatte mir gesagt, daß sie vor ihrer Schwester kein Geheimnis habe. Sie kannte den ganzen Sachverhalt genau; sie war die Dritte im Bunde der modernen »Drei«, die in der schändlichsten Gestalt das Unheil angerichtet: sie mußte um jeden Preis Helenens Briefe wieder haben, die dieses saubere Kleeblatt ins Zuchthaus bringen konnten. Meinem Dickkopf war jedoch nicht beizubringen, daß Helene nicht bei Verstand war, als sie jene Briefe schrieb. Nun bot sie mir versteckterweise Geld an. Ich schien sie nicht zu verstehen. Sie wurde deutlicher. Umsonst! Mit meiner Dummheit war nichts anzufangen. Als schon alle Stricke rissen, griff sie zum Aeutßersten: sie bot sich mir endlich selbst an, da sie, wie sie erklärte, um jeden Preis die Schwester retten müsse. Auch dafür mußte ich bestens danken, gab ihr aber das Versprechen, das ich Helenen schon gegeben, in jedem Falle die Familie zu schonen. Die Entscheidung über mein Verhalten ihrem Manne gegenüber habe ich mir vorbehalten.

Sie hatte sich gedemütigt vor mir. Entschlossen, mir die nach ihrer Auffassung erdenklichste Genugtuung zu geben, war sie bereit, sich selbst zu opfern. Es mußte sie aufs tiefste treffen, daß dieses größte Opfer, das sie bringen wollte, sie nicht zum Ziele führen konnte. Schon regte sich in mir das Mitleid. Ich sagte mir: laß die ganze Sippschaft laufen! Jedoch ich urteilte ja nur nach meinem eigenen Empfinden. War's nicht am Ende eine Falle, die man mir stellen wollte? Und wenn auch nicht, so konnte ich daraus ersehen, daß dieser »Drei« nichts heilig war, wenn die Folgen ihrer Schändlichkeit sie zu entlarven drohten. Ich erkannte deutlicher, in welchen Sünden ich mich befunden: es war mir ein neuer Sporn, in der Vergangenheit zu wühlen und zu graben. Unter kleinen Geschenken Helenens war ein Kreuz mit Blumen, und in ein Buch hatte sie ein Herz gelegt, das in der Mitte scharf gebrochen war. Das waren mir nun Symbole, deren Bedeutung ich als Ausdruck ihrer Absicht zu erkennen glaubte. Ich fragte Helene einst nach ihrem Liebesleben. Sie gestand mir, daß sie schon ein Verhältnis hatte, dem aber ihr Bruder bald ein Ende machte, ihr Bruder, der Offizier. Wenn die Beseitigung der Folgen ans Licht gekommen, wenn gar das Schlimmste eingetreten wäre, wen hätte er zur Rechenschaft gezogen? Den Kerl, den Vorstadtkomödianten, dem eine solche Tat wohl zuzutrauen war. An den Urheber derselben hätte gar kein Mensch gedacht, und der Entrüstungsschrei des Herrn Doktor wäre der lauteste gewesen. Er hätte mich ganz schonungslos der Klinge seines Schwagers ausgeliefert, der ihm auch verpflichtet war, da er ihn reichlich unterstützte. Und was wäre diesem widerfahren? Höchstens ein paar Wochen Festung. Nach mir hätte kein Hahn gekräht; die öffentliche Meinung hätte ihm noch recht gegeben. Bei Helenens erstem Kusse war für mich schon das Zuchthaus offen: während ich an ihre heiße Liebe glaubte, stand immer mit gezogenem Degen ihr Bruder hinter mir. Das wußte sie, das war der höchste Kitzel ihrer Leidenschaft, wenn sie in meinen Armen ruhte. Sie umklammerte ihr Opfer, dem schon die Schlinge um den Hals lag. Sie hat recht gut gewußt, daß, wenn ihr Zustand sich nicht verbergen ließe, die Folgen nur mich treffen konnten. Er hätte sie als die Verführte hingestellt und mich als den Verführer. Eine Heirat, deren baldige Lösung er vor Augen hatte, um sich die Sündenfrucht zu retten, hätte mich davor bewahrt. Als ihn das Mädchen notgedrungen von meinem Verdachte unterrichtete, griff er sehr rasch zum Aeußersten. Sie kam erst gar nicht zur Besinnung. Er hielt sie als sein Opfer bereit, und mich als das Opfer beider. Wie einen Nero sah ich ihn im Hintergrunde. Und ein Kerl verfolgte mich auf Schritt und Tritt. Das war noch nicht Verfolgungswahn. In jeder Kneipe sah ich denselben Kerl vor mir. Was wollte er von mir? Helenens Briefe! Sie wußte, daß ich sie stets bei mir trug, da ich sie nirgends sicher glaubte. Was ich befürchtete, traf ein. Ich wurde nachts in der Nähe meiner Wohnung von drei Männern überfallen, unter denen ich auch wieder denselben Kerl erkannte. Nur mit knapper Not gelang es mir noch, in ein Gasthaus zu entkommen. Am nächsten Tage zog ich aus. Doch auch die neue Wohnung bot mir noch keine Sicherheit. Um diese doch wenigstens für eine Nacht zu haben, kam ich auf den Gedanken, die Briefe eingeschrieben an meine eigene Adresse aufzugeben. Am andern Morgen war ich wieder auf dem alten Standpunkt. Kurz entschlossen ging ich zu einem bekannten Justizrat, dem ich mich anvertraute. Mein ganzes Wesen überzeugte ihn so sehr von der Wahrheit meiner Worte, daß er die Briefe ungelesen, mit meinem Siegel und Namenszug versehen, zur Aufbewahrung übernahm. Noch heute, nach vierzehn Jahren, sind sie in seinen Händen. Doch nur die Beweise für die Schuld der anderen: die Beweise meiner Unschuld trug ich lange an meinem Herzen. Nun atmete ich erleichtert auf und hielt den Zeitpunkt für gegeben, mir den Herrn Doktor vorzunehmen. Nach einigen Tagen war ich im Besitze seiner Antwort, eines abscheulichen Lügengewebes, eines in der Verdunkelung der Tatsachen und im Gebrauche dialektischer Kunstgriffe vollendeten Meisterstückes. –

Mit dem Kniffe, er wolle mit Hintansetzung seiner Person gegen seine Ueberzeugung annehmen, daß ich selbst an das glaube, was ich gegen ihn vorbringe, versuchte er sich zu rechtfertigen, indem er einfach der Wahrheit die Ehre geben wolle. Die Ueberzeugung von meiner Unwürdigkeit und moralischen Schlechtigkeit, der er auch später deutlich Ausdruck gibt, bildet die Unterlage seiner Erörterungen, um scheinbar sachlich sein zu dürfen, ohne sich eine Blöße zu geben und sich für alle Fälle den Rücken freizuhalten. Auch die Verworfenheit des Mädchens muß ihm eine feststehende Tatsache sein. Aber er wußte sie sich noch zu retten. Selbst ein noch so tief gesunkenes weibliches Wesen, schreibt er, könne Gerechtigkeit verlangen, weshalb ich die Genugtuung erlebe, daß er seine Schwägerin vor meinen nichtswürdigen Verdächtigungen rechtfertige. Ihre schriftlichen Eingeständnisse seien freilich eine Ungeheuerlichkeit, die sich aber daraus erklären ließen, daß ich auf sie Zwang ausübte. Sie für immer in meine Gewalt zu bekommen und zum willenlosen Werkzeug meiner Gelüste zu machen, das sei meine Absicht gewesen bei den Teufeleien, mit denen ich sie einzuschüchtern und zu verwirren wußte. Satan habe sich hierin aber selbst betrogen, und in dieser Erkenntnis des Selbstbetruges liege auch die Strafe, die den Bösewicht am empfindlichsten trifft. Ich war der Bösewicht und er der Ehrenmann. Den Hauptpunkt, die Beseitigung der Folgen, berührt er nicht direkt, sondern läßt nur durch die von ihm schlau konstruierte Hinfälligkeit des dazu erforderlichen Beweggrundes auf seine Unschuld schließen. Durch die nicht hinwegzuleugnende Tatsache, daß sich das Mädchen vor mir schon einem andern genähert, gezwungen, macht er mir auch Zugeständnisse, die er aber gleich mit einer Drohung verknüpft, deren objektiver Grund allerdings auf Wahrheit beruhte. Er droht mir, daß er, wenn ich nun nicht Ruhe halte, handeln müsse. Dann aber würde auch zur Sprache kommen, daß ich das Haus des Vaters durch meine Besuche bei Tag und Nacht geschändet, wofür ihr Bruder sicher Vergeltung üben würde. Denn wenn ich auch nehmen durfte, was mir feilgeboten und aufgedrängt wurde, so durfte das immer nur in meiner Wohnung geschehen, und es sei für mich keine Entschuldigung, daß die Ehrlosigkeit des Mädchens in diesem Punkte noch größer war als die meinige. Aber er möchte alle Personen schonen und eine Sache abgetan sein lassen, die ihm die Seele zerrissen habe. Die Angelegenheit sei begraben, sofern ich sie nicht mit Gewalt in die Öffentlichkeit zerre. Nicht aus Gnaden gegen ihn ließe ich die Sache ruhen, sondern aus der von mir erwähnten Rücksicht auf die Familie. Diesen Brief aber möge ich mit den übrigen Schriftstücken beim Justizrat hinterlegen, und damit Gott befohlen! –

Was war nun meine schlichte Wahrheit diesem Riesenbau der Lüge, Heuchelei und Verstellung gegenüber! Auf Grund seiner Stütze von seiten des Mädchens war ihm die Aufstellung dieser Behauptungen möglich, deren Hinfälligkeit ich ihm nachzuweisen suchte. Ja, ich war töricht genug, mich mit diesem geriebenen Halunken in eine längere Kontroverse einzulassen. Der schlaue Schurke hüllt sich nun in den Mantel der Frömmigkeit und wird dabei ironisch, kalkulierend, daß, wenn die Frömmigkeit nicht zieht, die Ironie vielleicht nicht ohne Eindruck auf mich bleiben würde. Er schreibt: »Verschließen Sie sich nicht der besseren Einsicht, denn das ist eine Sünde wider den heiligen Geist, und die zählt zu den Todsünden, die auch im Himmel nicht vergeben werden. Mir fällt da ein schöner Vers ein, dessen erste Hälfte ich mir gesagt sein lassen will, und dessen zweite Hälfte Sie beherzigen mögen:

Sei nicht zu hart, wir alle sind Brüder,
Aus jeglichem Herzen entquillen die Zähren,
Dieselbe Erde deckt bald unsere Glieder,
Ein mächtiger Richter wird Sühne begehren!«

Endlich bemühte sich der Herr Doktor, um was es ihm allein zu tun war, in den Besitz von Helenens Briefen zu gelangen. Durch die ganzen Vorgänge genügend über meinen Charakter unterrichtet, um zu wissen, daß mir nur die volle Wahrheit und Klarheit über eine Sache am ehesten hinweghelfen kann, setzt er voraus, daß ich dasselbe Streben auch seinerseits begreiflich finden werde, und bittet mich, indem er hervorhebt, daß er mir durch die volle Wahrheit die letzte Beruhigung gewährt, die Briefe des Mädchens in seine Hände zu legen. Er habe einmal ein rein psychologisches Interesse daran und komme um so eher über eine Sache hinweg, je klarer er sie durchschaue.

Ich bedauerte, ihm diesen Gefallen nicht erweisen zu können. In den höchsten Zorn versetzte mich seine Erklärung, daß er mich für einen gemeingefährlichen Wahnsinnigen halten müsse, falls ich seinen Worten nicht Glauben schenke. Wenn er unter diesen Umständen, nach den letzten schriftlichen, vollen Geständnissen des Mädchens, deren Wahrheit aus jedem Worte hervorbricht, noch derartig aufzutreten wagte: wie hätte er sich erst gezeigt, wenn ich dem Betrug nicht auf die Spur gekommen und die Sache schlecht abgelaufen wäre? Der Gedanke brachte mich zur Raserei. In grauenhaften Bildern erging sich meine Phantasie, und der Trunk, in dem ich Zuflucht suchte, war nur der Förderer derselben. Ich aß nicht mehr, ich schlief nicht mehr, ich trank nur noch und wie im Taumel stand ich abends auf den Brettern. Nun konnte mein Ruf triumphieren. Man hatte es erreicht. Ich war ein Trinker!

In diese Zeit fiel die Nachricht von Tante Resis Tod. Und in dem Augenblicke, als diese Nachricht kam, empfand ich nichts! In meinem Herzen war kein Raum für einen Schmerz um sie; der Schmerz um diese Heilige verschmähte es, zugleich mit jenen anderen Gefühlen in meinem Innern zu hausen. Das steigerte noch meinen Zorn.

Man hatte mich zur Bestie gemacht. Ich konnte nichts empfinden, nichts in jenem Augenblicke, in dem ein Herz gebrochen ist, das nur für mich geschlagen! Nach Rache schrie es laut in mir. Es zuckte schon in meinem Hirn, ihn, sie und mich zu morden. – – –

Doch der Verstorbenen Geist stand schützend über mir. Der Schmerz über das Nichtempfinden jenes Schmerzes war nur Uebergang. Er reinigte mein Inneres erst, er fegte erst den Unrat fort, um einem reinen, großen, heiligen Gefühle eine würdige Stätte zu bereiten. Höhere Gewalten wirkten auf mich ein. Es trieb mich in die Einsamkeit. Weinend sank ich auf die Knie, und in Wolken gehüllt sah ich eine heilige Dreifaltigkeit, meinen Vater in der Mitte seiner geliebten Schwestern, die segnend die Hände über mich ausbreiteten und mir tröstend zuriefen: Du hast doch uns! Ist dir unsere ewige Liebe nicht genug? Harre aus! Wir haben mehr gelitten als du!


Ich schickte dem Doktor seinen letzten Brief ungeöffnet ohne jede Begleitzeile zurück. Bald darauf war er mit Frau und Schwägerin für immer aus Berlin verschwunden. Ich habe nie mehr etwas von ihnen gehört.


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