Ernst Clefeld
Der philosophierende Vagabund
Ernst Clefeld

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Einleitung.

Unser ganzes Leben ist auf die konventionelle Lüge gestellt. Wenn ein Mensch seinen Mitmenschen immer und unter allen Umständen die Wahrheit sagen wollte, würde er als Narr und Dummkopf sich um jede Existenz-Möglichkeit bringen. Die Wahrheit ist ein Ideal, von dem alle Menschen schwärmen, nach dem alle Menschen zu streben vorgeben, und dessen Verwirklichung keiner verträgt. Die Wahrheitsucher sind immer irgendwie mit Don Quijote verwandt.

Und so wie man die Wahrheit im Umgang mit seinen Mitmenschen nicht verträgt, so verträgt man sie auch nicht im Umgang mit sich selbst. Wir fälschen alle ein wenig unser Spiegelbild, wir täuschen uns alle mit mehr oder weniger Verstellungskunst über uns selbst hinweg. In verzweifelten Stunden des Daseins ahnen wir freilich manchmal, wie wir in Wahrheit sind, aber wir hüten uns, diese gefährliche Erkenntnis Herr werden zu lassen über unser Leben. Es gehört ein großer Mut dazu, mit sich selbst einen wahrheitsgetreuen Dialog zu führen. Und Leute, die sonst gar kein schauspielerisches Talent haben, sind oft in diesen heimlichen Dialogen mit dem eigenen Ich die besten Komödianten.

Der Mann, der dieses Buch geschrieben hat, ist keiner von den Berühmten und Bekannten. Sein Leben mit den wirren Sprüngen von Tiefe zu Tiefe, mit dem bunten Flittertand und Scheingold des Komödiantentums, mit seiner tragischen Verkettung von Enttäuschungen, bietet nichts Sensationelles, kaum etwas Romanhaftes. Ein Leben in der Niederung. Bei Schmieren und auf Bühnen minderen Ranges. Mißglückte Aufstiege. Die Wanderromantik des Thespiskarrens. All die Leidenschaften und Explosionen der großen Theaterwelt von dem grotesk verzerrenden Hohlspiegel der ganz kleinen Theaterwelt zurückgeworfen. Das aber macht nicht den fesselnden Reiz des Buches aus. Das gibt ihm nicht seinen Wert und nicht seine Originalität. Das Buch ist ein Dokument, weil hier wirklich ein Mensch sich und der Welt gegenüber wahr sein will. Eine Don Quijoterie der Rücksichtslosigkeit – gewiß. Und die Windmühlenflügel haben den armen Ritter gehörig zugerichtet. Aber man bewundert die Unerschrockenheit, die Unermüdlichkeit, mit der dieser Mann nach Wahrheit ringt. Manchmal ist diese Wahrheitssucht sogar krankhaft. Es steckt eine Wollust des Leides in diesem Enthüllen der eigenen Schwächen. Wahrheit ist immer schamlos: muß schamlos sein: denn sonst könnte sie sich nicht nackt zeigen. Aber gerade in den erotischen Partien des Buches sieht man, wie weit entfernt solche Schamlosigkeit der Wahrheit von der Unsittlichkeit ist.

Ich habe Ernst Clefeld auf der Bühne nie gesehen. Ich weiß nicht, ob da ein großes Talent im Schmierensumpf zugrunde ging. Vielleicht wäre aus Clefeld mit Lebenskunst und Glück ein Name ersten Ranges geworden. Aber jede Lebenskunst geht ihm ab. Er ersetzt sie durch Kants Philosophie. Dieser Vagabund ist aus dem Stamme der Gringoires und Rameaus. Im täglichen Ringen mit der Not überwindet er das Unglück. Fortuna hat er nie gekannt. Aber das Glück des Sich-selbst-treu-sein-dürfens hat er sich erobert. Die Not bringt ihn einmal auf den Gedanken, sich als Straßenfeger zu melden. »Nach der Straßenreinigung bei Nacht bliebe mir der Tag zur Disziplin der reinen Vernunft«, schreibt er in sein Tagebuch. Je tiefer er sinkt, desto freier wird er. So ist sein ganzes Buch nur die Geschichte seines Kampfes um die Freiheit. Ein Mann mit einer im Dulden geübten Seele schildert uns sein Ringen um Ideale mitten im dunkelsten Dasein.

Auch in dieses Dasein blickt manchmal ein Sonnenstrahl. Denn auch von Liebe erzählt Clefeld. Aber er war Tor genug, selbst in der Liebe nach Wahrheit zu suchen, und da darf es einen nicht wundernehmen, wenn er auch da nur Enttäuschung auf Enttäuschung fand. Es gibt kein besseres Lehrbuch des Pessimismus als diese Bekenntnisse eines Optimisten.

Allen denen, die einmal in einer Menschenseele lesen wollen, sei dieses Buch der Wahrheit empfohlen.

Charlottenburg.

Rudolf Lothar.


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