Ernst Clefeld
Der philosophierende Vagabund
Ernst Clefeld

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Tagebuchblätter.

Das kleine Elend. – Gesetz und Moral. – Ich suche Stellung. – Im Vorzimmer der Agenten. – Hausierer. – Beim Studium des »schweren Wagner«. – Im Kinematographen. – Wozu ich noch zu gebrauchen wäre! – Vernunft und Gewohnheit. – Das Motiv katexochen. – Im Kampfe gegen das Unrecht. – Ein Bekenntnis. – Nachwehen der Verurteilung? – Bei den Verlegern. Günstige Aussichten. – Optimismus; Pessimismus; Verfolgungswahnsinn. – Beleidiger und Beleidigter. – Moral. – Die Idee der Freiheit. – Das wahre Mitleid. – Die Geschichte meines Buches. Wartezeit. Enttäuschung. – Ein schöner Tag. – Die drei letzten Blätter.

Was ich bisher berichtet, gehört gleichsam meiner Geschichte an. Die letzten drei Jahre wollte ich, als zur unmittelbaren Gegenwart gehörig, übergehen. Die Tendenz dieser Schrift gebietet mir aber, über den Zustand der höchsten Unfreiheit zu berichten, in dem ich mich abermals befinde.

Um mich ganz der Philosophie widmen zu können, kam ich auf den Gedanken, meine Erlebnisse niederzuschreiben. Ich hoffte, mir dadurch die nötigen Mittel zu erwerben. Auch ist der Drang, in den Augen weniger Menschen als derjenige dazustehen, der ich wirklich bin, nicht der letzte mich bestimmende Faktor gewesen. Das Gefühl der großen inneren Bedeutung meines Daseins, der unsäglichen Leiden, des ununterbrochenen Kampfes um die Verwirklichung meiner Ideale und der strengsten Wahrheit in meinen Schilderungen Eine kleine, harmlose, höchst vereinzelte Ausschmückung des Beiwerks kann wohl nicht in Betracht kommen. täuschte mich über meine noch unzureichende literarische Befähigung hinweg. Auch war mir durch meine Lage die größte Eile geboten. In der Hoffnung, zur sorgfältigen Ausarbeitung einen kleinen Vorschuß zu erhalten, reichte ich mein in der Darstellung unfertiges Werk einem Verlagsbuchhändler ein, der es mir mit dem Bemerken, daß es nicht sensationell genug sei, zurückgab. Da mir dieser Bescheid nicht genügen konnte, las ich, um ein objektives Urteil zu erhalten, im Architektenhause in Berlin den wesentlichsten Teil öffentlich vor. Die wenigen, nicht ungünstigen Referate hatten mich nicht klüger gemacht. Ich fühlte nur das mangelnde Interesse. Das Schreiben eines Verlagsbuchhändlers, der mich zum Erfolge beglückwünschte, rief neue Hoffnungen hervor. Um so größer war die Enttäuschung, als er mir das Manuskript nach einigen Wochen mit den üblichen Höflichkeitsphrasen zurücksandte. Ich gab es noch nicht ganz verloren und faßte Mut zur Fortsetzung des Kampfes. Davon mögen nun einige Aufzeichnungen berichten. Ich hatte bisher nie ein Tagebuch geführt, teils aus Nachlässigkeit, teils, weil ich stets geglaubt, daß der wichtigste Teil meines Lebens vorüber sei. Die abnehmende äußere Wichtigkeit der Begebenheiten verhielt sich jedoch umgekehrt zu deren innerer Bedeutung. Ich wollte bisher hauptsächlich zeigen, daß den Ausdruck meiner intelligiblen Maxime nichts zu hemmen vermochte. Folgende Tagebuchblätter enthüllen auch die kleinliche Misere meines Daseins, womit ich mehr oder weniger schon seit 28 Jahren kämpfe. Auch gibt mir mancher charakteristische Vorfall Gelegenheit, die geheimsten Falten meines Inneren bloßzulegen.

Berlin, den 23. Juli 1908.

Ein Bekannter gibt mir den Trost, daß ein Refus nichts zu bedeuten habe. Eine gute Sache sei schwerer als eine schlechte anzubringen. Vom Nichtanbringen läßt sich jedoch nicht auf die Güte des Buches schließen.

den 24. Juli.

Um mich etwas verdienen zu lassen, gab mir der Theaterbuchhändler den Auftrag, eine alte fünfaktige Berliner Posse in einen Zweiakter umzuwandeln. Das Honorar beträgt 15 Mark. Ich hole mir täglich einige Groschen, um leben zu können. Wo soll ich den Humor hernehmen?

den 29. Juli.

Ich bat meine Wirtsleute, die Miete von jetzt ab in täglichen Raten zahlen zu dürfen. Die guten Menschen gingen auch darauf ein, obgleich ich ihnen schon so viel schulde. Endlich muß auch ihnen die Geduld reißen. Ich tue, was in meinen Kräften steht. Vorläufig bin ich noch für zwei Tage geborgen.

den 31. Juli.

Ich erinnerte mich eines reichen Juden, der, als wir einmal an einer Filiale der Deutschen Bank vorübergingen, zu mir sagte: »Sehen Sie, Clefeld, ich brauche nur da hineinzugehen, in einer halben Stunde habe ich 100 000 Mark.« Ich hatte nur 20 Pfennig in der Tasche, brachte es aber nicht fertig, ihn anzupumpen, vielleicht bloß in der sicheren Voraussicht, daß ich nichts bekommen würde. In der Regel bringe ich es erst zustande, wenn mir die Zunge vor Hunger schon ellenlang aus dem Halse hängt. Heute wollte ich versuchen, von ihm einen kleinen Betrag für die Miete herauszuschlagen. Als ich hinkam, hörte ich, daß er schon längst plötzlich am Herzschlag gestorben sei. Ob er mir wohl eine halbe Stunde vor seinem unvorhergesehenen Tode einige Mark gegeben hätte, um mich eventuell vor dem Hungertode zu retten? Mit jedem Menschen geht eine Welt unter. Da diese nur einmal untergehen kann, hält er den großen Augenblick nie für gekommen. Der Egoist müßte erst unter großem Gekrach die Welt untergehen sehen als Vorzeichen seines möglichen Unterganges.

den 3. August.

Ein Geschäftsmann, der mir schon manche Arbeit zugewiesen, hat sich nun auf perverse Literatur geworfen. Er will mir eine Wohnung mieten und mich auch sonst unterstützen, wenn ich die unsittlichen Bücher bei mir lagern lasse, um sie vor polizeilicher Konfiskation zu schützen. Dieser Antrag kam in einem Augenblicke, als mich die Wirtsleute allen Ernstes vor die Tür setzen wollten. Wie verlockend also!

Bestimmte mich nun allein das Gegenmotiv des Gesetzes, ihn nicht anzunehmen? Hätte ich also diese Handlung, auch wenn sie nicht strafbar wäre, unterlassen? Nach meiner Erfahrung darf ich wohl mit ja antworten. Ich habe schon größerer Versuchung widerstanden. Der Kampf wäre nur ein kleinerer gewesen, da die moralische Gesinnung durch die Kausalität jener Vorstellung zurückgedrängt, nicht gleich zu Worte kommen konnte. In diesem Sinne war das Gesetz ein Feind der Moral. Ich habe aber gesehen, daß sogar Hofbuchhändler diese Bücher vertreiben. Sie wissen jedenfalls, an wen. An Schweine. Und Schweinen gegenüber kann die Moral nicht in Frage kommen. Bin ich aber nicht ein Gesinnungsschwein, wenn ich mich in den Dienst schweinischer Gelüste stelle? Und ich bin Ausländer, der nicht einmal pünktlich Steuern zahlt, und genieße alle Rechte jedes anderen Bürgers. Es wäre ein grober Vertrauensbruch dem Staate gegenüber. Wie tief bin ich abermals gesunken, daß ich diese Frage diskutierbar finden konnte! Es wäre eine schöne Sache gewesen, der gesetzwidrige Wächter unsittlicher Bücher zu sein, um in Ruhe über moralische Freiheit schreiben zu können. Schopenhauer sagt zwar, es sei so wenig nötig, daß der Philosoph ein Heiliger, als daß der große Bildhauer auch selbst ein schöner Mann sei. Der Stoiker Seneka hat ein großes Vermögen zusammengescharrt und der große Moralphilosoph Baco von Verulam war Richter und ist wegen Bestechlichkeit aus dem Parlament hinausgeworfen worden. Was ist wohl deren intelligible Maxime gewesen?

den 4. August.

Täglich warte ich am Fenster auf die erste Post. Was soll sie mir bringen? Ich fühle mich losgeschält von der ganzen Welt. Als ich heute schon gar nicht mehr wußte, wo ich mir einige Groschen auftreiben könne, klopfte es und herein trat als deus ex machina ein Bierfahrer, der eine Gelegenheitsdichtung bestellte und als die Hälfte des Betrages zwei Mark anzahlte. Selbst den größten Atheisten zwingt in solchen Augenblicken das Gefühl, sich an etwas Höheres anzuschmiegen.

den 5. August.

Ich arbeite an der Posse und kürze heimlich mein Manuskript. Die Wirtin darf es nicht sehen. Sein Anblick nimmt ihr die letzte Hoffnung. Täglich gehe ich mit der Befürchtung nach Hause, eine verschlossene Türe zu finden. Erst wenn ich im Bette liege, habe ich das behagliche Gefühl, wieder für eine Nacht versorgt zu sein.

den 8. August.

Der Bierfahrer holte sich auf die Minute die bestellte Dichtung. Befriedigt schien er zu fragen: »Bin ich nicht pünktlich?« Er wäre aber auch äußerst ungemütlich geworden, wenn jene nicht fertig gewesen wäre. In der genauen Kenntnis der Verhältnisse halten Leute unteren Schlags unsereinem viel eher Wort als die Reichen.

den 9. August.

Der Tag des Herrn ist den Wirtsleuten heilig. Meine Zinnnertür fällt fest ins Schloß: fest und sicher hallen meine Tritte. Ich bin heute Herr der Wohnung und im Besitze der nötigen Groschen. Was unterscheidet mich in diesem Augenblick vom Reichen? Relativ ist meine Vergangenheit mehr wert als die seinige, indem sie, summarisch und im Verhältnis zum jetzigen Wohlbefinden betrachtet, mein Glücksgefühl erhöht. Ich genieße die Gegenwart voll und ganz, und meine vernünftige Gleichgültigkeit gegen die Zukunft ziehe ich seinen Sorgen um den Besitz vor. Ich bin reicher als er. Mein durch körperliches Wohlbefinden modifiziertes Gemüt ist nur die Form zur Hochhaltung der idealen Forderung. Dem Armen ist eine Momenthängerei in diesem Sinne geboten: sie ist ihm die Basis des ganzheitlichen Glückes. Nur eine sorglose Ausnützung des günstigen Augenblickes kann die Quelle neuer Hoffnungen werden.

den 12. August.

Ich bin äußerlich sehr herunter und die Saison steht vor der Tür. Schweren Herzens schreibe ich wieder meinem guten Bruder. Wie oft beteuerte ich schon, es geschehe zum letztenmal! Er handelt, als hätte ich ihm ein solches Versprechen nie gegeben, wozu mich freilich jedesmal die feste Zuversicht, es halten zu können, bestimmte.

Das widerlichste Versprechen ist dasjenige, das nur im seligen Bewußtsein, es auf Grund der vorhandenen Mittel geben zu können, gemacht wird, ohne daß der Betreffende auch nur im entferntesten daran denkt, es zu halten. Diese Biedermänner sonnen sich im Gefühle ihres Reichtums dem armen Teufel gegenüber.

den 14. August.

Hoffnungsfreudigkeit wechselt mit gänzlicher Hoffnungslosigkeit. Man wollte mich auf der Klinik unentgeltlich mit Röntgenstrahlen untersuchen. Ich habe es abgelehnt. Eine genaue Kenntnis meiner Leiden kann mir gar nichts nützen. Solange nur der Geist noch einigermaßen frisch ist.

Ich muß aber den Berliner Privatkliniken meine tiefste Hochachtung und Dankbarkeit zollen. Ich gehöre keiner Kasse an und wurde stets kostenlos behandelt. Wenn die Diagnose längst feststeht und es nur mehr auf eine oft langwierige, rein mechanische Behandlung ankommt, erleidet die Freundlichkeit der Aerzte keine Einbuße. Das ursprüngliche Hauptmotiv, die Lernbegierde, wird ausgelöst von der praktischen Vernunft.

den 15. August.

Je intensiver das Streben, desto gefährlicher. Immer sinnt man auf Mittel zur Erreichung des Zieles. Oft kann man sich nur mit Mühe der schmutzigsten Gedanken erwehren. Man schwebt fortwährend zwischen Himmel und Hölle. Ein solcher Zustand muß den höheren Menschen zum Verbrechen oder zur Freiheit führen. Der Versucher naht sich in allerlei Gestalten und findet ein für seine Absichten präpariertes Gemüt. Die gewöhnliche Verkommenheit ist nur das Produkt schwacher Charaktere.

Abends wurde ich gebeten, eine Besorgung zu machen. Um mir das Fahrgeld von 20 Pfennig zu verdienen, habe ich einen Weg von zwei Stunden zu Fuße zurückgelegt. Unterwegs Selbstmordgedanken.

den 17. August.

Die Glorifikation des Hauptmanns von Köpenick kennzeichnet den intellektuellen und moralischen Höhepunkt der Masse. Man muß sich glücklich schätzen, von ihr nicht beachtet zu werden. Die Tat eines alten Zuchthäuslers wird als genial gepriesen, weil der » Deus Eventus« scheinbar der richtigen Erkenntnis einer lächerlichen Erscheinung des spezifisch preußischen Militarismus entsprang. Wenn das Genie nicht weiß, was es tut, dann ist in diesem Sinne der Hauptmann von Köpenick allerdings eines gewesen. Tatsächlich besaß er nur die Frechheit eines Menschen, der nichts zu verlieren und nur durch einen blinden Zufall den Nagel auf den Kopf getroffen hat. Und das Glück war ihm günstig. Eine äußerst sensible Natur saß auf dem Bürgermeisterstuhle. Ein dicker, ausgefressener Wachtmeister würde dem Schwindler heimgeleuchtet haben. Der Mangel an Geistesgegenwart, der, wie die Geschichte lehrt, auch großen Männern, z. B. Rousseau, eigen war, gibt nicht das Recht, die Handlungsweise des Bürgermeisters, dem alle äußeren Umstände, vor allem das vorhandene Militär das Auftreten des Schwindlers als offiziell beglaubigen mußten, der Lächerlichkeit preiszugeben. Er war es in erster Linie, dem eine vernünftige Menschheit ihr Mitgefühl nicht versagt hätte. Doch dem Gemeinen ist nur das Gemeine homogen.

den 18. August.

Ich stürze mit meinen Idealen in eine bodenlose, grauenhafte Tiefe. Titanenhaft wäre der Schwung in die Freiheit.

den 20. August.

Heute früh hörte ich, wie jemand meine Wirtin fragte: »Wohnt hier der Dichtermensch?« Ein alter Jude trat ein, um eine Dichtung zu bestellen. Seit drei Jahren der fünfte Besteller infolge des am Hause angebrachten Schildes. Ich aß gerade mein fast tägliches Mittagsgericht, das ich mir selbst bereite: Gedünsteten Reis. Die Stube musternd, fragte er, ob die Wanduhr richtig gehe. Etwas verwirrt durch das Bewußtsein, keine Taschenuhr zu besitzen, bejahte ich diese Frage, ohne es genau zu wissen. Darauf zog er seine Goldene hervor mit dem Bemerken, daß jene nicht ganz richtig gehe, ich möge doch auf meiner Uhr nachsehen. Ich war sprachlos. Der Jude entfernte sich unter allerlei Ausflüchten. Abends versetzte ich meinen Frack. Dieser repräsentiert mein Vermögen. Solange er noch im Schranke hängt, bin ich ruhig im Bewußtsein, mich für ein paar Tage vor dem Aeußersten schützen zu können.

den 22. August.

Geld von meinem guten Bruder. Ich ordnete meine Angelegenheiten mit dem Vorsätze, morgen nicht zu ruhen, bis ich eine Stellung gefunden.

den 23. August.

Ich gehe zu dem Agenten. Die gewonnene Zuversicht schwindet mehr und mehr, je näher die Aufgabe der Verwirklichung meiner Absichten an mich herantritt. Ich fühle, daß nicht meine Kraft, sondern die Meinung der Menschen entscheidet. Wenn wir selbst eine uns bekannte Schwierigkeit aus der Entfernung unterschätzen, um wieviel mehr müssen es die vom Glücke Begünstigten, die jene Schwierigkeit im Verhältnis zu ihrer hohen Meinung von sich selbst als reine Spielerei betrachten. Seit 26 Jahren spiele ich im Vorzimmer der Herren Agenten dieselbe Rolle, die von Jahr zu Jahr tragikomischer wird. Tragischer für mich und komischer für die anderen. Immerhin zeigte ich keine geringe Ausdauer. Es gehört was dazu, 26 Jahre lang vergebens zu fragen: »Haben Sie kein Engagement für mich?«

den 24. August.

Als Geldquelle war im Lokalanzeiger die Vertreibung eines Apparats zur Kreideschärfung für Schneider angekündigt. Ich ging hausieren. Doch die Erfindung taugte nichts. Erst nach stundenlangem vergeblichem Laufen von Werkstatt zu Werkstatt erhielt ich diese Aufklärung. Was nun? Mir kam der Gedanke, mich auf dem Magistrat als Straßenfeger zu melden. Spinoza war Brillenschleifer, Rousseau Notenschreiber. Warum soll ich nicht Straßen fegen? Es entspräche auch dem Unterschiede zwischen mir und diesen Geistesheroen. Und der Kontrast erhöht die Spannkraft. Nach der Straßenreinigung bei Nacht bliebe mir der Tag zur Disziplin der reinen Vernunft. Nach Hause gehend kam ich vor das Parodietheater. Ich ging hinein, um mich als Schauspieler anzubieten. Alles besetzt. »Aber eine Parodie können Sie mir schreiben,« sagte der Direktor, »ich will Ihnen auch gleich Vorschuß geben.« Vorschuß! O Inbegriff des Angenehmen!! Edler Menschenfreund, genialer Direktor, der gleich erkannt, wo mich der Schuh drückt! Ich wohnte der Vorstellung bei und erhielt den Bescheid, morgen wieder zu kommen.

den 25. August.

Ich kam hin. Er führte mich ins Bureau. »Nehmen Sie gefälligst Platz!« Er öffnete den Geldschrank – erhabener Augenblick! – und gab mir – – mehrere Parodien. Dann zeigte er mir eine, die ihm nicht genügte. Ich bat mir auch diese aus, um meine Fähigkeiten daran zu messen. Darauf lud er mich ein, nochmals der Vorstellung beizuwohnen, und versprach mir ein Buch des Stückes, das ich parodieren soll, und ein Billett zu dessen Aufführung im Lessingtheater zu besorgen. Ich möge nur recht fleißig lesen und morgen wiederkommen. Ohne Sechser, aber voll Hoffnungen und Parodien trat ich den Heimweg an. Ich hatte mich ohnehin gewundert, als er gleich von Vorschuß sprach. Wer gibt denn ohne weiteres Vorschuß? Das tut doch kein Direktor.

den 26. August.

Ich stürze mich über Hals und Kopf ins Studium des »schweren Wagner«. »Knurre nicht,« Magen! »zu den heiligen Tönen will der tierische Ton nicht passen.«

Weia, waga –
Woge, du Welle –
Walle zur Wiege,
Walhallallalla!
Eene meene minkmank –
Kling – klang –
Wagalaweia –
Eia popeia!

»Schauderuoll, o schaudervoll, höchst schaudervoll!« Und doch – es muß sein. Als ich ins Theater kam, war der Direktor kaum zu sprechen. Und so kurz angebunden. Auch hatte er ganz das Billett und das Buch vergessen. Ich möge morgen wiederkommen.

den 27. August.

Ich brachte die entliehenen Bücher zurück. »Ach, bringen Sie das Stück?« rief er mir von weitem zu. »Das Stück? Welches Stück?« »Nun ich dachte. Sie hätten schon etwas geschrieben.« – »Was sollte ich denn schreiben? Ich hatte ja noch nicht einmal ein Buch.« – »Das besorgt man sich. Ich kann nicht an alles denken. Wer gibt mir denn etwas? Ich muß auch alles selbst besorgen.« Als ich ihm schließlich sagte, daß jene ihm nicht genügende Parodie ganz gute Witze enthalte, und der Verfasser nur zu sehr in die Breite gegangen sei, war er höchlich erstaunt. Er hätte nur flüchtig hineingeblickt. Und auf das Risiko hin, daß er kaum ein paar Seiten liest, soll ich mich tagelang hinsetzen und schreiben? Adieu! Mir war ganz leicht ums Herz, als ich draußen war.

den 1. September.

Vom 13. ab spiele ich jeden Sonntag für ein Honorar von acht Mark. Ich werde dann wenigstens einigermaßen der Wohnungssorge enthoben sein.

den 4. September.

Ein Kollege sagte mir, daß von einem Kinematographenbesitzer Schauspieler gesucht werden. Ich ging hin und erhielt das Versprechen, bei der nächsten Aufnahme berücksichtigt zu werden. Heute wurde ich per Karte aufgefordert, mich um 10 Uhr einzufinden. Nachdem ich da bis 1 Uhr gewartet, hieß es, daß die Aufnahme in Wannsee stattfinde. Und ich hatte um 5 Uhr die erste Probe für den 13. September, wobei ich nicht fehlen durfte. Meine Frage, ob ich bis 5 Uhr zurück sein werde, wurde als große Frechheit bezeichnet. Man behandelte mich schmählich. Nicht Obdachlosigkeit, noch Hunger hätten mich abgehalten, auf diesen Verdienst zu verzichten, aber ich hatte meinen Wirtsleuten für morgen bestimmt Geld versprochen. Auch war das Gefühl der Selbsterniedrigung durch das Preisgeben meiner Person für einen trivialen Sinnenkitzel so groß, daß ich diese Behandlung gleichsam als mir gebührend hinnahm. Schließlich wollte man mich mit drei Mark abfertigen. Ich verlangte nun energisch das ausgemachte Honorar von fünf Mark.

den 8. September.

Der Direktor, bei dem ich nun jeden Sonntag spielen werde, gab mir acht Mark als Wintervorschuß. Ein großer Tag! Um einen Nebenerwerb zu suchen, las ich den Lokalanzeiger. Unter »Vermischtes« fand ich das Inserat eines Schriftstellers, der für einen realistisch-satirischen Roman, in dem bekannte Bühnengrößen erkennbar gezeichnet werden sollten, Material sucht und für die Mitteilung von Intimitäten (auch nicht schmeichelhafter Natur) aus dem Privatleben hiesiger Schauspieler ein hohes Honorar verspricht. Verdammter Schweinehund! Mir machte die Darstellung der äußeren Umstände die größten Schwierigkeiten, da ich meine Umgebung schonen wollte, und dieser Kerl will aus bloßen Mitteilungen Kapital schlagen! Ich wäre froh, wenn ich heute das Geld besäße, das ihm die Annonce gekostet hat.

den 10. September.

Meine Gläubiger machen mir die Hölle heiß. Selbst die besten Menschen werden ungerecht. Man sucht alle möglichen Schwächen herauszufinden. Gelingt das nicht, so werden Vorzüge zu Schwächen. Die größte Anpassung ist noch nicht groß genug.

den 12. September.

Ich atmete auf, als ich las, daß das öffentliche Auftreten des Hauptmanns von Köpenick durch das Einschreiten der Polizei und infolge des moralischen Selbstbewußtseins der Artisten unterbleiben mußte. Jedes Genie kennt genau die Grenzen, die es nicht überschreiten darf, um den Erfolg einer großen Tat nicht zu paralysieren. Dieser »gewaltige Rächer an den sozialen Verhältnissen«, dieser »Satyriker der Tat« zeigte sich nun im wahren Lichte. Der hervorgetretene Mangel jeglichen Zartgefühls und feineren Empfindens rechtfertigt meine Auffassung von diesem Helden des Tages.

den 13. September.

Eine junge Frau überraschte mich heute mit einem Zeitungsausschnitt. Es war die obenerwähnte Annonce jenes Romanschriftstellers. Auf meine Einwendung sagte sie: »Es heißt doch Geld verdienen.« Aeußerst wohlmeinend hat sie herausgefunden, wozu ich allenfalls noch zu gebrauchen wäre.

den 15. September.

Die Aufzeichnung meines Elends wird mir zuwider. Es ist ja doch stets die alte Leier. Ich will mich mehr auf die Schilderung meines Innenlebens beschränken.

Lichtenberg sagt über die Lebensbeschreibung: »Solange wir nicht alle Schwachheiten aufzeichnen, von denen des Ehrgeizes bis zum geheimsten Laster, so werden wir nie einander lieben lernen. Hiervon hoffe ich eine gänzliche Gleichheit. Je härter es wider den Strich geht, desto getreuer muß man gegen sich selbst sein. Dieses scheint unseren Zeiten aufbehalten zu sein. Es wird nie sehr gemein werden, allein es wird manchen trösten und manchen klüger machen, und das ist schon Gewinn genug.« Mit diesem Gewinn wäre ich auch sehr zufrieden. Aber wo einen Verleger finden? Um das Buch einer Hure würde man sich reißen. Ein Journalist sagte neulich zu mir: »Sie hätten nur Ihre Liebesgeschichten schreiben sollen.«

den 18. September.

In einem Laden bekam ein Junge einen Krampfanfall. Keine der anwesenden gerade beschäftigten Personen kümmerte sich um ihn, was meinen Aerger erregte. Ich sprang ihm bei, löste die Daumen und brachte ihn mit großem Widerwillen nach Hause, da es schon spät war und ich dadurch die Zeit versäumte, mir einige Groschen zum Abendbrot aufzutreiben. Unterwegs tauchte das Gefühl der Seelenstärke in mir auf, ich kam mir besser vor als die anderen. Waren diese Gefühle, wenn auch nur dunkel, nicht schon im entscheidenden Augenblick vorhanden? War es nicht vielleicht auch Trotz gegen die gezeigte Gleichgültigkeit der anderen, was mich so zu handeln bestimmte? Oder ist es Mitleid, oder das Gebot der Pflicht gewesen? Ich glaube, daß es eine Mixtur von allerlei mehr oder minder klaren und unklaren Gedanken und Empfindungen war, wozu die Vernunft an der Hand der Gewohnheit den größten Gewichtsteil gegeben. Ob ich ihm wohl beigesprungen wäre, wenn ich noch nie gehungert hätte?

den 22. September.

Wenn ich in einen Kaufladen trete, wo Mädchen bedienen, wende ich mich stets an das schönste, weil ich weiß, daß dieses mir das beste Gewicht gibt. Schöne Weiber sind in der Regel viel hilfsbereiter und menschenfreundlicher als die häßlichen, denen es gewissermaßen im Blute liegt, sich für die durch sie zum Ausdruck gebrachte lex parsimoniae naturae an der ganzen Natur zu rächen. Hat die Häßliche endlich einen gefunden, so ist sie oft mit einem Schlage wie umgewandelt. Die ganze Welt, die sie vorher vergiften wollte, möchte sie jetzt umarmen. Das ursprünglich vorhandene Mitleid gelangt zur Betätigung. Nach Schopenhauer ist aber der Leib der objektivierte Wille. Warum hat dieser in seinem blinden Drange sich selbst wieder Schranken gesetzt? Hier widerstreitet sich der individuelle Wille in der eigenen Erscheinung.

den 23. September.

In einem Straßenbahnwagen sah ich gestern ein schönes Weib. Die großen schwarzen Augen nahmen mich gefangen. Auf Schritt und Tritt verfolgte mich ihr Bild: die Sehnsucht verklärte es und brachte mir im Traume die ersehnte Befreiung. In fünf Jahren habe ich nur einmal mit einem Weibe intim verkehrt. Diis gratias! Die göttliche Phantasie hat mir ewige Treue geschworen. Liebevoll verheißend naht sie sich, umfängt mich mit weichen Lilienarmen und ver ...

den 24. September.

Kein Mensch hat mehr Vertrauen zu mir. Alte Bekannte drücken mir den Strick in die Hand. »Was willst du noch unter den Lebenden?« Ich lasse alle im unklaren über das Schicksal dieser Arbeit. Oft nehme ich zu einer Notlüge meine Zuflucht. Mehr als das Leben kann es ja nicht losten.

den 25. September.

Heute sagte jemand sehr stolz zu mir, daß er selbst in der höchsten Not die Hilfe seiner Verwandten nicht in Anspruch genommen habe. Auch das setzt ein Identifizieren voraus. Im Gefühle, wie schwer ihm selbst das Geben fällt, will er es anderen nicht zumuten und ist stolz darauf, ihnen diesen Schmerz zu ersparen. Es ist auch eine Art Mitleid, die sich schon gänzlich auf Egoismus zurückführen läßt. Nur wer richtig nehmen kann, kann richtig geben.

den 26. September.

Ein Geschäftsmann, der mir schon viele Gefälligkeiten erwiesen, frug mich heute, ob ich nicht ein Paket nach Zehlendorf bringen wolle. Ich antwortete: »Wenn es sein muß.« Das nahm er übel. Ich müßte es gerne tun. Was ist das für ein Verlangen? Man denke sich in meine Lage! Kann ich gerne Laufbursche sein? Hat die Handlung nicht größeren Wert, wenn ich sie nur aus Dankbarkeit vollbringe? Nach vollzogenem Auftrag kam ich um ¾ 2 Uhr auf dem Potsdamer Bahnhof an und wäre beinahe in einen der beiden unmittelbar darauf kollidierenden Züge der Hochbahn gestiegen. Um mir 10 Pfennig zu sparen, ging ich zu Fuß. Die Vorstellung einer Wiener Wurst ist vielleicht schuld daran, daß ich noch nicht beim Teufel bin.

den 28. September.

Ich lese in der Zeitung: »Ein kleiner Rückschlag wird wohl nur während einer Woche zu verzeichnen sein. Die Hochbahngesellschaft rechnet jedenfalls darauf, daß bis dahin der Besuch durch die Erinnerung an das Unglück beeinflußt wird.« Eine erhabene Rechenaufgabe, eine so recht im Zeichen der Hochbahn stehende Gesinnung: Immer weg über Leichen!

den 29. September.

Ich bin im Besitz von zwei unsittlichen Büchern. Ein Arzt, der mich schon oft in hochherziger Weise der größten Notlage entrissen, bat mich, sie ihm zu geben. Im Begriffe es zu tun und mir bei dieser Gelegenheit von ihm eine Mark zu borgen, kam mir plötzlich der Gedanke: Das müßtest du ja auch in deinen Tagebuchblättern erwähnen. Dann lachte ich laut auf. Die mir selbst gestellte Aufgabe, mich wahrheitsgetreu darzustellen, wäre die Triebfeder gewesen, meine wahre Gesinnung zu verleugnen. Wen hätte ich da eigentlich genasführt?! Bei einer rasch zu vollziehenden Handlung wäre jener Gedanke vielleicht auch mächtig genug gewesen, eine moralische, also dieselbe Wirkung hervorbringende Triebfeder zu unterdrücken. Es wäre mithin immer die Frage übriggeblieben, wie ich nach reiflicher Ueberlegung meiner wahren Gesinnung gemäß gehandelt hätte. Nach längerem Kampfe hielt ich es auch unter meiner Würde, mir mit Hilfe dieser Bücher Geld herauszuschlagen. Ist aber jener Gedanke nicht doch noch mit im Spiele gewesen? War sein Auftauchen nicht schon durch meinen intelligiblen Charakter bedingt? Was ist der letzte Grund gewesen, daß ich jene Handlung nicht vollzogen? Das Motiv katexochen läßt sich nie genau bestimmen. Kant spricht es doch offen aus. Wenn mir unserem geistigen Auge ein Mikroskop aufsehen könnten, würden wir die das Motiv bestimmenden Gedanken und Empfindungen wie die Infusorien im Wasser wahrnehmen können.

den 30. September.

Mein Gönner hat mir mit Freuden viel mehr gegeben. Habe ich das nicht vorher gemußt? Spielte ich mir also vielleicht nicht selbst eine Komödie vor? Würde ich überhaupt ein Unrecht begehen, wenn ich jene Bücher einem Arzt gebe, der sie nur lesen will, um diesen Literaturzweig kennen zu lernen? Nein! Es widerstrebte mir nur unter den angeführten Umständen. Und wenn ich eine Handlung, mag sie unsittlich sein oder nicht, dafür halte und sie dennoch vollbringe, so ist die Voraussetzung zum Verleugnen sittlicher Grundsätze und mithin die Bedingung zur Ausführung unsittlicher Handlungen gegeben. In diffizilen Fällen ist die Bestimmbarkeit der Moralität ohne Kenntnis des Intellekts gänzlich unmöglich. Durch die infolge von Not, Leiden und allerlei Schicksalsschlägen erhöhte Empfindsamkeit wird die Urteilskraft nach Maßgabe des Charakters beeinflußt, so daß manche moralische Handlung im gewissen Sinne pathologisch bedingt ist. Deshalb ist die intellektuelle Freiheit noch keineswegs aufgehoben. Der höher veranlagte Mensch wird sich nur selbst zum strengsten Richter, zum Selbstquäler, um sich seine einzige Stütze, die Achtung vor sich selbst zu erhalten, bis es ihm nach mancherlei Fehlschlüssen, Selbsttäuschungen und Irrwegen in seltenen Augenblicken gelingt, sich durchzuringen zur Idee der Freiheit. Ein Normalmensch wird sich zu dieser Höhe nie emporschwingen. Auf Grund normaler Verhältnisse und Veranlagung ist, wie ich später zu zeigen hoffe, die Wirkung der Kausalität der Freiheit ausgeschlossen.

den 3. Oktober.

Mein Mut ist gänzlich gebrochen. Mir fehlt die Lust zur Fortsetzung des Tagebuchs. Wofür schreibe ich? Für den Ofen, wenn es mir einmal an Feuerung gebricht.

den 9. Oktober.

Meine Wirtin hat meinen Frack eingelöst und vorläufig als Pfand behalten. Gestern brauchte ich ihn für die Bühne. Als ich sie bat, ihn mir zu borgen, äußerte sie die Befürchtung, daß ich ihn vielleicht wieder nur versetzen wolle. Was spricht nicht alles aus diesem für mich keineswegs schmeichelhaften, aber fast mütterlichen Bedenken! Ich zeigte ihr in meiner Rolle die Anmerkung, daß ich als Oberbürgermeister die Majestäten im Frack zu empfangen habe. Nun gab sie ihn mit tausend Freuden. Ihr guten Menschen vom alten Schlage! Wie oft habt ihr mich zu Tränen gerührt!

den 20. Oktober.

Wenn ich mich auch über meine Umgebung hinwegsetzen kann, so läßt der Verkehr in meinem Gemüte doch einen Bodensatz zurück, dessen Dunst den Geist erschlafft. Kaum hat er sich aufgerafft, so beginnt der Tanz von neuem. Diderot sagt, daß nur der Böse die Einsamkeit liebe. Dann muß ich ein sehr böser Mensch sein.

den 25. Oktober.

In einem Bäckerladen kaufe ich mir fast täglich für fünf Pfennig Brot. Ein junges Mädchen bedient mich und sucht stets mit großer Sorgfalt das älteste Brot heraus, da ich kein frisches essen darf. Im sicheren Gefühle, daß sie mich gut leiden kann, blieb mein Herz nicht länger stumm. Allerlei törichte Gedanken stiegen in mir auf. Die Sehnsucht nach einem Herzen war so groß, daß ich sogar an eine Heirat dachte. Die Vernunft sprach bald ihr Machtwort. Ich sah die widerliche Erscheinung des alternden Liebhabers. Adieu, mein Herz! Ich muß zu Grabe gehen, ohne je wahrhaft geliebt zu haben und geliebt worden zu sein.

den 29. Oktober.

Muß ich mich von demjenigen, der mir schon mancherlei Gefälligkeiten erwiesen, fortgesetzt beleidigen lassen? Es kommt darauf an, aus welcher Gesinnung heraus er mir geholfen und ob er die rechte Einsicht besitzt. Seine Urteilskraft muß streng geprüft werden. Bin ich überhaupt frei, wenn ich jedes Unrecht resigniert erdulde, oder Hunger und Obdachlosigkeit dem Unrechtleiden vorziehe? Schopenhauer, nach dem erst bei gänzlicher Modifikation des Willens moralische Freiheit eintritt, würde ersteres, Kant und Lichtenberg würden letzteres bejahen, beide jedoch ihre Antwort verschieden begründen. Wie aber würde der Stoiker, der sich aus nichts auf der Welt etwas macht, darauf antworten? Und wie muß ein Mensch unter heutigen Umständen handeln? Im Falle der Obdachlosigkeit kann mich ein Schutzmann beim Kragen nehmen. Würde ich mich, um keinen Schimpf zu erdulden, nicht der Gefahr aussetzen, einen noch größeren ertragen zu müssen? Vorläufig tut mir noch die Wahl weh.

den 12. November.

Eine mir auf Grund lächerlicher Vorurteile, der Aeußerlichkeitshängerei und des daraus entspringenden Mangels an Exterieur-Sympathie zugefügte Demütigung ruft in mir ein Gefühl höherer Wollust hervor, einen moralischen Effekt, der mich für den eingetretenen Mißerfolg entschädigt. Ueber Dummheit und Beschränktheit bin ich erhaben, jede Schlechtigkeit treibt mich noch immer aus den Fugen.

Für ein ausgemachtes Honorar führte ich gestern in einem größeren Verein zwei Einakter auf.

Während der Vorstellung trieb sich hinter den Kulissen fortwährend ein junger Mensch umher, der sich sowohl in der Garderobe als auch auf der Bühne durch allerlei Handlangerdienste nützlich und gefällig zeigte. Wir hielten ihn für einen Angestellten des Vereins, während der Theatermeister glaubte, daß er zu uns gehöre. Nach der Vorstellung war er plötzlich verschwunden, mit ihm die einer jungen Schauspielerin gehörige goldene Uhr im Werte von 80 Mark, das einzige Andenken ihrer Mutter. Das Mädchen heulte, verwünschte ihre Mitwirkung und machte mich für den Vorfall verantwortlich, mir die schreckliche Versicherung gebend, daß sie den Verlust der Uhr nicht überleben könne. Ich wandte mich an den Vorstand mit der Bitte, eine Sammlung zu veranstalten, da nach meiner Ansicht der Verein dafür zu sorgen habe, daß kein Unberufener die Bühne betrete. Der Vorstand erklärte, daß der ganze Vorfall augenscheinlich nur eine große Komödie in der Komödie sei. Ein Schutzmann wurde geholt. Ich verlangte meine Visitation und die der anderen Mitglieder. Als er dazu nicht bereit war, forderte ich das Erscheinen eines Kriminalbeamten. Vergebens. Er nannte mir das Polizeirevier, wo ich die Sache unterbreiten könne. Es war ein Uhr nachts. Nur die eindringlichsten Mahnungen bestimmten die Mitglieder, mir dahin zu folgen. Der Schutzmann hatte uns jedoch falsch unterrichtet, wir waren nicht an rechter Stelle. Die Schauspieler entfernten sich, um noch eine Fahrgelegenheit nach Berlin zu bekommen: nur in Begleitung der Bestohlenen wanderte ich in der mir fremden Gegend durch die menschenleeren Straßen nach dem uns genannten zuständigen Revier, unter dem einen Arm zwei Uniformen, Schleppsäbel und Seitengewehr, unter dem anderen einen Zivilanzug nebst den gebrauchten Requisiten. Nach langem Klingeln wurde uns geöffnet. Wir trugen den Fall einem Schutzmann vor, der ihn dem in einem anderen Zimmer ruhenden Kriminalbeamten meldete. Nach einem kurzen Hin und Ker schlug dieser plötzlich seine Tür zu mit dem Rufe: »Aus die Unterhaltung!« Der Schutzmann sagte, wir wären hier auch nicht an rechter Stelle. »Noch nicht? Ja, mein Gott, wo denn dann?« Er nannte endlich das richtige Revier. Also los! Nach langem Suchen erreichten wir auch dieses. Hier fehlte aber die uns wichtigste Person: der Kriminalbeamte. Man gab uns den Rat, den Fall auf dem Berliner Polizeipräsidium zu melden. Es war halb drei. Ich ging mit der Dame in ein Kaffeehaus, um auf den ersten Zug zu warten. Um 6 Uhr standen wir vor dem Polizeipräsidium. Ein Kriminalbeamter erklärte in dieser Sache nichts tun zu können, die Dame müsse den Fall auf ihrem Revier melden. Und das sagte man mir erst jetzt. Meine Kraft war zu Ende. Ich entfernte mich, nachdem mir die Dame das Versprechen gegeben, mir ihren Erfolg sofort zu berichten.

den 1. Dezember.

Zwei Tage wartete ich vergebens auf den versprochenen Bescheid. Ich erzählte die Geschichte meinem Freunde, der ebenfalls der festen Meinung war, daß die Dame Komödie spiele und nun die Sache im Sande verlaufen lassen wolle. Ich wollte Klarheit haben und ersuchte sie, mir ihren Erfolg zu berichten. Schon am nächsten Morgen erhielt ich die Nachricht, daß sie die erforderlichen Schritte getan habe. Als ich gleich darauf einen Theaterunternehmer traf, der mir mitteilte, daß nach der Beschreibung derselbe junge Mann mit demselben Trick in einer Vereinsgarderobe zwei Uhren und Geldbörsen gestohlen, wurde es mir zur Gewißheit, daß auch ich ihr in Gedanken ein großes Unrecht zugefügt. Zufällig zum Fenster hinausblickend, sah ich meinen Freund, der eben zum Besuche kam. »Sehr gute Nachrichten.« rief ich ihm ganz selig zu. Er mußte glauben, daß ich das große Los gewonnen, und war sichtlich enttäuscht, als ich ihm sagte, um was sich's handle. So glücklich war ich über die zutage getretene Unschuld des Mädchens und die erhaltene Handhabe, den allgemein ausgesprochenen Verdacht entkräften zu können. Später erfuhr ich noch zwei andere Fälle, in denen dasselbe Individuum als Dieb in Betracht kam. Ich lief wiederholt aufs Polizeipräsidium, wo man mich schon als Ueberlästigen behandelte, ließ mir das Verbrecheralbum vorlegen, worin ich den Dieb nicht finden konnte, und bat endlich jene Personen, die mich unter Mitteilung der späteren Fälle zu einem energischen Vorgehen ermunterten, mich durch die entsprechende Anzeige auf ihren Revieren zu unterstützen. Nur einer, dem ich meine Hochachtung zolle, hat diesen Weg nicht gescheut. Gewissenhaft unterrichtete ich auch jedesmal das junge Mädchen von dem gegen jenen Burschen in Erfahrung gebrachten Belastungsmaterial, ihr die tröstliche Versicherung gebend, daß ihr doch mindestens für die vom Vorstande des Vereins zugefügte Beleidigung eine Genugtuung werden müsse und ich für sie wie für mich selbst den Kampf fortsetzen wolle. Endlich schrieb sie mir eine Karte, daß sie alle Hoffnungen, zu ihrem Eigentum zu gelangen, aufgegeben und mir für meine Bemühungen herzlich danke. Schluß!

den 22. Dezember.

Wieder einmal Sonnenschein! Der heutige Tag brachte mir die Weihnachtsgaben von meinen zwei Brüdern.

den 5. Januar 1909.

Man hat mich tief beleidigt. Falschheit, Hinterlist, Eitelkeit und gemeines niedriges Strebertum zwangen mich, auf meinen geringen Verdienst als Schauspieler zu verzichten. Vielleicht, daß sich jetzt noch mein letztes Ideal, und wenn auch nur für einen Tag, verwirklicht: Straßenfegen!

Ich bekenne, daß ich weder die Leiden verabscheue, noch die Genüsse verneine, daß ich mit mir völlig im reinen bin, mich also kein Selbstbetrug, kein Dogma bestimmen könnte, durch ein langsames Hinsiechen einen transzendenten Zweck zu verfolgen; ich bekenne, daß ich mich weder auf der Folter noch im Stier des Phalaris glücklich fühlen würde und auch keine Sehnsucht habe, mich nach dem von Schopenhauer so sehr gepriesenen Rezept von Krokodilen auffressen zu lassen, wozu ich auch mit bestem Willen nicht imstande wäre, da mir das Geld zu einer Spritztour nach dem Ganges mangelt und die gezähmten Bestien im Zoo den mageren Bissen höchst wahrscheinlich verneinen würden: mit deiner Hilfe allein, wie ich dich kenne, Idee der Freiheit, werde ich hingelangen ins große majestätische Nichts! Es wird nur ein kaum hörbares Knipsen sein, das aber, wenn wirklich mit der gänzlichen Aufhebung eines Wesens die ganze Welt untergeht, euern Untergang bedeutet. Ja, ja, macht euch gefaßt! Das Ding an sich, das soll es in sich haben.

den 7. Januar.

Leopold Thurmer hat mir in der Genossenschaftsversammlung aus der Seele gesprochen. In welchen Händen liegt oft die Existenz eines Idealisten! Die Genossenschaft müßte einmal gehörig aufräumen. Wenn ein Dilettant ein paar Pfennige Geld hat, hängt er nicht selten aus Faulheit sein Handwerk an den Nagel und wird Theaterdirektor. Ein einziger Sonntag bringt einem solchen Kunstproleten oft eine Einnahme, die der auf sein Honorar angewiesene, gebildete Schauspieler im ganzen Jahre nicht erzielen kann. Es müßte der Nachweis eines gewissen Bildungsgrades verlangt werden. Ich möchte einmal unter dieser Direktorenkategorie ein Diktandoschreiben veranstalten. Was da wohl herauskommen würde! Auch den Vereinen müßte man besser auf die Finger sehen! Die diesbezüglichen Verordnungen werden sehr schlau umgangen. Nur das geschäftliche Interesse tritt in den Vordergrund. Aus diesen Pflanzstätten gehen auch die besagten Direktoren hervor. Menschen, die nie ein geordnetes Verhältnis kennen gelernt haben, treten dem ergrauten Schauspieler gegenüber diktatorisch auf. Neulich wurde mir der Antrag gemacht, in einem Verein zu spielen. Als ich mich beim Vorstand meldete, sagte dieser, daß man sich nach der ersten Probe entscheiden würde, ob ich zur Mitwirkung befähigt wäre. Nach einer nahezu 35 jährigen Tätigkeit als Schauspieler sollte ich einem Dilettantenverein Probe spielen. Das ist der Gipfelpunkt der Frechheit! Tod und Teufel dieser Wanzenbrut!

den 13. Januar.

In einem Speisehause sah ich, wie einer die Saucereste von mehreren Tellern auf seine weißen Bohnen schmierte und wohlgefällig der verlockenden Mahlzeit entgegensah. Mit derselben Zufriedenheit mag Demiurg auf sein Meisterwerk geblickt haben. Als er mich um die letzte auf meinem Teller gebliebene Kartoffel bat, blickte er mich so treuherzig an, daß es mich durchschauerte. »Mann,« sagte ich, »wie gerne würde ich Ihnen helfen, ich habe aber leider selbst nichts.« »O, man hilft sich schon durch,« entgegnete er. »Ich verdiene freilich wenig, oft nur 50 Pfennig im ganzen Tage. Die Hauptsache ist ein gutes Gewissen. Solange man das noch hat, schmeckt alles.« Und mit Wohlbehagen aß er die von Krankheitsstoffen gesättigten Ueberreste. Er fand Geschmack an dem, was jedem anderen Ekel einflößt. Eine Unterwertung aller Werte, eine vollständige Vertierung! Und diese Umwandlung hat sich nicht bloß angesichts des Strafgesetzbuches vollzogen. Ist das nun Höhe oder Tiefe? Es kommt auf den Standpunkt des Betrachters an. Ich sah zuerst in einen grauenvollen Abgrund. Als ich mich hinein verlor, konnte ich mich der Bewunderung nicht erwehren. Der Abscheu vor der Vertierung ist an Größe gleich der Hochachtung vor der Gesinnung, die jene bewirkte.

Und dieser Mann hat von einem Fundament der Ethik wohl keine blasse Ahnung gehabt. Wo es drin liegt, liegt es drin, sonst sind alle praktischen Regeln, Sittengesetze und Imperative für die Katze. Hätte dieser Mann ein allgemein praktisches Prinzip aufstellen können? Wie hätte das wohl gelautet? Kants Reich der Zwecke setzt in erster Linie ein Reich von nur in streng geordneten Verhältnissen lebenden Normalmenschen voraus.

den 17. Januar.

Mein Freund sagte mir, daß vom Steueramt Hilfsschreiber gesucht werden. Ich ging hin. Man machte mir wenig Hoffnung, weil die Meldungen der Bewerber den Bedarf schon überschritten hatten. Wenige Stunden nach meiner Meldung erhielt ich ein Schreiben, daß von meinem Gesuche keine Notiz genommen werden könne. Diese Schnelligkeit überraschte mich, weil manche wochenlang auf die Entscheidung warten müssen. Möglich, daß es in Rücksicht auf meine traurige Lage geschah, um mich nicht eitlen Hoffnungen hinzugeben. Doch andere sind in derselben Lage. Ich kombiniere also, daß nach Einsichtnahme in meine Personalien meine vor 25 Jahren erfolgte Verurteilung den Grund zu diesem beschleunigten Verfahren gegeben hat. Unüberlegterweise habe ich zur Empfehlung den Namen meines Freundes benutzt, der, um sich einen Nebenverdienst zu schaffen, schon durch zwei bis drei Jahre als Hilfsschreiber tätig war und sich nun wieder darum beworben hat. Wenn das für ihn nur keine üblen Folgen hat!

den 21. Januar.

Endlich habe ich einen Verleger gefunden, der sich für mein Buch zu interessieren scheint. Er versprach mir, es bis 30. des Monats gelesen zu haben und mir jedenfalls das ersehnte objektive Urteil zu geben.

den 23. Januar.

Ein Schauspieler erkundigte sich heute bei mir über einen Bureaumenschen. »Ist er brauchbar?« »Außerordentlich, er macht die schwierigsten Sachen ohne Balanzierstange.« – »Meineid – hm?« »Tipptopp!« »Den Mann werde ich empfehlen.«

den 25. Januar.

Ich schreibe wieder Rollen aus. Heute mußte ich aus zwei Büchern die von den Regisseuren während der Proben gemachten Striche ausradieren. Eine Hundearbeit! Man kann aber dabei Studien machen. Sehr schonend angebrachte Zeichen zum Wegfallen gewisser Stellen wechselten mit mehr oder minder dicken, mit Blau- und Rotstift oft so schonungslos gemachten Strichen, daß das Papier durchrissen war. Pfui über solchen Vandalismus! Die Bücher und Rollen kosten dem Verleiher viel Geld. Ich könnte jedem dieser Streicher auf den Kopf zu sagen, was er für einen Charakter hat.

den 28. Januar.

Ich veranstaltete für meine Bekannten einen Rezitationsabend. Die Einnahme betrug 5 Mark und 50 Pfennig. Ich hatte aber keine Kosten. Uebermorgen ist ja auch der Entscheidungstag.

den 30. Januar.

Der Verleger hat sich über mein Buch sehr günstig ausgesprochen. Es ist zwar für seinen Verlag nicht geeignet, er gab mir aber ein Empfehlungsschreiben an einen anderen Verlag und 10 Mark im voraus für zwei Exemplare meines Buches. Mit dieser zarten Form des Gebens stellte er mir offenbar zugleich das Erscheinen des Buches in sichere Aussicht. Als ich mit meinem Empfehlungsschreiben zum Direktor der Zweiganstalt des anderen Verlags kam, erhielt ich ebenfalls 10 Mark, die mir zur Zeit vom Honorar abgezogen werden sollten. Was will ich mehr? Vici!

den 31. Januar.

Ich erzählte dem Theaterbuchhändler voll Freude, daß mein Buch so gut wie angebracht ist. »Immer derselbe Optimist,« rief er, »Sie sind nicht zu kurieren!«

Andere behaupten wieder, daß ich an Verfolgungswahn leide. Der Böse will nicht erkannt sein. Sobald man ihn durchschaut, leidet man an Verfolgungswahn. Das ist seine beste Ausflucht. Jener besteht darin, daß die angenommene Möglichkeit des Eintritts des Befürchteten oder die Beschuldigung des Nächsten auf leerer Einbildung beruht. Sobald nicht anweisbare Gründe zu irgendeiner Annahme gegeben sind, wenn diese sogar die Gegengründe überwiegen, kann nur mehr von einem Irrtum die Rede sein. Daß ich auf Grund der traurigsten Erfahrungen oft zu schwarz sehe, gebe ich zu. Nur das Erkennen des Wesens dieser Welt schafft Pessimisten. Von Natur aus ist jeder Optimist. Ich bin es, wie jener Mann ganz richtig behauptet, zu oft und zu sehr, obgleich ich jedesmal eine Enttäuschung erfahre. In abstracto bin ich der größte Pessimist. Im besonderen Falle urteile ich nach mir selbst, im allgemeinen nach der Erfahrung. Manchmal hilft mir diese auch im besonderen Falle. Wenn es gerade paßt, wird mir jene Krankheit angedichtet, die mitunter sogar zur Ursache meiner Lage gemacht wird. Durch meine Armut erhält dieses Urteil apodiktische Gewißheit.

den 2. Februar.

Ich hatte meinem Gönner versprochen, ihm jene zwei bemühten Bücher zu geben, sobald ich mich in besserer Lage befinde. Dieser Zeitpunkt ist freilich noch nicht eingetreten, der Verleger hat mir aber eine rasche Erledigung in Aussicht gestellt. Ich bringe meinem Gönner die Bücher.

den 8. Februar.

Was ich befürchtete, ist eingetroffen: Mein Freund ist von der Steuerbehörde nicht berücksichtigt worden. Ich bin dadurch in meiner Annahme bestallt und mache mir zugleich die größten Vorwürfe, daß meine Unüberlegtheit ihm diesen Verdienst entzogen hat. Ich hätte mich nicht auf ihn berufen dürfen, ich bin der festen Meinung, daß man auch mit dem Freunde eines Verurteilten nichts mehr zu tun haben will. Falls ich mich irren sollte, bitte ich höflichst um Entschuldigung.

den 9. Februar.

Als mich heute in der traurigsten Gemütsstimmung ein Bekannter, unter dessen Falschheit ich schon zu leiden hatte, freundlich begrüßte, erzählte ich ihm anstandslos meine Erlebnisse. Ich kenne keine Rachsucht, ich vergesse sogar ein mir zugefügtes Unrecht und Beleidigungen, so sehr ich im ersten Augenblick dagegen kämpfe, schnell und leicht. Wenn mir mein größter Feind in der Maske des Menschenfreundes entgegentritt, so gewinnt er mich für den Augenblick. Hinterher könnte ich mir den Kopf abreißen. Daher kann es geschehen, daß ich denselben Menschen, wenn ich ihm in der nächsten Viertelstunde begegne, nicht des mir einst zugefügten Unrechts wegen, sondern aus Aerger über meine eigene Schwäche nicht beachte.

Eine Beleidigung kann mich momentan aber auch empfangene Wohltaten vergessen lassen. Es könnte einem in diesem Falle die Wahl weh tun zwischen dem Beleidiger und dem Beleidigten. Dieser hat gewiß einen schweren Standpunkt, um die für das Zurückweisen der Beleidigung entsprechende Form zu finden. Er müßte die größte Ruhe besitzen, um prüfen zu können, ob dem Beleidiger das Bewußtsein der erteilten Wohltaten eine Stütze gewesen ist. Dieser hätte dann selbst darüber quittiert. Die Beleidigung an sich würde für den Beleidigten mehr in den Vordergrund treten. Mich reißt mein Temperament hin. Hinterher kommen wieder die Vorwürfe. Zur objektiven Beurteilung eines solchen Falles müßte einem die Gesinnung beider Teile genau bekannt sein. Es ist eine höchst kitzlige Sache, über die sich eine Abhandlung schreiben ließe.

den 16. Februar.

Die Not trieb mich wieder zu meinem Gönner. Erst hinterher kam mir meine Inkonsequenz deutlich zum Bewußtsein. Ich konnte ihm die Bücher zum Geschenk machen, ich durfte nur nach meinem Empfinden keinen Vorteil daraus schlagen. Gut! Dann hätte ich mir aber auch kein Geld mehr von ihm borgen dürfen, das vorläufig so gut wie geschenkt ist, da er es mir völlig ins Ungewisse gibt. Konnte ich mich aber meinem Gönner nicht erkenntlich zeigen und später wieder seine Tüte in Anspruch nehmen? Als ich ihm die Bücher überreichte, wollte ich ein meinem Empfinden widersprechendes Motiv ausschalten, das sich jetzt wieder vordrängt und mir zuruft: »Mach' dir nichts weiß, ich bin es doch gewesen.« Habe ich also meine eigentliche Absicht nicht vor mir selbst verschleiert? Es fragt sich, ob ich bei Uebergabe der Bücher, als Ausdruck der Erkenntlichkeit, nur die Vergangenheit oder auch die Zukunft im Auge hatte. Ich handelte im festen Glauben, daß ich ihn nicht mehr brauchen würde. Darin lag zugleich der Vorsatz, die Bücher auch nicht indirekt als Objekt zur Verbesserung meiner Lage zu gebrauchen oder nur als solches gelten zu lassen. Die Not war stärker als mein Vorsatz.

Es ist dies einer jener Fälle, worin der Grund zur Bestimmung des moralischen Wertes der Handlungen, da keine derselben an sich weder gut noch böse ist, lediglich auf deren Gemeinschaft zu beruhen scheint, wodurch jener aber nur problematisch wird. Nur in Beziehung zu Handlungen von positivem Charakter, welche die Gesinnung deutlich zu erkennen geben, kann deren Wert einigermaßen bestimmt werden.

In so schwierigen Fällen, in denen ich das nach meinem augenblicklichen Urteil Unzulässige nicht ausführe, das ihm zulässig Erscheinende aber ausführe, kann es daher häufig vorkommen, daß dasjenige, was heute vor dem Richterstuhle der Moral nicht bestehen könnte, sich morgen ganz gut behaupten kann.

Wenn sich bei mir nach guten Tagen die Not ganz leise meldete, bin ich ein schwankes Rohr gewesen, sobald sie ordentlich hereinbrach, war ich frei.

Die Gewöhnung an einen oft langsamen, dann wieder raschen Wechsel der heterogensten Verhältnisse ist die Unterlage des moralischen Handelns.

den 17. Februar.

Man wird mich einen moralischen Grillenfänger nennen, vielleicht auch einen Komödianten, der, weil er sein Metier nicht mehr öffentlich mit Erfolg betreiben kann, sich aus alter Gewohnheit doch noch gelegentlich selbst was vorspielt. Laßt mir das kindliche Vergnügen! Eine solche Spielerei ist immerhin mit einer Hebung der Kräfte verknüpft, die das Verrosten feineren Empfindens verhütet.

den 20. Februar.

Was wohl aus mir geworden wäre, wenn ich mich in späteren Jahren, ohne eine andere Philosophie zu kennen, nur in Nietzsche vertieft hätte? Den Weg ins Zuchthaus hätte ich auf Grund meiner Veranlagung nicht gefunden, aber ganz sicher den ins Narrenhaus.

den 21. Februar.

Was auch immer über die Idee der Freiheit gesagt worden ist, so steht doch fest, daß sie tief ins menschliche Bewußtsein eingeprägt ist. Jeder Mensch hält sich ursprünglich für frei und keiner wird nur auf Grund seiner natürlichen Einsicht von der Unfreiheit in seinen Handlungen zu überzeugen sein. Das erscheint mir wie ein höherer Fingerzeig, daß Freiheit der höchste Beruf der Menschheit ist. Jener Irrtum besteht nur in Beziehung auf die noch nicht vollzogene Erfüllung ihrer eigentlichen Bestimmung. Jedenfalls ließe sich auf diesem gegebenen Irrtum solider und fester bauen, als auf dem phantastischen Wiederkunftsgedanken und dem erdichteten Zarathustra-Ideal. Der Mensch muß ganz heraus.

den 22. Februar.

Wenn mir ein schweres Unrecht zugefügt wurde, erfaßte mich eine heiße Sehnsucht nach dem Nichts: ich verneinte das Leben. Wurde an mir ein Werk wahrer Menschenliebe vollzogen, so bejahte ich das Leben. Nach Schopenhauer ist das aber von Uebel, da das wahre Heil nur in der Verneinung liegt. Also sind die Uebeltäter die wahren Wohltäter. Dieser Philosoph sagt das auch irgendwo. Die Nächstenliebe ist nach ihm, als Uebergangsstufe zur Verneinung, die höchste Tugend, welche in Ansehung besagter Wirkung aber dem wahren Wohle der Nächsten widerstrebt. Ich bin nun im Zweifel, ob ich mich bei den guten Menschen bedanken soll oder bei denjenigen, die mir das Leben gründlich versalzt haben.

den 23. Februar.

Ich habe einen Freund mit sehr geringer Schulbildung, aber mit starkem Wissensdrang und echtem Sinn für das Große und Schöne. Er unterhält sich mit mir gerne über Philosophie. Daß es für mich eine Unterhaltung sei, will ich nicht behaupten. Er kann mich mit seinem unverdauten Zeug oft rasend machen, manchmal aber bin ich erstaunt über seine natürliche Einsicht in tiefe Probleme.

den 24. Februar.

Aeußerer Glanz macht selbst urteilsfähige Menschen befangen. Ein Loch in der Hose läßt auf einmal alle moralischen Schwächen erkennen. Die frühere Befangenheit im Urteile weicht nun einer ebenso großen Uebereiltheit.

Wenn einer aus seiner Höhe plötzlich verschuldet oder unverschuldet herabsinkt, freut sich die Menge. Erst wenn sie sich an seinen Anblick in dieser Lage gewöhnt hat, macht ihre teuflische Freude allmählich dem Mitleid Platz. Es schmeichelt ihrem Selbstgefühl, dem einst hoch über ihr Gestandenen helfen zu können. Dieses Mitleid ist keinen Schuß Pulver wert. Das wahre Mitleid geht über in praktische Vernunft. Wenn ein armer Teufel plötzlich in die Höhe kommt, kennt wieder der Neid seiner Umgebung keine Grenzen. Man muh sich wieder erst an seinen Anblick in dieser Lage gewöhnen, um ihm wenigstens gleichgültig gegenüberstehen zu können. Immer muß erst die Bestie gehörig gefüttert werden, bis sie zu knurren aufhört.

Ich habe einen Menschen gekannt, der seinen Vorteil genau abwog, wenn es galt, seinem Nächsten beizustehen, von seiner Gutmütigkeit aber so sehr gerührt war, daß er dabei heiße Tränen vergoß. Er hielt sich für den besten Menschen und war es also auch nach einer gewissen Philosophie. In manchen Fällen beruht das Mitleid, wie ich im Anhang zeigen werde, nur auf Einbildung. Das ist eben das falsche Mitleid. Ich habe mich stets gewundert, daß die Verächter des Mitleids keinen großen Unterschied machen. Auf die Sorte kommt es an.

den 10. April.

Ich hatte heute noch 40 Pfennig. Wie die Feiertage verbringen?! Als ich nach Hause kam, sagte die Wirtin, daß mich der Briefträger gesucht habe. Ich eilte auf die Post. Geld von meinem guten Bruder! Was für traurige Zeiten wären mir die heiligen Zeiten ohne dich!

den 24. April.

Ende dieses Monats wird seit Einreichung meines Manuskriptes ein Vierteljahr verstrichen sein. Ich habe zum Direktor der Zweiganstalt volles Vertrauen. Er kennt meine Lage und würde mich, ohne meinen Vorteil im Auge zu haben, nicht so lange warten lassen. Nur die gewichtigsten Gründe können ihn dazu bestimmen. Vielleicht hat er die Absicht, mich einen Anspruch auf die Abnahme gewissermaßen ersitzen zu lassen.

den 26. April.

Ein Bekannter sagte mir, daß nach den Bestimmungen des Vereins zum Schutze des deutschen Urheberrechts als höchste Frist zur Prüfung eines Werkes drei Monate festgesetzt sind. Wie recht hatte ich also mit meiner Voraussetzung!

den 1. Mai.

Mein Buch ist nicht angenommen worden.

Der Direktor machte mir Aussicht, es bei einem anderen Verlag unterzubringen. Ich glaube nichts mehr. Man will mich abschütteln.

den 7. Mai.

Heute erfahre ich, daß jene Vereinsbestimmungen nicht existieren und, selbst wenn sie existieren würden, es sehr fraglich wäre, ob sich die Herren Verleger dadurch bestimmen ließen. Der Theaterbuchhändler sagte: »Nun, wer hat recht gehabt, ich oder Sie mit Ihrem Optimismus?«

den 17. Mai.

Ich hatte recht. Meine Annahme, daß mich der Direktor nur in der sicheren Voraussicht des Unterbringens meines Buches so lange warten ließ, ist richtig gewesen.

Heute erhielt ich von der Verlagsfirma Robert Lutz den Bescheid, daß man mein Buch mit Interesse gelesen hat und bereit ist, es zu nehmen, wenn ich die gewünschten Aenderungen mache. Mir winkt ein Vorschuß. Ich kann mich nur nicht mit allem einverstanden erklären.

den 25. Mai.

Wieder beim Theaterbuchhändler!

den 21. Juni.

O Ironie des Schicksals! Ich machte meinen ersten größeren Fund, eine goldene Kette im Werte von ungefähr 70 Mark. Ich zeigte sie meinen Bekannten mit dem Bemerken, daß ich abwarten wolle, ob sich der Verlierer durch den Verlustanzeiger melden und vielleicht eine Belohnung aussetzen werde, andernfalls ich sie im Fundbureau des Polizeipräsidiums abgeben würde. »Ochse!« schrie einer, mir ganz entrüstet den Rücken kehrend.

den 24. Juni.

Heute ist ein schöner Tag für mich. Ich habe mich mit dem Verlag geeinigt und einen ansehnlichen Vorschuß erhalten. Wir hatten uns mißverstanden. Es hat sich hauptsächlich nur um eine gründliche Schilderung des Schmierenlebens gehandelt.

den 22. Februar 1910.

Meine Mutter tot! – – – – –

Liebe Mama, wir haben uns nie ganz verstanden. Wie hättest auch du kluge Frau mit dem hohen praktischen Intellekt dich mit mir, dem in jeder Hinsicht höchst unpraktischen Menschen, ganz verstehen können! Mich hat kein Mensch verstanden. Und die Mutterliebe mußte sich empören gegen ein Streben, das sich scheinbar immer in Utopien verlor.

Vor 30 Jahren habe ich dich zuletzt gesehen. Enkel und Enkelkinder nahmen deine Liebe in Anspruch. Wäre es mir vergönnt gewesen, dir noch einmal ins Mutterauge zu blicken: in der ersten Viertelstunde wären wir eins geworden.

den 24. Februar.

Am Begräbnistage meiner Mutter ging ich zur Stunde ihrer Beisetzung in eine katholische Kirche. Nachdem ich darin nahezu zwei Stunden zugebracht, wandelte ich im anliegenden umzäunten Garten in mich versunken auf und ab. Ich hatte den innigsten Drang, mich in dieselbe Stimmung zu versetzen, gleichsam dieselbe Luft zu atmen, die dort herrschte, wo meine Mutter zu Grabe getragen wurde. »Gehen Sie in die Kirche oder verlassen Sie diesen Ort!« schrie mich der Wächter an. Auch meine ihm dargelegten Gründe konnten ihn nicht umstimmen. Er gab mir zu verstehen, daß er mich für einen Einbrecher halten könne. Sehe ich wirklich so aus? Ich floh in meine Stube. Hier erst löste sich wahrhaft mein Inneres, hier erst brach im tiefsten Schmerze die dieser Stunde würdige Stimmung hervor, die an gottgeweihter Stätte – – – – –

den 28. Februar.

Mit der sorgsamsten Sparsamkeit warst du auch auf mich bedacht. Ich danke dir, liebes Mütterchen! Und meine gute Natur, die mir über so vieles hinweghalf, meine Jugend am Grabesrande –: sie sind dein Vermächtnis!


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