Ernst Clefeld
Der philosophierende Vagabund
Ernst Clefeld

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Der Weg zur Freiheit.

1904-1909.

Philosophische Studien. – Vor der stillen Ecke. – Ich laufe nach Arbeit. – Rollenfieber und Laufbursche. – Meine Glanzperiode. – Rückblick.

Wieder jauchzte ich auf, als ich dieser Umgebung entronnen war. In Berlin angelangt, vertiefte ich mich, unbekümmert um die Existenz des nächsten Tages, in philosophische Werke. Solange ich noch ein Zimmer allein bewohnte, konnte mir die Not nichts anhaben. Wenige Groschen genügten für meine täglichen Bedürfnisse. Auf einer Spiritusflamme kochte ich mir mein frugales Mittagsmahl. Erst als ich gezwungen war, mit drei Tischlergesellen zusammen zu wohnen, floh die Ruhe des Gemüts. Das war zu viel. Ich sah mein Alter, die fliehende Gesundheit: mir schien alles aus zu sein, vorbei für immer. Meine Umgebung fürchtend, trieb ich mich auf der Straße oder, wenn ich Geld hatte, in Kneipen umher. Eine stille Ecke war mir besonders lieb geworden. Erst in später Stunde, wenn meine Stubengenossen schliefen, trat ich den Heimweg an.

Zu dieser Zeit las ich Schopenhauers »Ueber die Freiheit des Willens«, worin er ein Beispiel anführt von einem Menschen, der nach beendigter Tageszeit auf der Straße stehend überlegt, wie vielerlei er unternehmen könne, daß er völlige Freiheit habe, dies und jenes zu tun, ja, wenn es ihm beliebe, auch in die weite Welt laufen könne, um nie wiederzukommen. Denkt man sich nun, daß Schopenhauer hinter ihm stehend über ihn philosophiere und seine Freiheit zu allen jenen ihm möglichen Handlungen abstreite, so könnte es leicht geschehen, daß er, um den Philosophen zu widerlegen, eine der leichteren ausführte, keineswegs aber in die weite Welt laufen würde, weil dazu das Motiv viel zu schwach wäre.

Nach langem Darben war ich gerade in den Besitz einiger Mark gelangt. Und nun schnell hinein in meine stille Ecke, um dort die seligste Stunde zu genießen, das höchste Glück, das für mich in dieser Lage erreichbar war. Als ich meinen Fuß schon auf die Schwelle setzte, raunte mir etwas in die Ohren: »Wenn es möglich wäre, in eines Menschen Denkungsart, so wie sie sich durch innere sowohl als äußere Handlungen zeigt, so tiefe Einsicht zu haben, daß jede, auch die mindeste Triebfeder dazu uns bekannt würde, im gleichen alle auf diese einwirkende äußere Veranlassungen, so würde man eines Menschen Verhalten für die Zukunft mit Gewißheit, so wie eine Mond- oder Sonnenfinsternis, ausrechnen können und dennoch dabei behaupten, daß der Mensch frei sei.« Es war Kants Geist. Ich machte halt und stand ihm Rede. Wer mich in diesem Augenblicke beobachtet hätte, würde mich wieder für verrückt erklärt haben. Einen Fuß hinein und einen zurück – wieder hinein und wieder zurück. Ich ging vor der stillen Ecke auf und ab. »Ja, ja, er hat recht, die Rechnung stimmt: ich muß hinein. Es ist noch so früh, meine drei Schlafkollegen sind noch munter, ihr Lachen, ihre Späße machen mich toll. Und gar der eine mit seinem Phonographen, der stundenlang spielt: »Ein Prosit, ein Prosit der Gemütlichkeit!« Dann die Wirtin, der ich noch die Miete schulde! Nun der Krach – und gerade vor den anderen! Ich muß hinein!« Helle Tränen liefen mir über die Wangen, und ein schönes vorübergehendes Mädchen blickte mich mitleidig an. Mir fielen die auch von Rousseau zitierten Worte Virgils ein: » non ignara mali miseris succurrere disco.« Wenn Nietzsche in diesem Augenblicke vorübergegangen wäre, hätte er mir vielleicht auch einen Blick zugeworfen, aber es wäre ein anderer Blick gewesen – – – –!

Doch fort mit den Tränen! Die da drinnen dürfen die Tränen nicht sehen. Wenn ich aber nicht hineinginge! Ich muß aber doch hinein; es zieht mich mit Gewalt hinein: die Berechnung müßte also auch ergeben: ich geh' hinein! Wenn ich aber nicht hineinginge und er sich verrechnet hätte! Doch nein – dann wäre ja sein eigener Satz die Triebfeder, die er bei genügender Kenntnis meines Charakters und meiner Denkungsart mit in Rechnung ziehen müßte und – was sagt denn eigentlich der Satz? Als Naturorganismus bin ich der Naturnotwendigkeit unterworfen wie jedes andere Wesen und könnte dennoch – frei sein. Wenn aber dieser Satz für mich kausal ist, dann ist es eine in der Reihe der Ursachen und Wirkungen sinnlich unbedingte Kausalität: es ist die Idee der Freiheit! Und ich würde frei sein – frei? Kusch, Kanaille, krepier Kanaille, ich bin frei! Und fortwährend für mich hinstammelnd, »ich bin frei, ich bin frei, ich bin frei,« kam ich in meine Schlafstelle, wo sie johlten und tanzten und der Phonograph noch lange spielte: »Ein Prosit, ein Prosit der Gemütlichkeit!« Während die Wirtin schimpfte und fluchte und ich mich mit meinem armen Schindluderchen von idealer Forderung befriedigt in die Ecke schmiegte, klang es mir freilich nicht wie ein »Glockenschlag des Mittag«, denn der war für mich meist ohne Bedeutung, aber wie ein Glockenschlag der Freiheit.

Man vergleiche nun das Schopenhauersche Beispiel mit diesem! Jener Mensch hätte wirklich toll sein müssen, wenn er aus bloßem Trotz gegen den Philosophen in die weite Welt gelaufen wäre. Hinter mir stand auch ein Philosoph, der große Kant, der mich aber gleich an der richtigen Stelle packte. Die eingetretene Wirkung war, um ihr durch höheren Anklang würdigen Ausdruck zu verleihen, so riesengroß, daß gegen sie der höchste sinnliche Genuß mir nur als Zwerg erscheinen sollte.

Vergebens lief ich nun nach Arbeit. Auch die heilige Versicherung, daß ich die gröbste selbst nicht scheuen würde, war gänzlich unvermögend, mir eine zu verschaffen. Je mechanischer und gebundener meine Tätigkeit, desto freier dachte ich zu sein, weil dann wenigstens der Bosheit, die meine größte Feindin war, kein großer Spielraum bleiben konnte.

Ein Theaterbuchhändler und Verleiher nahm sich endlich meiner an. Aus Mitleid mehr als aus Bedarf gab er mir Arbeit, um mich doch vor dem Aeußersten zu schützen. Ich schrieb Rollen, klebte die durch das Verleihen schadhaft gewordenen, ordnete Musikstücke, ergänzte nach dem Alphabet den vorhandenen Katalog durch einen Nachtrag, bediente Kunden, war als Laufbursche tätig und verpackte bei der Uebersiedelung die 5000 Mappen umfassende Leihbibliothek nebst unzähligen Musikstücken und Noten, die ich in der neuen Behausung der Zahl nach wieder in Fächer ordnete. Dafür bekam ich täglich eine Mark und nicht selten ein Mittagessen. Die mir während dieser Tätigkeit gegebene Gemütsruhe entschädigte mich für das geringe Einkommen. Wenn ich, auf einer Leiter stehend, den Staub von den Mappen wischte und das Geschäft besuchende Direktoren, Dilettanten, Komödianten und andere Lichter und Dichter geringschätzig auf mich blickten, wie stolz lachte es da in meinem Innern, wie zufrieden war ich mit mir selbst. Unter dem Scheine der größten Unfreiheit sah ich von meiner Leiter erhaben auf alle da unten herrschenden Begierden und Leidenschaften im Bewußtsein der Macht, sie überwinden zu können. Das ist die Höhe, von der ich vorhin gesprochen. Lessings Nathan spricht das aus mit den Worten: »Der wahre Bettler ist doch einzig und allein der wahre König.« Als die Wintersaison herankam, nahm sich der Theateragent Joseph Beck meiner an. Der gute Mensch! Ueber die seinem Stande wesentliche Exterieur-Sympathie erhaben, besaß er den Mut, mich in meinem abgetragenen Anzüge Herrn Direktor Schönfeld vorzustellen. Es war im neuen Stücke noch eine kleine Rolle zu besetzen. Ohne mir eine bestimmte Zusage zu machen, wies er mich an, im Vorzimmer zu warten. Ich glaubte, meinen Ohren nicht trauen zu dürfen, als mich der Agent nach einigen Minuten fragte, ob ich mir auch einen Frackanzug beschaffen könnte, was ich in der Voraussicht auf einen Vorschuß und in der genauesten Kenntnis der Berliner Lokalverhältnisse zuversichtlich bejahte. Ich wurde engagiert und spielte ungefähr 225 mal in »Bis früh um fünfe«. In diesen sieben Monaten habe ich die seit 25 Jahren sorgenfreieste Zeit gefunden. Mit großer Liebe und Dankbarkeit hing ich an meinem Direktor, wovon er sich wohl nicht die rechte Vorstellung machen konnte: die Kenntnis meines ganzen Lebens wäre dazu erforderlich gewesen. Mein Streben, abermals eine bescheidene Stellung zu finden, ist erfolglos geblieben. Ich mußte während meiner Glanzperiode so vielen Verpflichtungen nachkommen, daß ich den Exterieur-Ansprüchen noch immer nicht genügen konnte. Nur einem besonders günstigen Augenblicke hatte ich jenes Engagement zu verdanken. Ich bin nach langer Zeit in der glücklichen Lage gewesen, meiner hochbetagten Mutter gute Nachrichten geben zu können.

Nach meinen Schilderungen wird nur der tiefer Blickende mich nicht für einen ausgesprochenen Phantasten halten. Die Phantasie ist freilich immer meine subjektive Helferin gewesen, doch habe ich mich niemals von Phantasmen leiten lassen. In objektiver Hinsicht hat sie mein geistiges Auge nie getrübt. Im Gegenteil. Vor dem so deutlichen Erkennen des Wesens dieser Welt floh ich ja nur in ihre Arme. In ganz abnormen Fällen ist sie im Ausmalen der Möglichkeiten allerdings zu weit gegangen; sie ist eine zu eifrige Protektorin des metaphysischen Bedürfnisses gewesen, jede Handlung von innerer Bedeutung bis in die letzten Gründe und Folgen zu betrachten.

Hand in Hand mit meinem Streben, das stets ein höheres Ziel vor Augen hatte, ist auch mein Leiden nur ein höheres, rein geistiges gewesen. Im Kampfe gegen Lüge, Ungerechtigkeit und Bosheit, die ich am tiefsten haßte, habe ich doch auch Befriedigung, im Bewußtsein der durch mein Auftreten betätigten Disharmonie mit allem Niedrigen und Gemeinen doch eine kleine Labung der idealen Forderung gefunden. In hoher Stellung kann man die Menschen niemals gründlich kennen lernen. Nur demjenigen gegenüber, den sie nicht zu fürchten brauchen, geben sie sich, wie sie sind. Bei dem geringsten Anlaß wirft die Selbstsucht ihre Maske ab. Früh sah ich ihr wahres Antlitz, und früh hat dieses Schreckbild mich in die Einsamkeit getrieben. Wenn mich der Hunger aus ihr aufgescheucht, so stand ich in stetem Kampfe als Einzelner dem großen Haufen gegenüber. Die äußere Niederlage erkämpfte mir den inneren Sieg. Das Ueberwinden der über mich bestehenden Meinung, meiner Umgebung also, ist mir die schwerste Aufgabe gewesen.

Aus diesem zähen, rastlosen Verfolgen des idealen Zieles spricht die höchste Bejahung des Lebens, als Mittel zum Zwecke. Nur so konnte ich es schätzen und lieben. Des Daseins wegen hätte ich bei eingetretener Erkenntnis nicht einen Tag gerungen. In höchster Not fand ich es sehr natürlich, die Hilfe meines Nächsten anzunehmen. Die Qualität des Zieles rechtfertigt diese Annahme allein, sie gibt allein den Maßstab zur Schätzung manches Mittels, das der Stolz verbieten würde. Doch gerade die am bittersten erkämpften Augenblicke körperlichen Wohlbehagens waren meinen Idealen der fruchtbarste Boden, die mir wieder für die darauf folgenden Stunden einen königlichen Zehrpfennig gaben. Die Wechselwirkung zwischen Geist und Körper verklärte mein an sich so trauriges Dasein. Ich hatte schönere Augenblicke als der nur vom äußeren Glücke Begünstigte. Wenn man mich fragt, ob ich mein Leben noch einmal leben möchte, so weiß ich nicht darauf zu antworten. Jedenfalls möchte ich es nicht anders gelebt haben.


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