Ernst Clefeld
Der philosophierende Vagabund
Ernst Clefeld

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Irrfahrten.

1886-1889.

Das alte Elend. – Große Aussichten. – Fehlschlag. – Zurück Schmierenleben. – Ingenieurassistent. – Akquisiteur. – Adressenschreiber. – Wieder auf der Schmiere. – Ein Attentat. – Bei der Teilungsgesellschaft. – Teilungsverhältnisse. – Kollektenbrüder. – Ich dichte wieder. – Die Rezitationsreise. – Ein Abend vor Knechten und Mägden. – Sturm.

Wochenlang trieb ich mich wieder, nur hier und da bei einem Bekannten schlafend, in Berlin umher. Schon wollte ich meine Kunst mit der eines Hungerkünstlers vertauschen. Ich dachte mich als nur im kleinsten Zeitteilchen existierend, in dem der Schmerz noch nicht empfunden werden kann. Nur in der ersten Nacht fiel mir der Hunger schwer. Am zweiten, dritten Tage wurde mir so leicht, so frei: ich hätte mich in die Lüfte schwingen mögen. Die Paracelsisten würden ihre Freude an mir gehabt haben. Nie empfand ich die Schönheit der Natur so mächtig, als in solchen Augenblicken.

Durch die Hilfe der Unterstützungskasse des Königlichen Schauspielhauses, das in solchen Lagen oft meine letzte Zufluchtsstätte war, fand ich endlich ein Plätzchen, wo ich mein Haupt hinlegen konnte, und die Philosophie bot ihre Hand, mir meinen inneren Frieden wieder zu gewinnen.

Eines Tages wanderte ich mit meinem ehemaligen Akademiekollegen, Oskar Eisenbeth, durch die Straßen. Wir litten beide Hunger, er obendrein mit Familie. Plötzlich trat ein Polizeileutnant an mich heran: »Sie haben soeben meine Frau in unverschämter Weise angeblickt!« Dann mit entsprechender Handbewegung: »Darauf müßte ich Ihnen nicht als Polizeileutnant, sondern als Mann die gebührende Antwort geben.« »Herr Leutnant.« sprach ich, »ich habe zwei Tage nichts gegessen. Ist es möglich, daß einem Menschen in solcher Lage noch dergleichen in den Sinn kommt? Es ist nicht ausgeschlossen, daß ich im Hunger-Delirium völlig unbewußt einen Gegenstand fixierte: ganz zufällig also ist mein Blick vielleicht auf Ihre Frau gefallen.« Das leuchtete ihm ein; er nickte mit dem Kopfe und ließ mich stehen. Aehnliche Fälle sind mir im Leben öfter vorgekommen. Den Impuls dazu hat stets das Weib gegeben. Hysterie, abnormaler Geschlechtstrieb und Eitelkeit sind dessen Triebfedern. Die Machtentfaltung dem fremden Manne gegenüber übt einerseits schon einen gewaltigen Reiz aus und wird andrerseits dem Herrn Gemahl zum Sporn, seine Kraft auf sexuellem Gebiete in erhöhtem Maße zu betätigen.

Als die Wintersaison schon vor der Türe stand, riet mir ein Agent, den meine Lage doch ein wenig rührte, mich dem gerade in Berlin weilenden Direktor des Petersburger Hoftheaters, Herrn Philipp Bock, vorzustellen. Voll Selbstvertrauen ging ich hin. Nachdem ich ihm verschiedene Stellen aus klassischen Stücken vorgetragen, sprach er sich äußerst lobend aus und bestellte mich auf den nächsten Tag. Ich war glücklich. Schon sah ich mich am Hoftheater, und meine Phantasie hatte wieder Stoff genug, mich über alles Entbehren hinwegzusetzen. Rezitierend und agierend lief ich wie ein Besessener durch die Straßen. Alle Vorübergehenden blickten mich an, wobei es nicht an sehr unzweideutigen Handbewegungen nach der Stirne fehlte. Mußte der in einem so schnellen Wechsel eingetretene Kontrast der Empfindungen einen Menschen von so leidenschaftlicher Natur nicht aus dem Häuschen bringen? Vorher der Blick ins graue Elend und jetzt in eine sonnenhelle Zukunft. Und die Seligkeit der Tanten! Morgen gleich ein Telegramm, und wenn ich das Geld stehlen sollte! Endlich war die Stunde da, welche diesen großen Umschwung in meinem Dasein bringen sollte. Mein erster Blick auf den Direktor sagte mir die günstige Entscheidung. »Sie haben ein großes Talent,« sprach er, »ich werde Sie engagieren.« Mit der schon mehr rhetorischen Frage nach meinen Verhältnissen war er eben im Begriffe, mir etwas Geld zu geben, als es klopfte und ohne ein »Herein« abzuwarten, ein Agent mit einem Anfänger eintrat. »Ach, bitte, kommen Sie morgen wieder,« sagte der Direktor zu mir, sein Portemonnaie einsteckend. Und draußen stand ich. Die durch das Portemonnaieziehen des Direktors mit der Vorstellung von Franz Mören, Richards und Mephistos verknüpften und durch meinen leeren Magen aufs höchste geschraubten realen Erwartungen, die bereits Beefsteaks, Koteletts, grüne Aale und Schellfische in Mostrichsauce vor meinen entzückten Sinnen tanzen ließen, konnten augenblicklich mit meinem nihilo privativo zu keiner Einigung gelangen.

Der kleine Schmerz über diese getäuschten Hoffnungen gab jedoch bald großen und gegründeten Befürchtungen Raum. Der Agent war jedenfalls mit einem talentierten jungen Manne gekommen: er brauchte nur die über mich kursierenden Gerüchte aufzutischen, um den Direktor umzustimmen und jenen für mich einzuschmuggeln. Am nächsten Tage kam ich hin: nicht zu sprechen. Ich schnell zu meinem Agenten. Der Direktor hätte gehört, daß ich ein großer Trinker und Krakehler sei: trotzdem wolle er's mit mir versuchen, aber erst im nächsten Jahre; für dieses Jahr solle der Agent mich probeweise an einer anderen Bühne unterbringen.

Ein solcher Sturz aus allen Himmeln war mir nichts neues mehr. Ich geriet außer mir in der Voraussicht eines ungewohnten Glückes: ich war ruhig bei eingetretener Enttäuschung in der Voraussicht des so sehr gewohnten Unglücks. Das Bewußtsein der in mir ruhenden Bedingungen, dieses Glück zu verdienen, entschädigte mich für das mir mit Unrecht entzogene. Das Tragen eines großen Schmerzes fiel mir stets leichter als das kleine Entbehren im Glücke. Ein Zustand äußeren Glückes war für mich stets nur von kurzer Dauer. Mir blieb nie Zeit, mich an ihn zu gewöhnen. Der oft so rasche Umschwung forderte den Körper auf, das lang Entbehrte, was er als solches erst beim Eintritt des Besitzes fühlte, nachzuholen. Die Herstellung des Gleichgewichtes verlangte eine längere Dauer. Dann hätte ich bald die Macht besessen, den Körper dahin zu verweisen, wo er bei mir im Unglück stand: im Hintergrunde!

Ich wurde Herrn Seder, Direktor des Stadttheaters in Zittau vorgestellt, der mich zu engagieren bereit war. Mein Ruf stand mir jedoch auch hier im Wege. Auf Grund desselben hielt der Agent es für geraten, der Direktion das Recht einer durchgehenden Kündigung kontraktlich einzuräumen. Durch eine lange Ueberredungskunst und allerlei Versprechungen ließ ich mich zur Unterschrift bewegen, was ich gleich hinterher bereute. Mir kam der Ursprung meines Rufes in Erinnerung, die schändlichen Motive, welchen ich ihm zu verdanken hatte. Wenn meine Unterschrift auch keine inhaltliche Anerkennung der über mich bestehenden Meinung war, und ich jene, als über meinen Ruf erhaben, eher geben als nicht geben konnte, so beugte ich mich dennoch einer Macht, deren schmutzige Quelle mir bekannt war. Schon die Erinnerung an ihr Entstehen und alles, was damit verknüpft war, brachte mich in mächtige Erregung. Ich konnte diese Macht nicht anerkennen, mein Inneres sträubte sich dagegen; mir schien die Duldung eines solchen Zwangs verächtlich. Die Ruhe, die mir das Entfliehen des scheinbar höchsten Glückes, das ich schon festzuhalten glaubte, nicht rauben konnte, raubte mir nun die Erkenntnis, daß mich das erlittene Unrecht zwingen wollte, mir auch noch selbst ein Unrecht zuzufügen. Für eine Stellung, die mich an sich schon nicht befriedigen konnte, sollte ich mich selbst verleugnen, den Rest von Freiheit, die mir als Schauspieler noch blieb, mir durch das Bewußtsein nehmen, daß ich mich freiwillig unter eine Aufsicht stellte, die meiner ganz unwürdig ist! Die reinste Liebe zur Kunst erfüllte meine Seele; ich hätte für sie jetzt noch leben und sterben können: nun sollte ich, den eigentlich nur die Begeisterung für sie dahingebracht hat, wo ich stand – ich sollte mich nun unter Aufsicht stellen, an meine Pflichterfüllung mahnen, mich erst zu ihrem brauchbaren Diener züchten lassen? Nein! Mag immerhin die Klugheit sprechen, daß ich mich hätte fügen, die über mich bestehende Meinung durch treue Pflichterfüllung widerlegen sollen: ich habe diese Klugheit eben nicht besessen. Es widerstrebte mir, scheinbar durch strenge Zucht es zum Zwerg darin zu bringen, worin ich längst ein Riese war. Aber ich hatte unterschrieben. Als mein Gesuch, den Kontrakt zu annullieren, abschlägig beschieden wurde, bat ich den Direktor, da mir das Reisegeld fehlte, um einen kleinen Vorschuß. Ich sagte mir: Setzt er in dich das Vertrauen, sendet er den verlangten Vorschuß, dann mußt du selbstverständlich hin. Ich wußte aber, daß er ihn nicht senden werde, wie es auch in der Tat der Fall war. Nun konnte ich nicht einmal hin, wenn ich auch wollte: ich hielt mich des Vertrages für entbunden. Nicht so aber der Agent. Er fügte den zwei mir gegebenen Prädikaten noch ein paar andere hinzu und warf mich zu den Toten. Nachdem sich nun meine Kunst in die Arme des sächsischen Schmierenhäuptlings D .... geflüchtet, den, wie man mir sagte, die Dichter des Schwankes »Der Raub der Sabinerinnen« sich zum Vorbilde des Theaterdirektors Striese genommen hatten, nahm sie bald wieder Reißaus, um nach mancherlei Variationen des alten Themas vom Regen in die Traufe zu kommen. Mein neuer Direktor hatte die Leidenschaft, sich das Publikum durch seine eigenen künstlerischen Darbietungen gewaltsam »hinauszuspielen«, so daß schon am ersten Gagetage Stockungen eintraten, bis alsbald der Tod des Erbprinzen von A .... eine vierwöchige Landestrauer hervorrief. Das war ihm ein gefundenes Fressen: er machte sich aus dem Staube, uns statt der restlichen Gagen die Erinnerung an seine dilettantenhafte Leitung als Zehrpfennig für die lange Trauerzeit zurücklassend. Nach Ablauf derselben übernahm der Lokalbesitzer, der Kunst und Künstler vom Standpunkte eines Bierzapfers aus taxierte, die Direktion. Eine bekannte Schauspielerin absolvierte in Z.... ein kurzes Gastspiel. Unmittelbar darauf wurde mein Benefiz angesetzt. Um nicht ein gänzliches Fiasko zu erleben, ging ich einladen: ich lief mit den Billetts von Tür zu Tür. Die mittelmäßige Gesamteinnahme des Abends, an dem der Herr Direktor sonst nicht zum Spielen gekommen wäre, ist nur das Resultat meiner Bemühungen gewesen. Trotzdem brachte er mir so hohe Tageskosten in Anrechnung, daß ich nicht einen Pfennig herausbekam. Ich schied infolgedessen plötzlich aus, worauf er mich in der Zeitung angriff. Nach einer entsprechenden Entgegnung unterbreitete ich den Fall dem damaligen Präsidenten der Bühnengenossenschaft, dem Generalintendanten Botho von Hülsen. Dieser edle Mann, der stets ein wahrer Beschützer der armen, unterdrückten Schauspieler gewesen ist, sprach mir sein aufrichtiges Bedauern aus, daß mich mein Geschick zu einem Unternehmer führte, der in seiner Konzession nur das Mittel zur Ausbeutung des Schauspielerstandes erblicke. Ich machte von diesem Schreiben ganz ausgiebigen Gebrauch. Die durch die Macht der Autorität bewirkte moralische Vernichtung des Gegners blieb auch nicht ohne Einfluß auf meinen Rezitationsabend: ich hatte einen guten materiellen Erfolg. Als mir die daselbst tagende Freimaurerloge auch noch einen neuen Anzug kaufte, sah ich mich in der beneidenswerten Lage, wie ein Baron nach Berlin reisen zu können.

Nun konnte mir aber auch ein entsprechendes Auftreten nicht mehr helfen. Mein Ruf war bis zu den Schmieren gedrungen. Um Berlin nur wieder verlassen zu können, mußte ich einen anderen Namen annehmen. Erst nach einiger Zeit entdeckte ich mich dem Direktor, der angesichts meiner treuen Pflichterfüllung sehr erstaunt war, in mir den berüchtigten Säufer und Krakehler als Mitglied seiner Bande zu sehen. Ich war artig, höflich, nachgiebig, zuvorkommend, solange es nur einigermaßen anging: ich griff zum Aeußersten der Gemeinheit gegenüber. Als in dem lieblichen Schusterstädtchen, woher die berühmten Kalauer stammen, der Karren ins Stocken geriet, der Herr Direktor aber, während wir hungerten, sich noch immer mit Rebhühnern und Tauben mästete, wollte er plötzlich die zweite Hälfte meines Rufes vollauf bestätigt finden. Ich verklagte ihn auf Zahlung der rückständigen Gage. In einem schäbigen, schwarzen und zur Verdeckung seines dicken Bauches zugeknöpften Ueberzieher, den er sich aus einer alten Mottenkiste ausgegraben haben mußte, erschien er tränenden Auges vor Gericht, sein graues Elend schildernd. Nach einer Vertagung des Termins – was mir unter solchen Umständen wie ein ganz miserabler Kalauer vorkam – zahlte er mir die Hälfte des rückständigen Betrages, mit dem ich diesmal mein Heil in Dresden suchte.

Ich fand, daß es sich da ebenso schön hungern lasse, wie in Berlin, und Mutter Grün mir auch hier ein Obdach gewähre. Nach einigen Wochen schickte mich der Agent zu meinem alten Direktor und Protektor Karl Schiemang, bei dem ich im Anfange meiner ersten Bühnenlaufbahn engagiert war, und der seinerzeit auf mich die größten Hoffnungen setzte. Bei meiner Ankunft schien es mir, als träfe mich aus seinen Augen ein Blick des Vorwurfs, des Mitleids fast, daß ich gezwungen war, noch einmal meinen Weg zu ihm zu nehmen. Gar viele, die heute auf der Höhe des Ruhmes stehen, haben bei ihm angefangen. Mit großem Stolze sprach er stets von Hugo Thimig, der ein Jahr vor mir bei ihm war. Da er den Grund nicht kannte, der von Anfang an mein Vorwärtskommen hemmte, und ich ursprünglich auch über pekuniäre Mittel verfügte, die mir den Weg ebnen konnten, sah er sich offenbar bestimmt, die Schuld nur meinem Leichtsinn beizumessen. Und um so tiefer mußte ihm mein Sturz aus jener Höhe, auf der mich einst sein geistiges Auge schon erblickte, nun erscheinen, als er selbst gesunken war. Er hatte sein Vermögen verloren. Dennoch verstand er es, sein Theater noch an der äußersten Grenze der Schmiere zu halten, sich das Nötigste versagend, um nur die Gagen zahlen zu können. Er war einer der wenigen Direktoren, die ich leiden konnte. Ein Jahr darauf fand man ihn bei grimmigster Winterkälte im Walde als Leiche. Er hatte Reisholz gesammelt, um sich den Ofen heizen zu können.

Während dieses Engagements gab sich mir eines Abends im Gasthause ein Herr, der mich an meinem Dialekt erkannte, als Landsmann zu erkennen. Als ich ihm meinen Familiennamen nannte, war er erstaunt, mich in solchen Verhältnissen zu sehen. Ich müsse heraus aus dieser Lage. Er sei Ingenieur und suche eben einen zuverlässigen Mann: ob ich mich entschließen wolle, meinen Beruf für einen anderen hinzugeben, in dem ich Geld verdienen könne, viel Geld, haufenweise! – Mit tausend Freuden! Beim Theater hatte ich doch nichts mehr zu gewinnen. Topp! Er bestellte mich auf den nächsten Tag, um mit mir alles Nähere zu besprechen.

Müßte meine Phantasie, deren Luftgebilden die Wirklichkeit bisher nur Hohn gesprochen, im Entwerfen neuer Bilder nicht endlich doch ein Haar gefunden haben? Weit entfernt! Als ob sie sich an ihrer Gegnerin rächen, als ob sie zeigen wollte, daß sie in ihrem Hause unumschränkte Herrin sei, schien sie bemüht, jede frühere Leistung mit dem ganzen Aufwand ihres Reichtums noch zu überbieten. Mein krankes, nie befriedigtes Gemüt stand ihr sehr treu zur Seite. Unaufhörlich nagte die Hoffnungslosigkeit, den Tanten helfen zu können, der Vorwurf, daß ich sie ins Elend stürzte, wie ein Wurm an meinem Herzen. Und nun sah ich die Möglichkeit dazu vor Augen. Ein fester Wille, rastloser Fleiß, mußten mich zum Ziele führen. Und daran sollte es mir nicht fehlen. Ich setzte meinen Tanten schon eine Lebensrente aus und machte den Entwurf zu einem Monument nach ihrem Tode.

Am nächsten Tage war ich da auf die Minute. Ich wartete, – ich wartete stundenlang: er kam nicht. Mit beschleunigter Geschwindigkeit kamen meine Luftschlösser zum Falle. Ich ärgerte mich nur noch über meinen Landsmann, ich glaubte den Charakter des Oesterreichers, hauptsächlich aber den des Wieners zu erkennen. Gemütsvoll, menschenfreundlich, ist er im Anschauen fremden Leides so mächtig hingerissen, daß er, um ihm abzuhelfen, leichtsinnig genug ist, sich selbst mit Leib und Seele zu versprechen. Nur ist's mit dem Versprechen nicht getan. Im ersten Augenblicke ist das Gemüt der Träger der Vernunft: mahnt man ihn an sein Versprechen, so hört man nur noch die Vernunft, und er wird es sehr übelnehmen, daß man aus Dank für seinen guten Willen ihn auch noch mahnen konnte. Man muß ihn augenblicklich fassen. Und wenn er auch da nur ein Viertel des Versprochenen hält, so ist es wohl nicht weniger als das, wovon der Deutsche sich aus reinem Mitleid trennen könnte. Dieser mag kälter sein und unzugänglicher, aber: er redet nicht so viel, er handelt. Ich will meinen Landsleuten durchaus nicht zu nahetreten und spreche nur vom Durchschnittsmenschen, der die großen Worte liebt, mit denen seine Handlungen in keinem Einklang stehen und eben dadurch oft viel minderwertiger erscheinen müssen, als sie es tatsächlich sind.

Nach einiger Zeit, als ich schon nicht mehr daran dachte, wurde ich vom Ingenieur durch einen Boten in ein Restaurant bestellt. Er entschuldigte sein Ausbleiben durch Unwohlsein und wiederholte sein Versprechen, zu dessen Bekräftigung er mir gleichsam als Angeld ein Zehnmarkstück schenkte. Ich habe es mehr als Lösegeld betrachtet. Um so mehr war ich erstaunt, als er mir die Nachricht brachte, daß er mit der großen Spinnerei des Kommerzienrates G .... in N.... einen glänzenden Vertrag geschlossen habe und ich nun von ihm engagiert sei.

Mein Direktor, dem infolge des schlechten Geschäftsganges vor seiner Uebersiedelung nach einem sehr kleinen Orte eine Entlastung des Etats nur angenehm sein konnte, wollte meinem Glücke nicht im Wege stehen, er ließ mich ruhig ziehen, indem er mir noch seinen Segen mitgab.

Ich reiste mit dem Ingenieur nach N ...., wo er in der erwähnten Spinnerei, die wohl ein paar Tausend Arbeiter beschäftigte, Gasregulatoren aufzustellen hatte. Diese wurden an jedem Hauptrohre angesetzt, um durch Verminderung des Druckes eine Ersparnis zu bewirken. In eisiger Kälte mußte ich nun um halb sechs aufstehen, was mir anfänglich nicht leicht fiel. Am ersten Tage war auch der Ingenieur um diese Zeit schon auf dem Posten. Wir gingen zusammen in die Fabrik. Der erste Eindruck war vernichtend. Das hier so nackt in die Erscheinung tretende materielle Streben rüttelte die ideale Forderung aus ihrem Schlummer. Heraus aus ihrem Dunstkreis sah sie sich plötzlich in eine ihr ganz fremde Welt versetzt.

Im Laufe des Vormittags stellte mich der Ingenieur dem Sohne des Kommerzienrates, einem Leutnant der Reserve, als seinen Assistenten vor. Das machte mich verlegen und ich wurde es noch mehr, als der Leutnant, mich scharf ins Auge fassend, sagte, daß er mich kennen müsse. Woher? Wahrscheinlich war ich ihm aus seiner Dienstzeit von meiner Tätigkeit auf irgendeiner Schmiere im Gedächtnis. Als er mich nach dem Namen fragte, nannte der Ingenieur sehr schnell meinen Familiennamen. Ich kam mir vor wie ein Verbrecher. Noch schrecklicher wurde mir zumute, als ich bei Beginn der Arbeit nicht wußte, wie ich mich tätig zeigen sollte. Fragend blickten sich die Monteure an, wer ich denn sei und was ich eigentlich vertrete. Der Ingenieur hat sich gehütet, mich ihnen mit derselben Dreistigkeit als seinen Assistenten vorzustellen. Ihre Blicke wohl bemerkend, verkehrte er mit mir auffallend freundlich, um mir dadurch doch einigen Halt zu geben. Als der Leutnant erschien, um sich über die Aufstellung der Regulatoren zu informieren und er mich wieder so forschend ansah, hielt ich mich nur mühsam aufrecht. Das Getöse der Maschinen machte mich ganz verwirrt. Ich hatte des Gefühl, die Räder müßten mich erfassen und zermalmen. Hinsichtlich der Kontinuität der Folter kann ich mich nicht an einen zweiten solchen Tag erinnern. Ich dankte meinem Schöpfer, als es Feierabend war. Das Schmierenleben erschien mir wie ein Leben im Paradiese. Es packte mich, auf und davonzueilen; es zog mich mit magnetischer Kraft zurück ins Schmierenelend. Der Ingenieur bemerkte bald, was in mir vorging. Er redete mir freundlich zu: ich möge nicht so schnell verzagen, der Anfang sei in allem schwer: ich könne mir mit Fleiß sehr schnell die nötigen Kenntnisse erwerben. In einem Monate schon könnte ich alles überwunden haben, dann wolle er mir auch sofort die Leitung kleiner Partien übertragen.Das sind, wie sich bald zeigen wird, sehr leichtfertige Versprechungen gewesen, da zur selbständigen Leitung nicht nur die allerdings leicht erworbene partielle Kenntnis von der Aufstellung der Regulatoren, sondern eine gründliche, allgemeine Fachkenntnis erforderlich ist.

Ich faßte Mut, ich sah wieder ein Ziel vor mir und nahm mir vor, dasselbe unbeirrt und rastlos zu verfolgen. Mögen alle von mir denken, was sie wollen! Die Liebe zu den Tanten gab diesem Vorsatz eine kräftige Stütze. Um nicht müßig dazustehen, stellte ich mich an den Schraubstock; ich drehte stundenlang Nippel und scheute mich auch nicht, den Monteuren kleine Handlangerdienste zu erweisen. Ohne Unterwürfigkeit war ich gefällig, wo ich konnte. Meine Freundschaft mit dem Ingenieur brachte diese kleinen Dienste in ihren Augen zu noch höherer Geltung. Die befriedigte Eitelkeit gewann mir ihre Neigung, die im nächtlichen Studium des Gaskatechismus gemachte theoretische Errungenschaft hob mich in ihrer Achtung. Von der Zahlung eines Gehaltes war bisher noch nicht die Rede. Der Ingenieur beglich meine Gasthofsrechnung und gab mir hin und wieder ein kleines Taschengeld. Weil ich mich noch als Lehrling fühlte, war ich damit zufrieden.

Weihnachten kam heran. Er wollte seine Familie in Wien besuchen und erteilte mir den Auftrag, ihn inzwischen zu vertreten. Ich werde wissen, sagte er, wie weit ich gehen dürfe, welchen Standpunkt ich den Monteuren gegenüber einzunehmen habe. Ich war darum auch nicht verlegen. Ich stellte mich mit ihnen auf freundschaftlichen Fuß und lud sie zu einer Weihnachtsbowle. Während seiner Leitung wurden täglich zwei Regulatoren aufgestellt, von nun ab drei. Nachdem vor seiner Abreise in der Fabrik schon einige derselben, im Palais schon alle eingeschaltet waren, wollten diese nicht überall richtig funktionieren. Alle Augenblicke liefen Beschwerden über neue Uebelstände ein, welchen ich mit Hilfe der Monteure auch immer abzuhelfen wußte. Auf einmal hieß es: »Im Palais des Herrn Kommerzienrates sind alle Flammen ausgegangen!« Niemand wußte Rat. Ich erwartete nur noch einen großen Krach: ich sah im Geiste schon Fabrik, Palais, Kommerzienrat und Rätin in die Luft fliegen. Ich stürzte aufs Telegraphenamt, nicht etwa, um inzwischen nicht mit in die Luft zu fliegen, sondern wirklich aus edleren Motiven, und depeschierte dem Ingenieur. Nachdem ich das Telegramm aufgegeben, mußte ich freilich lachen über mich und meine Angst.

Bald kam auch die lakonische Antwort: »Es ist Wasser in der Leitung, muß abgelassen werden!« Mit großer Würde schritt ich nun ins Palais, um das »Es werde Licht« zu sprechen.

In nicht geringere Verlegenheit versetzte mich ein anderer Vorfall. Der Oberingenieur der Fabrik trat an mich heran, um meinen Rat hinsichtlich einer in Betracht gezogenen neuen Gasanlage einzuholen. Schon war ich nahe daran, ihm zu gestehen, daß ich davon nicht eine blasse Ahnung habe; nur der Gedanke, daß ich durch dieses Geständnis zugleich das Ansehen meines Chefs preisgebe, als dessen Vertreter ich fungierte, ließ es nicht über meine Lippen. Ich hielt es deshalb für das Klügste, zur Technik meines früheren Metiers zu greifen. Nach scheinbar tiefster Ueberlegung war ich mit allen seinen Intentionen einverstanden. Es schien mir aber, daß ich ihm durchaus nicht imponierte und er mit sich nicht ganz im reinen war, ob er mich für einen Idioten oder mich und meinen Chef für Schwindler halten sollte. Nach der eigentümlichen Rolle, die ich spielte, ist es möglich, daß er nur an mich herantrat, um mir gehörig auf den Zahn zu fühlen.

Mein Chef fand bei seiner Ankunft alle Regulatoren aufgestellt. Er war sehr erfreut darüber, weniger aber über die Noblesse, mit der ich die Monteure auf seine Kosten zu einer Weihnachtsbowle eingeladen hatte. Die von mir gemachte Rechnung kam ihm überhaupt zu hoch vor. Er blieb über vierzehn Tage aus und hatte mir nur zehn Mark zurückgelassen. Ich sagte ihm geradezu, daß ich ihn damit nicht vertreten konnte und ich, da in meiner Stube kein Ofen stand, gezwungen war, mich während der Feiertage im Restaurant und Kaffeehause aufzuhalten. Er hatte unterwegs viel ausgegeben. Im Mißmute darüber fand er es unerhört, daß der »Schmierenkomödiant«, den er in Gnaden aufgenommen, ihm solche Ausgaben bereiten konnte. Vor seiner Abreise hatte er mir eine Gratifikation von sechzig Mark versprochen, woran er jetzt nicht mehr dachte. Er war einer jener Menschen, die mit großem Pathos tausende im Munde führen, wenn es aber darauf ankommt, nicht ein Tausendstel des Versprochenen übrig haben.

Die in den Prospekten angekündigte und der Fabrik garantierte 15 – 20prozentige Gasersparnis wurde indessen nicht annähernd erzielt. Nach Einschaltung sämtlicher Regulatoren zeigten mehrere Gasuhren einen größeren Verbrauch als vorher –; die Gasersparnis betrug ungefähr zwei Prozent. Es hatte nicht den Anschein, daß die Fabrik damit zufrieden war. Jedenfalls hing dieses Resultat mit der Absage einer anderen Fabrik zusammen, die eine Folge ungünstiger Referenzen war. Er hatte augenblicklich keinen Auftrag und schickte mich als Akquisiteur nach Berlin. Ich lief von Fabrik zu Fabrik, ohne einen Erfolg zu erzielen. Die Regulatoren waren hier schon zu sehr bekannt. Der Ingenieur hatte mir für einstweilen, wie er sagte, 25 Mark mitgegeben: nach 14 Tagen erst sandte er mir 12 Mark, nach einer Woche noch einmal 12 Mark, dann das Versprechen, daß er mir in den nächsten Tagen als Abfertigung 40 Mark senden wolle, wobei es aber geblieben ist. Meine ferneren Briefe blieben unbeantwortet. Er hat nichts mehr von sich hören lassen.

In der ersten Freude über den günstigen Abschluß kannte sein Leichtsinn keine Grenzen. Ich war ihm nicht unsympathisch. Er wollte mich als Gesellschafter, als Vertreter für die Weihnachtszeit; er nahm mich zur größeren Prachtentfaltung als Strohmann mit, der seinen Assistenten vorstellen mußte: er hoffte endlich, daß das Auftreten und die Rhetorik des Komödianten seinen nach kurzer Zeit überall hinausgeworfenen Regulatoren ein neues Obdach schaffen werde.

Ende Januar stand ich mittellos in Berlin da. Wo jetzt das kleinste akzeptable Engagement hernehmen? Ich wurde Adressenschreiber. Ungeübt und mit schlechter Schrift konnte ich es bei neunstündiger Arbeitszeit kaum zu einem Tagesverdienst von 1.50 Mark bringen. Also wieder auf die Schmiere!

Ich war glücklich in einem Dorfe angelangt. Dort wohnte ich bei einem Schuster, der, freilich nur der Form nach, echt spartanische Küche führte. Mehl-, Pflaumen-, Bohnen-, Milch-, Kartoffelsuppen. Als diese immer dünner wurden und bald insgesamt nur noch den Namen »leere Wassersuppe« führen konnten, sah ich die Bedingungen gegeben, dem Schuster einen Vortrag über intensive Größen zu halten. Das sollte mir beinahe meinen Reichtum kosten. Ich hatte ihn dem Lehrjungen gegenüber in seiner Meisterwürde verletzt: er sann auf Rache. Schon im Bette liegend und eben im Begriffe einzuschlafen, sah ich plötzlich den betrunkenen Schuster vor mir, ein Talglicht in der Linken, das scharfe Schustermesser in der Rechten. Er setzte sich aufs Bett, um mir, wie ich schaudernd aus der zielbewußten Führung seines Messers schließen konnte, meinen höchsten Schmuck zu rauben. Die Beine sachte hochziehend, sprang ich mit einem Satze aus dem Bette und dem ebenerdigen Fenster und stand im Hemde auf der Straße. Der Nachtwächter erbarmte sich meiner und brachte, meine ihm dargelegten Gründe vollauf würdigend, den rabiaten Schuster zur Raison. Ich verriegelte Tür und Fenster und reflektierte über die Rettung einer extensiven Größe, deren intensiven Wert ich erst vor kurzem schätzen lernte. Das Gericht muß von diesem Werte keine allzugroße Meinung gehabt haben, da der Schuster, wie ich nachträglich hörte, auf meine Anzeige und die Zeugenaussage des Nachtwächters hin nur zu einer Geldstrafe von 15 Mark verurteilt wurde.

Am nächsten Tage war es natürlich mein erstes Streben, diese Wohnung schleunigst zu verlassen. Ich war jedoch noch Kostgeld schuldig. Als mir die Direktion trotz meiner Bitten, der Dringlichkeit des Falles und der ganz guten Einnahmen meine rückständige Gage verweigerte, ging ich zum Amtsvorsteher. Ich hatte im nächsten Augenblicke mein Geld und stand in einer halben Stunde auf der Landstraße, um bei einer nahegelegenen Teilungsschmiere Heil zu suchen. Der Direktor war ein kleines rundes Männlein mit kurzen Säbelbeinen. Obgleich er vollständig besetzt war, zeigte er sich nicht abgeneigt, mich als Novizen aufzunehmen. Da er aber als Teilungsdirektor nicht allein bestimmen könne, müsse ich mir die Einwilligung des Herrn v. S..... und Franz Brückners, der Aeltesten seines Kunsttempels, einholen.

Herr v. S..... ein guter Fünfziger mit feinen aristokratischen Zügen, denen freilich das langjährige Schmierenleben seinen unverkennbaren Stempel aufgedrückt, saß, die Zeitung lesend, im Schlafrocke in einem Lehnstuhl. Ohne sich zu erheben, blickte er mich durch das goldene Pincenez prüfend an. Dann nickte er zustimmend. Auch Frau und Tochter gaben ihr Einverständnis zu erkennen.

Frau v. S .... war noch immer eine imposante Erscheinung, der man es ansah, daß sie nicht auf der Schmiere groß geworden, und die siebzehnjährige Tochter Ilse, eine kleine Brünette von seltener pikanter Schönheit, setzte mein Herz sofort in Flammen.

Ihr graziöses Lächeln und der eitlen Eltern wohlgefälliges Schmunzeln gab mir zu erkennen, daß ihnen dieser Eindruck nicht entgangen. Ich trug keinen Zweifel mehr, daß mein Engagement perfekt geworden.

Nur proforma ging ich noch zu Herrn Brückner. Mir trat ein großer kräftiger Sechziger mit ausgesprochen russischem Typus, rotem, aufgedunsenem Gesichte und starkem, grauem Schnurrbart in einem alten zerlumpten Schlafrock und roter Zipfelmütze entgegen, die ihm ein paschaähnliches Aussehen gab. Seine Frau, ein kleines dürres Weib, von dessen Antlitz man die ganze Litanei des Elends herunterbeten konnte, wusch gerade Teller ab. Aus jedem Winkel kroch ein sieches, schmutziges Kind hervor. Die Erbsünde in Spiritus!

Es war eine Luft zum Ersticken. »Noch einen Teil!« rief Brückner empört, nachdem ich ihm mein Anliegen vorgetragen. »Wir haben doch schon so viele Teile!« »Der Herr Direktor und Herr v. S .... sind aber einverstanden,« warf ich ganz entschieden ein. »Na, wenn die einverstanden sind, was kommen Sie dann noch zu mir? Es geschieht ja doch nur, was der Herr Baron befiehlt. Wenn der Herr v. S.... gesprochen hat, darf ein Franz Brückner nichts mehr sagen.«

Ich wurde engagiert und fand gleich im Gasthause des Herrn Kalbe, bei dem wir spielten, eine bescheidene Unterkunft. Damit ich gleich meinen Teil bekomme, gab mir der Direktor noch für denselben Abend eine kleine Possenrolle. Herr und Frau Direktor besorgten das Kassenwesen, Herr Brückner und Frau v. S .... nahmen die Billette ab.

Das Billettabnehmen wird bei Teilungsgesellschaften zur Kontrolle der Direktion stets von bestimmten Mitgliedern besorgt, was das Mißtrauen der übrigen Mitglieder aber noch lange nicht ausschließt, weil stets mit Recht oder Unrecht ein stilles Einverständnis mit der Direktion vorausgesetzt wird. Hier munkelte man, daß ein solches mit der Familie v. S.... bestehe, worin in erster Linie der Grund der Feindschaft zwischen dieser und Familie Brückner zu suchen war.

Nach jeder Vorstellung setzt sich die Gesellschaft, der Direktor an der Spitze, zusammen, um den Raub zu teilen. Zuerst werden die Billette aufgezählt, worauf der Direktor feststellt, ob die Kasse mit jenen übereinstimmt. Ein Manko muß der Direktor tragen. Dann werden die Kosten berechnet.

Um alle Faktoren bringen zu können, nehme ich die Aufstellung einer Kostenrechnung am Tage nach der Ankunft in einem neuen Orte.

Saalmiete: 2–10 Mark. (In vielen Fällen wird aber vorher vereinbart, daß keine Miete zu bezahlen ist.)

Bühnenaufbau: 5 Mark. (Von diesem Betrage erhält der »Mann für alles« 3 Mark, seine Helfer je nach ihren Leistungen 0,50–1 Mark.)

Permission: 3–5 Mark. (Darunter versteht man das Ausmachen eines neuen Ortes, die Auskundschaftung, ob im Publikum das nötige Interesse für schauspielerische Darbietungen vorhanden, die Einigung mit dem Saalbesitzer, das Einholen der Erlaubnis der Behörde. Die dadurch entstandenen Ausgaben für Reise, Zehrung usw. werden abgezogen.)

Reisefonds: 3 Mark. (Von diesem Fonds, für den bei jeder Vorstellung der gleiche Betrag in Rechnung kommt, werden die Uebersiedelungskosten und der Transport der Dekorationen bestritten. Wenn der Fonds nicht ausreicht, wird der von der Direktion verauslagte Zuschuß von der nächsten Sonntagseinnahme abgezogen.)

Tageszettel: 5 Mark.

Inserate: 3 Mark.

Zetteltragen: 1,50 Mark.

Besorgung der Requisiten: 1-1,50 Mark.

Dekorationswechsel: 0,50 Mark.

Souffleurgeld: 0,50 Mark für fünf Akte.

(Weil bei Teilungsgesellschaften selten ein ständiger Souffleur existiert, wird von den Mitgliedern abwechselnd von der Seite souffliert, wofür pro Akt ein Groschen bezahlt wird. Die Einteilung, welchen Akt der oder der souffliert, geschieht bei der Probe. Wenn sämtliche Mitglieder in allen Akten beschäftigt sind und, wie es oft der Fall ist, nur durch eine rasche Ablösung eine Stockung vermieden werden kann, eilt der Abgegangene schnell zum Soufflierenden und reißt ihm das Buch aus der Hand, um ihm den Auftritt zu ermöglichen. Nicht selten gibt es in einem Akt vier bis fünf verschiedene Souffleure, die sich dann in den Groschen teilen. »Rechts« und »Links« im Sinne des Dichters verliert seine Bedeutung gänzlich, da sich Auftritt und Abgang der Möglichkeit zum Soufflieren anpassen muh. Manchmal steht man ohne Souffleur auf der Szene. Dann wird darauf los extemporiert. Eine kleine Stockung tritt fast bei jedem Wechsel ein, weil der Abnehmer des Buches die betreffende Stelle, auf die der Auftretende nur flüchtig mit dem Finger hinweist, nicht stets gleich finden kann,)

Kollektenkasse: 0,25 Mark. (Für durchwandernde, um Unterstützung bittende Schauspieler. Von den Kollektenbrüdern werde ich noch ausführlich sprechen.)

Für Einladen: bei einer Einnahme von 50 Mark: 5 Mark. (Dieser Passus kommt nur bei Benefizvorstellungen in Betracht. Der Benefiziant geht von Tür zu Tür Billette verkaufen, wofür er von der Bruttoeinnahme pro Mark einen Groschen erhält.)

Besondere Ausgaben: 1–3 Mark. (Für auf der Bühne gebrauchte Zigarren, Schaumwein, Limonade, Bier, Feuerwerk und die mitunter notwendige Anfertigung von Requisiten und Dekorationsstücken.)

Nachdem die Kosten abgezogen, wird der Rest geteilt. Der Direktor erhält 4/5 Teile und zwar 1 Direktionsteil, 1 Schauspielerteil, 1 Kostümteil und 1 Bibliothekteil. Nach meiner Erinnerung gibt es manchmal auch einen fünften Teil. Wofür, kann ich jetzt nicht mehr sagen.

Herr v. S. erhielt für seine Person einen halben Teil mehr, so daß er mit Familie 3 ½ Teile bezog.

Aus der gemachten Aufstellung ist leicht ersichtlich, daß die Direktion, die sich jede Handbewegung, jedes Papierschnitzelchen extra bezahlen läßt, alle erdenklichen Vorteile genießt. Es ist das wahre Raubsystem. Auch die verheirateten Mitglieder, die durch Zetteltragen, Requisitenbesorgen usw. allerlei Nebeneinkünfte haben, können allenfalls noch existieren. Ich war der einzige, der lediglich auf seinen Teil angewiesen war. Ein bemittelter Anfänger bekam nur einen halben Teil.

Bei sehr schlechten Einnahmen verschob der Direktor irgendeinen Kostenabzug auf den Sonntag, so daß man doch noch einige Groschen herausbekam. Die Teile der drei bis vier Wochenspieltage waren gewöhnlich unter 1 Mark und haben diesen Betrag nur selten überstiegen.

Brachte der Sonntag einmal 5 Mark, so zahlte mir der Direktor diese mit wahrer Gebermiene aus und sagte: »Na, Herr Clefeld. ist das noch nichts? Einteilen! einteilen! Ich habe auch nicht mehr als Sie!«

Damit meinte er seinen Schauspielerteil.

Wie lebte ich nun?

Frau Kalbe gab mir für 50 Pfennig Mittagbrot, das in der Regel angekreidet wurde. In manchen Dörfern fand ich Schlächter, die mich durch den billigsten Verkauf reichlich unterstützten: nicht selten wurden mir die Fleischwaren unentgeltlich ins Haus geschickt. Die Erfahrung lehrte mich, daß gerade Schlächter die größten Menschenfreunde sind.

Von den Stammgästen bekam ich hie und da ein Glas Bier und manchmal fand sich eine mitleidige Seele, die mir Zigarren oder eine Schachtel Zigaretten schenkte.

Um mir die Gunst der Frau Kalbe nicht zu verscherzen, fegte ich auf ihr Verlangen einmal den Garten aus. Von da ab gab es größere Portionen.

Zur Erleichterung meines Herzens schrieb ich einen Schwank, in dem ich mich und meine Umgebung wahrheitsgetreu darstellen wollte.

Den kleinen schmierigen Verhältnissen entsprechend wirkt auch der Hauptmotor des Theaterwesens: Die Intrige!

Die plumpe Form gibt ihr ein noch häßlicheres Gepräge. In guten Verhältnissen ist ihr Motiv ein auf mäßiges Können gegründeter Ehrgeiz, und das »Fuchsschwänzeln, Hintergehen und Kriechen« mit der Devise: »Mein Weg geht über Leichen!« brachte manchem Verstandesmenschen eine Stellung ein, die er sonst nie eingenommen hatte. Der Genius verschmäht sie und hat sie auch nicht nötig: der Unfähigkeit wird sie nichts nützen.

Welchen Zweck hat sie auf der Schmiere? Keinen! Man könnte freilich sagen, daß die ausgeprägte Spielwut, die ohne jeden realen Hintergrund ihre Ränke schmiedet, in subjektiver Hinsicht höher dasteht. Wie aber sieht das Ideal des Schmierenmenschen aus? Wer konstruiert es? Sinnlose Eitelkeit und Dummheit!

Den Einsichtsvollen erfaßt ein Grauen, wenn er mit ansehen muß, zu welchen Mitteln mancher seine Zuflucht nimmt, um eine Rolle zu erhaschen. Und im Besitze aller Rollen, die sein eitles Herz verlangt, läßt ihn der Besitz nicht schlafen. »Mein Gott,« fragte ich mich oft, »was soll denn dieses elende Lügengewebe, diese niedrige Verdächtigung nur bezwecken?« Es ist das Befolgen des problematisch praktischen Prinzips gewesen, mir den Weg zu einer »Stellung« für alle Fälle zu verrammeln. Dennoch gibt die Spielwut dem Schmierenkomödianten den einzigen Halt: sie ist das notwendige Uebel, ihn über alles Elend hinwegzusetzen.

Unter den Kollektenbrüdern, die uns nicht selten heimgesucht, will ich zwei Sorten unterscheiden: Den ausgepichten Kollektenbruder, der nur noch darauf reist, und den armen Schauspieler, der durch diesen oder jenen Umstand in tiefste Not geraten.

Ein zerlumpter alter Kerl erscheint, mit struppigem Bart und roter Nase. »Wer kommt denn da schon wieder an?« fragt man sich gegenseitig. »Allmächtiger,« brüllt jener, »die Blinden in Genua kennen meinen Tritt. Ludolf, Ludolf heiß' ich. Habt Ihr ein Engagement für mich?«

Auf den Bescheid, daß alles besetzt sei, verklärt sich sein Gesicht und pathetisch spricht er: »Dann Kollekte! Ihr, die Ihr behaglich in der Wolle sitzt, werdet für einen Ludolf doch noch was übrig haben.« Man gibt ihm aus der Unterstützungskasse, und die Aermsten der Bande holen ihren letzten Groschen hervor. Das Pathos der Dankesworte richtet sich nach dem Betrag, den er nach rascher Prüfung mit geringschätziger Miene in die Hosentasche steckt. Bei nicht zufriedenstellendem Ergebnis folgt häufig eine Unverschämtheit, wie: »Lapalie! Ist ja gar nicht der Rede wert. Wenn ich wieder in der Wolle sitze und einer von Euch kommt zu mir, allmächtiger Gott, ich laß mich auch nicht lumpen.«

Einer dieser Herren fand in Brückner ein gleichgestimmtes »Bruderherz«, und das war ein guter Grund, die Kollekte mit ihm zu versaufen. Da saßen nun beide einmütig beisammen und schwelgten beim Fusel in der Erinnerung an vergangene Zeiten. Auch sie hatten bessere Tage gesehen, auch ihre Herzen waren einst von wahrem Streben erfüllt. Man hört Städtenamen, wie Düsseldorf, Stettin, wo sie in ihrer Jugend glänzten. Der Kontrast zwischen einst und jetzt taucht plötzlich in ihrer Seele empor; beider Augen stehen voll Tränen. »Ein Strick,« murmelt leise der eine, »vorbei,« der andere. Doch bald ermannen sie sich wieder. »Nur keine Sentimentalitäten, Bruderherz! Alles Blödsinn! Wir schmettern noch einen. Prosit!«

Als der letzte Groschen versoffen war, wankte das »Bruderherz« hinaus auf die Landstraße. Wohin? Nur keine Angst! Er findet seinen Weg zur nächsten Schmiere.

Auch bei den Teilungen werden Abstecher unternommen. Bei dem geringsten Erfolge erträgt man die Strapazen gerne. Wenn man aber in einer Winternacht bei grimmiger Kälte stundenlang hungrig auf einem Leiterwagen sitzt, ohne zu wissen, wo man am nächsten Tage einen Löffel Suppe hernimmt – – –! Bei einer Nachbarschmiere saß ein alter Komödiant bei der Zurückkunft unbeweglich auf seinem Platze. Er schien zu schlafen. »He, wach auf Kamerad,« rief man, »wir sind am Platze!« Man rief vergebens; er war tot.

Vor der Uebersiedlung nach einem neuen Orte blüht noch dem Souffleur und Zettelträger der Weizen im »Journal«. Auf einem gedruckten Halbbogen sind die Namen der Direktion und Mitglieder und die während der Spielzeit aufgeführten Stücke verzeichnet. Den Schluß macht ein Gedicht, in dem nach einer mit Humor gewürzten Schilderung der Beschwerden jener Tätigkeiten das hohe Publikum um einen kleinen Obolus angefleht wird. Mit diesem Journal geht der Betreffende von Tür zu Tür. Einen Nickel gibt fast jeder: die Theaterhabitues auch 0,50–1 Mark. Das sind wahre Festtage für beide. Während der Fahrt sind sie natürlich nach allen Regeln der Kunst besoffen. Das Souffleur-Journal macht derjenige, der am meisten »beim Buche« war, weshalb sich der Journal-Reflektant zum Buche drängt.

Bei der Abreise kommt es oft zu erregten Szenen. Einzelne Mitglieder haben ihre Miete nicht bezahlt. Das Gepäck wurde vorher bei Nacht durch das Fenster weggeschafft. Die Wirtsleute kommen nun an den Wagen und verlangen ihr Geld. »Betolen,« schreit ein hartnäckiger Gläubiger, »oder de Säcken her!«

Der Direktor muß beruhigend eingreifen und versprechen, den Mitgliedern die Schuld im nächsten Ort abzuziehen, was aber, wie aus dieser Schilderung ersichtlich, wohl gänzlich ausgeschlossen ist.

Wir fuhren nach M....

Brückner hatte seinen Festtag. »Wenn ich wieder auf die Welt komme, werde ich wieder Schauspieler,« rief er, »es ist doch zu schön!«

Dann phantasierte er sich nach und nach in die höchsten Regionen hinein. »Das Glück kommt über Nacht, und es gibt nur einen Brückner. Wenn man mich braucht, schneidet man mich vom Galgen herunter. Oh, meine Zeit wird schon noch kommen. Vielleicht sitze ich jetzt übers Jahr am Berliner Schauspielhause, und dann bringe ich euch alle unter!« Ich blickte ihn fragend an: ich glaubte, daß er scherze. Es ist sein vollster Ernst gewesen.

Die Uebersiedelung geschieht gewöhnlich nach einer Sonntagseinnahme. Der Besitz einiger Markstücke und das erhabene Gefühl, seinen Gläubigern glücklich entronnen zu sein, rufen mit der Hoffnung auf einen besseren Geschäftsgang im neuen Orte größtenteils eine fröhliche Stimmung hervor.

An den Fenstern der Gaststube des Theaterlokals in M ... standen schon neugierig die Theaterhabitues, um das ankommende Damenmaterial zu besichtigen.

Am Abend besuchten wir eine Nachbarschmiere, wo eine große Kneiperei stattfand. Nach einiger Zeit gaben uns wieder die Kollegen des benachbarten Dorfes die Ehre ihres Besuches, der ebenfalls nur den löblichen Zweck hatte, sich in corpore zu besaufen. Alle Schmieren dieser Gegend sind miteinander verwandt und verschwägert: sie bilden eine einzige große Familie, deren Nachkommenschaft das Fortbestehen des Schmierenwesens bis in die fernsten Zeiten garantiert.

Zur Eröffnung des Musentempels wurde »Singvögelchen« und »Er ist Baron« aufgeführt. Am nächsten Tage wurde die Gesellschaft von einem angesehenen Mann der Stadt zum Abendbrot im Theaterlokal eingeladen. Ilse ist der Leitfaden gewesen. Die Methode, einer Dame wegen die ganze Gesellschaft einzuladen, war mir noch gänzlich neu, weshalb ich seine Absicht nicht gleich durchschauen konnte.

Er hatte seine Freigebigkeit nicht zu bereuen. Bald verbreitete sich in der kleinen Stadt das Gerücht von ihrem intimen Verkehr, das auch seine Bestätigung fand.

Mein kleiner Kollege S....., der sie wie eine Göttin verehrte, war gänzlich aus dem Häuschen. Ich habe mich für sie nicht frei und wahrhaft interessieren können. Ein gewisser Instinkt, daß der Apfel einen Stich hat, hielt mein Empfinden in den Schranken. Es war im Grunde nur Mitleid mit dem armen unglücklichen Geschöpfe, das ich so früh dem Untergange geweiht sah.

Stets war es mir unbegreiflich, daß Herr v. S ... keine Anstalten traf, seine nicht nur schöne, sondern auch sehr befähigte Tochter den Klauen des Schmierenungeheuers zu entreißen!

Mein reserviertes Wesen ihm gegenüber rief bald eine große Spannung hervor. Sein allgewaltiger Einfluß bewirkte auch mein Zerwürfnis mit der Direktion.

Ich wollte fort und bat meinen jüngsten Bruder um Hilfe, die er mir sofort zuteil werden ließ. Meine wahren Verhältnisse habe ich jedoch ihm, meiner Mutter, die mir auch oft nach Kräften beigestanden, und den Tanten verschwiegen.

K. S... folgte meinem Beispiele: wir reisten zusammen nach Magdeburg. Mein Jugendfreund Eugen Schady, der am Stadttheater als erster Held engagiert war, bemühte sich vergebens, mir ein anständiges Winterengagement zu verschaffen. Schließlich schickte uns der Agent Eisfeld zum Teilungsdirektor G ... nach E... Hier fand ich im großen ganzen nur eine Wiederholung des bisher Geschilderten. Die Teilungsschmieren sind durchweg nach einem Leisten. Nur in praktischer Hinsicht zeigte sich mir hier eine noch größere Vielseitigkeit einiger Mitglieder. Sie fuhren mit den Knechten und Mägden aufs Feld, um sich als Feldarbeiter einen Biergroschen zu verdienen. Neben dem materiellen Vorteil schufen sie sich dadurch in jenen die eifrigsten Bewunderer ihrer Kunst.

Ich schrieb eines Nebenverdienstes wegen das vaterländische Schauspiel »Die Herren von Elbingerode«.Um mich mobil zu machen, schrieb ich fast auf jeder Schmiere ein Theaterstück. Es wurde zu meinem Benefiz gegeben, wobei ich außer meinen Prozenten noch einen Extrateil erhielt. Der Raub betrug ungefähr 15 Mark.

Endlich bekam ich ein kleines Winterengagement. Ich ließ dem Direktor mein Meisterstück für einen Vorschuß von 4,50 Mark als Eigentum zurück und reiste nach G .... zu Direktor D ..... wo ich mein Fach mit gutem Erfolge spielte, aber – ich hatte keine Ritterstiefel. »Von Ihrem Fache verlange ich Ritterstiefel,« brüllte der Direktor, worauf ein Wort das andere gab. Ich bekam noch ein kleines Engagement, in dem der Mangel an Lackstiefletten zur Ursache katexochen meines Ausscheidens wurde. Dann machte ich eine Pleite mit und stand bald wieder auf der Landstraße. Glücklich langte ich abermals im Schmieren-Eldorado an: der Magdeburger Börde. Hier wanderte ich von Schmiere zu Schmiere. Einmal kam ich gerade noch zu rechter Zeit, um meiner Künstlerschaft die Krone aufzusetzen. Als man kurz nach meiner Ankunft die Bühne aufbaute, wobei jeder helfen mußte, stürzte die Wirtin in den Saal: ihre Leute wären alle auf dem Felde, es würde eben ein Schwein geschlachtet, ob wir nicht mit anfassen wollten. Auf unseren Einwurf, daß wir die Bühne aufbauen müßten, meinte sie: »Ach wat die Bihne, de läupt Si nich weg, faßt man tau. dann gibt et abends frische Wurst!« »Was,« schrie der noch nicht ganz in Methusalems Alter stehende erste Liebhaber, »ich ein Schweineschlächter, ich, der Barnays Talent entdeckte, dem er die Karriere verdankt!« »Drum eben,« sagte der Souffleur, »nun soll diese Dame Ihnen auch das Schwein verdanken.«

»Keiner darf sich ausschließen,« hieß es, und auf das Zureden des Direktors, nicht gleich im Anfange böses Blut zu machen, gab ich mein erstes Debüt als Schweineschlächter. Edles Mastschwein! Um wie viel generöser als das Meerschweinchen lohntest du mir meine dir geleisteten Dienste mit frischer Wurst und saftigem Wellfleisch! In der Regel fielen kaum 50 Pfennige auf den Teil. Ich lebte von Fischfang und Pilzen und verkaufte dem Direktor eines meiner unsterblichen Meisterwerke mit allen Urheberrechten für 6 Mark. Mit diesem Dichterpreise zog ich ein Häuschen weiter. Mein neuer Direktor spielte auf Teilung: wenn die Geschäfte sich hoben, auf Gage: sobald sie nachließen, wieder auf Teilung. Ich warf ihm die Rollen ins Gesicht: ohne Pfennig stand ich da. Als ich nach Hause kam, um ein letztes Stückchen Speck zu essen, war es verschwunden: die Katze hatte es gefressen. Ich veranstaltete einen Rezitationsabend mit so großem Erfolge, daß von der Intelligenz der Stadt für mich ein zweiter Abend in Angriff genommen wurde, der mir eine Einnahme von ca. 120 Mark brachte, während die Gesellschaft nicht zum Spielen kam. Mit Empfehlungen ausgerüstet machte ich in der ganzen Umgegend gute Geschäfte und beschloß, fortan mein Glück nur als Rezitator zu suchen.


Auf dieser Reise traf mich die Nachricht vom Tode meines Onkels. »Ein für alles Gute, Edle und Schöne begeisterter Mann, eine Leuchte des Wissens, ein Herz voll tiefsten Empfindens, ein Charakter von seltener Festigkeit und Ehrenhaftigkeit.« So schildert ihn sein Biograph. O wie wahr hat er gesprochen!

Auch die Nachricht vom Tode meiner lieben, guten Schwester habe ich unter ähnlichen äußeren Umständen erhalten.


Ich studierte Ciceros erste Rede gegen Catilina und aus dem sechsten Gesange der Ilias den Abschied Hektors von Andromache, um diese Stücke in den Ursprachen frei aus dem Gedächtnisse vorzutragen, hauptsächlich auf den Zuspruch von seiten der Gymnasien rechnend. Damit hatte ich mich ziemlich verrechnet. »Nicht einmal den Homer lassen sie in Ruhe!« rief empört ein alter Philologe. Wie konnte ein vagierender Komödiant es wagen, sich an dem Eigentum der Herren Philologen zu vergreifen! Mit gänzlich unbekanntem Namen machte ich auch fernerhin in fremden Städten keine Geschäfte: einige mit ziemlichen Kosten verknüpfte Unternehmungen hatten meine Barschaft verschlungen; als eines Abends nur drei Personen erschienen, stand ich gänzlich mittellos da; ich konnte die Gasthofsrechnung nicht bezahlen. Glücklicherweise war es vor einem Sonntag. In aller Gottesfrühe ging ich in ein nahegelegenes Dorf, wo ich ein Zirkular aufsetzte, auf dem ich einen großen humoristischen Vortragsabend versprach. Nachdem mir der Pastor, Kantor und Dorfschulze die ersten Unterschriften gegeben, engagierte ich mir den Nachtwächter, der mit dem Zirkular von Haus zu Haus gehen und zugleich Billette verkaufen mußte. Ich ging in die Stadt zurück, um mir noch einige humoristische Szenen einzustudieren, da ich mir der schwierigen, fremden Aufgabe, die Bauern mindestens zwei Stunden lang allein zu unterhalten, wohl bewußt war. Als ich abends ins Dorf kam, waren alle Billette verkauft. Ich borgte mir Habit und Horn des Nachtwächters, Rock und Schürze vom Hausknecht und von der Wirtin einen bunten Kittel, um einen Nachtwächter, Stiefelputzer und eine böhmische Köchin darzustellen. Zur Ausfüllung der Pausen nahm ich einen Harmonikaspieler aus dem Dorfe, der sich im stolzen Bewußtsein seines Virtuosentums auch zur Begleitung meines Vortrages »Gigerl sein, das ist fein« und »Siehste wohl da kimmt er« bereit erklärte. Denn »se wullen wat sungen hem,« sagte der Wirt, »dat is de Hauptsack!« Der Saal war zum Brechen voll, das ganze Dorf war versammelt. Ich hatte Geld, alle Taschen voll Nickel, aber, aber: vor mir nur Knechte und Mägde. Erst als ich sie vor mir sah, wurde es mir völlig klar, was ich übernommen hatte. Die unheilvollsten Ahnungen stiegen in mir auf; ich wünschte zwei Stunden älter zu sein, ich hätte dieser Versammlung selbst eine von Philologen und Apothekern vorgezogen. Nach einer Introduktion des Konzertmeisters betrat ich das Podium. Meine am Tage einstudierten humoristischen Szenen hatten einen leidlichen, »Siehste wohl da kimmt er« einen durchschlagenden Erfolg. Aber man schien eine Steigerung zu erwarten: man hielt es für selbstverständlich, daß ich mindestens noch Kopfstehen und Kobolz schießen werde. Was nun? Meine Schlager waren ausgegeben und erst eine halbe Stunde verflossen, kaum der vierte Teil der Zeit, die ich auszufüllen hatte. Ich trug eines der wirksamsten Gedichte von Saphir »Die verschiedenen Küsse« vor. Erst fragende Blicke, dann ein Lachen, Gemurmel, Zwischenrufe wie »Quatsch mit Sauce«, ein rapid wachsender Lärm, daß ich mein eigenes Wort nicht mehr verstand, bis mir endlich einer der Pferdeknechte, seine rote, schwielige Faust ballend, zurief: »Kimm du man rut, du Aas, verfluchter.« Ich bewahrte in diesem Augenblicke – der physischen Gewalt gegenüber – meine Geistesgegenwart und kündigte an, daß ich ein von mir verfaßtes, echt patriotisches Gedicht vortragen werde. Nun mußten sie Ruhe halten,– sie ließen mich zu Ende sprechen und verließen unter leisen Verwünschungen den Saal. Der im Nebenzimmer anwesende Dorfschulze gab seiner Empörung über das Betragen seiner Dorfkinder Ausdruck. Das war recht schön, mir ging es indessen näher, daß keine Stube mehr zu haben war. Wie nun mit heiler Haut nach Hause kommen? Auf die Versicherung des Schulzen, daß ich nichts zu befürchten hätte, schlug ich meinen Rockkragen hoch, den Schlapphut ins Gesicht und huschte durch die lange Allee des Dorfes. Vor den Haustüren saßen die Knechte und Mägde. Schon hatte ich die Chaussee erreicht, als plötzlich eine Weiberstimme rief: »Da geiht er, da geiht er!« Im Nu war ich von den Burschen umringt. Mir war's, als ob der Blitz einschlagen müßte. Dieser Unzahl von Riesenfäusten gegenüber schien sich bald jedes Empfinden zu verkriechen. Wieder besaß ich Geistesgegenwart. »Gestatten Sie einen Augenblick, meine Herren,« sprach ich, in größter Ruhe aus dem Kreise tretend. Während noch alle verdutzt dastanden, lief ich plötzlich ins Dorf zurück. Die Rotte hinter mir her, aber ich hatte einen Vorsprung. Als ich vor dem Lokal ankam, stand der Wirt in der Tür, im Begriffe, zuzuschließen. Ich hinein – die Türe zu – gerettet! Am nächsten Morgen ging ich ruhig meiner Wege.

Dieser Vorfall durfte mich in meiner Lage nicht abschrecken, das Dorfpublikum noch fernerhin als Geldquelle zu benutzen. Auch waren diese Veranstaltungen mit gar keinen Kosten verknüpft. Es galt nur, mir den Rücken zu decken. Ich ergänzte mein Programm, um auch einen Abend im Dorfe ausfüllen zu können, und zog nun, heute Cicero, Homer, Goethe, Schiller rezitierend, morgen »Kille, Kille, Karline« singend, mein leichtes Ränzchen auf dem Rücken von Ort zu Ort. Einmal kam ich um 6 Uhr nachmittags mit einer Barschaft von 60 Pfennig in N.... an. Um mir schnell einige Mark zu verdienen, wollte ich noch an diesem Abend einen Vortrag veranstalten und denselben nach einem sich mir schon bewährten Rezepte durch den Polizisten in der Form des Ausklingelns bekannt machen lassen. Schöner Gedanke! Es kam anders. Die gänzlichen Mißerfolge einer erst vor wenigen Tagen verdufteten Theatergesellschaft bestimmten die Wirte, in der Voraussicht der Zwecklosigkeit eines solchen Unternehmens, mir die Benutzung eines Saales zu verweigern. Kein Flehen konnte sie erweichen. Ich hatte etwas gegessen und nur mehr zwanzig Pfennige in der Tasche. Wohin nun? Ein Gast, der mir wohl ansehen mochte, daß ich nicht recht bei Groschen war, sagte mir, daß in einem Gasthause des 1½ Meilen entfernten Ortes F.... ein Verein seine Versammlung habe und ich da gewiß etwas vortragen könne. Ich machte mich sofort auf den Weg. Als ich gegen ½10 Uhr in F.... ankam, erfuhr ich, daß diese Versammlung erst am nächsten Tage stattfinde, ich aber heute im Hotel »Stadt Magdeburg« in J.... die Honoratioren der Stadt beisammen fände; es sei nur eine Meile weit; ich könne noch zurechtkommen, wenn ich mich eile. Mit noch 10 Pfennigen in der Tasche brach ich auf. Kaum in der Mitte des Weges vernahm ich ein nahendes Gewitter. Ich beflügelte meine Schritte. Noch eine halbe Meile war ich von der Stadt entfernt, als es mich schon erreichte. Die Blitze zuckten, mächtig rollte der Donner. Mir war es, als hörte ich die Trompeten von Jericho, und gen Himmel erhob ich ein Geschrei: Quo usque tandem abutere!

Nicht weiter wollte ich, noch konnte ich. Hier wähnte ich das Ende meiner Leiden, hier, dacht' ich, müßte ich es finden, und unter einem Baume macht' ich Halt, jetzt und jetzt den Blitz erwartend – – – –

Während das Gewitter mich umtobte, legte sich der Sturm in meinem Innern. Nicht mehr als meine Feindin erschien mir die Natur; ganz anders leuchtete mir nun der Blitz; des Donners Schläge konnten mich nicht mehr bewegen. Es bäumte sich in mir und wuchs und wurde immer mächtiger und größer. Verächtlich das kleine zwerghafte Empfinden beiseite schiebend und meiner Ohnmacht spottend, rief es: Was seid ihr, Blitze, du Donner, ohne mich! Ich bin dein Träger, Welt, in mir liegt deine Größe, in mir die Macht deiner Gestaltung; der Schmerz, die Not, die dich erfüllen, sie haben nur den Wert, den ich bestimme, du bist nur das, was ich bin!

Und weiter ging ich im erhabensten Gefühle: verächtlich blickend auf Erdenfreud und Erdenleid, auf alles Sehnen, Wünschen, Hoffen, Fürchten, rief ich voll Stolz zu allem nein und dreimal nein!

Als ich ankam, stand Jericho noch. Nah wie ein Pudel trat ich in die Gaststube der »Stadt Magdeburg«, mir für den letzten Groschen einen Schnitt Bier bestellend. Die Honoratioren sahen noch beisammen. Ich sagte, daß ich Rezitator sei und hier einen Vortrag halten möchte. Das könne ich schon, meinte der Wirt, ich müsse es nur vorher durch die Zeitung gehörig bekannt machen lassen. Dieser Rat konnte mir wenig nützen, und die Stadtoberhäupter schienen von meinem Dasein und Vorhaben nicht die geringste Notiz zu nehmen. Kurz entschlossen folgte ich dem hinausgehenden Wirt und schilderte ihm meine Lage. Der einsichtsvolle Mann sprach mit den Herren, welche sich dann in ein Seitenzimmer begaben, wohin ich ihnen auf einen Wink des Wirtes folgte. Im Zimmer stand nur ein einziger langer Tisch. Nachdem alle beisammen Platz genommen hatten, setzte ich mich nach einer Weile mit dem Ausdrucke des Dankes und einer respektvollen Verbeugung sehr bescheiden an die äußerste Ecke, um meinen Vortrag zu beginnen. Entrüstet gab man mir den Wink, mich zu erheben. Ich unterdrückte eine Träne: ich fühlte mich aufs tödlichste verletzt; es drängte mich, auf jede Wohltat zu verzichten. Dann aber, da ich der Stimmung während des Gewitters gedachte, schien es mir wieder, daß ich ein wahres Heldenstück vollbringe, wenn ich bleibe. Nachdem ich mich zu diesem Heroismus aufgerafft, sah ich auch schon ein, wie verkehrt und undankbar ich eben handeln wollte. Kurz vor Mitternacht kam ich bei Sturm und Wetter plötzlich hereingeschneit. Wußte man denn, wer ich war? Ich konnte eben dem Zuchthause entsprungen sein. Würde ich selbst in einer solchen Position mit jedem Hergelaufenen an einem Tische sitzen wollen? Man half mir doch, und half mir mehr aus Mitleid, als in der Voraussicht noch sehr fraglicher Genüsse. Freilich glaubte ich das »Pathos der Distanz« hinlänglich auszudrücken, wenn ich, die äußerste Ecke nehmend, von den Herren gut eine halbe Zimmerlänge weit entfernt mich niederließ ...

Eine ganze Weile stand ich da, bis mir gnädig der abermals stumme Wink gegeben wurde, an einem mir vom Wirte gebrachten kleinen Tische Platz zu nehmen. Ich las einige Szenen aus »Faust« und mehrere Gedichte von Heine, Geibel, Holtei und Saphir. »Um den ist mir nicht bange,« rief gutmütig der Wirt, und derselbe Herr, auf dessen Befehl ich mich vorher vom Tische entfernen mußte, lud mich nach beendigtem Vortrage zu einem Glase Wein und ließ mir ein Abendbrot reichen. Die für mich gemachte Kollekte der anwesenden acht bis neun Herren betrug 4.50 Mark. Ich dankte aus vollstem Kerzen, übernachtete auf die Empfehlung des Wirtes hin in einem kleinen Gasthofe für 50 Pfennig und trat mit dem frühesten wieder die Wanderschaft an.

Es war ein herrlicher Morgen. Kein Wölkchen zeigte sich am strahlenden Himmel; ich fühlte den Hauch der frischen Morgenluft an meiner Stirne wie den Atem eines liebenden Mädchens; überall sang und jauchzte es vor Lebenslust und Lebensfreude: aus jedem Strauche, jedem Blümchen sprach deutlich der feste, freudige Wille zum Dasein. Und ich? Weinend zieh ich mich des schnödesten Undanks. War ich nicht jung, war ich nicht frei, war mein Herz nicht noch empfänglich für alles Gute, Große und Schöne? Hatte ich nicht vier Mark in der Tasche? Ja, rief ich zum Leben, ja, tausendmal ja, und aus allen Höhen und Triften hallte mir wieder ein fröhliches jauchzendes Ja!


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