Gilbert Keith Chesterton
Das Paradies der Diebe
Gilbert Keith Chesterton

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John Boulnois' seltsames Verbrechen

Herr Calhoun Kidd war ein sehr junger Mann mit einem sehr alten Gesicht, einem Gesicht, das von seinem eigenen Eifer verzehrt und von bläulichschwarzem Haar sowie einer schwarzen wehenden Krawatte umrahmt war. Er war der englische Reporter der riesigen amerikanischen Tageszeitung namens »Die Sonne des Westens« – die auch den Spitznamen »Der Aufgehende Sonnenuntergang« hatte. Das war eine Anspielung auf die bedeutungsvolle journalistische Erklärung, die man Herrn Kidd selbst unterschob: er glaube, die Sonne würde doch noch im Westen aufgehen, wenn nur die Amerikaner noch ein wenig mehr eilen und drängen und treiben würden. Jene Leute jedoch, die sich vom Standpunkte etwas gesetzterer Traditionen aus über den amerikanischen Journalismus lustig machen, vergessen dabei einen gewissen Widerspruch, der alles zum Teil wiedergutmacht. Denn wenn der Journalismus der amerikanischen Staaten an Drastik und Gewöhnlichkeit alles überbietet, was englisch ist, so zeigt er doch auch eine aufgeregte Anteilnahme an den ernstesten geistigen Problemen und eine wirkliche Begeisterungsfähigkeit, deren englische Zeitungen bar oder, besser gesagt, unfähig sind. Die »Sonne« war voll von den feierlichsten Dingen, die in der possenhaftesten Weise behandelt wurden, und in der unendlichen Reihe der Abbildungen wechselten Gelehrte mit Boxkämpfern ab.

So kam es, daß zum Beispiel keine englische Zeitung auch nur flüchtig davon Notiz nahm, als ein bescheidenes Mitglied der Oxforder Universität namens John Boulnois in einer wenig gelesenen naturwissenschaftlichen Zeitschrift einige Artikel über bestimmte schwache Punkte der Darwinschen Entwicklungstheorie veröffentlichte. Übrigens ist noch zu bemerken, daß Boulnois' Theorie, ausgehend von der Vorstellung eines verhältnismäßig stationären, nur gelegentlich von katastrophalen Veränderungen heimgesuchten Universums, sich in Oxford einer gewissen Modeberühmtheit erfreute und infolgedessen sogar den Namen »Katastrophentheorie« erhielt. Die englischen Zeitungen nahmen hiervon, wie gesagt, keine Notiz. Doch viele amerikanische Blätter griffen diese Herausforderung wie ein großes Ereignis auf, und die »Sonne« warf den Schatten des Herrn Boulnois in riesenhafter Größe über ihre Seiten. Durch den schon vorhin erwähnten Widerspruch wurden Artikel von anerkennenswerter Klugheit und Begeisterungsfähigkeit mit Überschriften gebracht wie: »Darwin kaut Unsinn! Kritiker Boulnois sagt, Welterschütterungen lassen ihn unerschüttert.« – »Haltet euch an die Katastrophen, sagt Denker Boulnois!« Und Herr Calhoun Kidd erhielt den Auftrag, sich mit seiner wehenden Krawatte und seiner finsteren Miene in das kleine Häuschen außerhalb Oxfords zu begeben, wo der Denker Boulnois in glücklicher Unkenntnis dieses Titels wohnte.

Dieser vom Schicksal gezeichnete Gelehrte hatte in einem Augenblick der Verwirrung eingewilligt, den Interviewer zu empfangen, und die Stunde des Besuches für neun Uhr abends desselben Tages festgesetzt. Der letzte Schimmer eines sommerlichen Sonnenunterganges hing in den niedrigen bewaldeten Hügeln um Cumnor. Der romantische Yankee war zunächst des Weges nicht ganz sicher, zugleich aber auch neugierig, etwas aus der Umgebung zu erfahren, und da er die Türe eines echten alten Bauernwirtshauses, wie sie in der Nähe herrschaftlicher Landsitze meist zu finden sind, offen fand, trat er ein, um Erkundigungen einzuziehen.

In der Wirtsstube mußte er läuten und einige Zeit warten, bevor jemand kam. Es war außer ihm noch ein anderer Gast anwesend, ein Mann mit fest zurückgebürstetem rotem Haar und einem weiten Anzug aus haarigem Stoff; der Mann trank einen sehr schlechten Whisky und rauchte eine sehr gute Zigarre. Der Whisky war natürlich das auserwählte Getränk des Wirtshauses; die Zigarre hatte er wahrscheinlich aus London mitgebracht. Die zynische Saloppheit seiner Erscheinung stach gegen die trockene Adrettheit des Amerikaners in auffallender Weise ab; doch irgend etwas Undefinierbares – der Bleistift mit dem offenen Notizbuch, vielleicht auch der Ausdruck neugieriger Wachsamkeit in den blauen Augen des Mannes, veranlaßten Kidd zu der richtigen, Annahme, daß jener ein Berufskollege sei.

»Würden Sie die Liebenswürdigkeit haben«, fragte Kidd mit der seiner Nation eigenen Höflichkeit, »mir zu sagen, wo das ›Graue Häuschen‹ ist, in dem Herr Boulnois wohnen soll?«

»Einige Ellen weiter die Straße hinunter«, sagte der rothaarige Mann, indem er die Zigarre aus dem Munde nahm; »ich gehe auch dort vorbei in ein paar Minuten; aber ich gehe nach Pendragon Park und werde versuchen, mir dort den Spaß anzusehen.«

»Was ist Pendragon Park?« fragte Calhoun Kidd.

»Der Besitz Claude Champions – sind Sie nicht auch darum hierher gekommen?« fragte der andere Zeitungsmann und sah erstaunt auf. »Sie sind doch Journalist, nicht?«

»Ich bin hierher gekommen, um Herrn Boulnois aufzusuchen«, erwiderte Kidd.

»Nun, und ich will Frau Boulnois aufsuchen«, sagte der andere. »Aber ich werde sie wohl nicht zu Hause antreffen«, und er brach in ein unangenehmes Lachen aus.

»Interessieren Sie sich für die Katastrophentheorie?« fragte der verwunderte Yankee.

»Ich interessiere mich für Katastrophen, und es werden sich hier welche ereignen«, erwiderte der Mann düster. »Ich betreibe ein schmutziges Gewerbe, und ich habe auch nie das Gegenteil behauptet.«

Bei diesen Worten spuckte er auf den Boden; doch sogar an der Art, wie er dies tat, konnte man sehen, daß der Mann eine gute Erziehung genossen hatte.

Der Amerikaner beobachtete ihn mit wachsender Aufmerksamkeit. Das Gesicht des Rothaarigen war blaß und erweckte den Eindruck von Liederlichkeit; doch war es ein kluges und lebendiges Gesicht, ein Gesicht, hinter dem wilde Leidenschaftlichkeit verborgen zu sein schien, bereit, jeden Augenblick hervorzubrechen. Seine Kleidung war derb und ungepflegt, doch trug er einen schönen Siegelring an einem seiner langen, schlanken Finger. Sein Name war, wie sich im Laufe der Unterhaltung herausstellte, James Dalroy. Er war der Sohn eines zugrunde gegangenen irischen Gutsbesitzers und arbeitete für ein vielgelesenes Blatt, das ihm in der Seele zuwider war; es hieß »Die elegante Gesellschaft«, und er war Reporter, was der Tätigkeit eines Spions peinlich nahekam.

Ich muß leider sagen, daß »Die elegante Gesellschaft« sich nicht im mindesten für Boulnois' Ideen interessierte, die doch anerkennenswerterweise für Herz und Hirn der »Sonne des Westens« von so großer Bedeutung waren. Dalroy war anscheinend hierher gekommen, um einer Skandalaffäre nachzuschnüffeln, die wahrscheinlich beim Scheidungsgericht enden würde, sich aber augenblicklich zwischen dem Grauen Häuschen und Pendragon Park abspielte.

Sir Claude Champion war den Lesern der »Sonne des Westens« ebenso gut bekannt wie Herr Boulnois oder genauso wie der Papst und der Sieger des letzten Derbys. Doch der Gedanke an eine intime Bekanntschaft der beiden wäre Kidd ebenso unangemessen vorgekommen wie die der zuletzt erwähnten Persönlichkeiten. Er hatte von Sir Claude Champion gehört, daher auch über ihn geschrieben, ja fälschlicherweise sogar vorgegeben, daß er ihn kenne, »als einen der reichsten und berühmtesten von Englands obersten Zehn«; als den großen Sportsmann, der Jacht-Wettfahrten um die Welt veranstaltete; als den großen Weltreisenden, der Bücher über das Himalayagebirge schrieb; als den großen Politiker, der Wählerschaften an sich zu reißen verstünde mit einer ganz neuen Art von Tory-Demokratie und als den großen Kunstamateur in Musik und Literatur, vor allem aber auf dem Gebiete der Schauspielkunst. Sir Claude war wirklich nicht nur in den Augen der Amerikaner eine glänzende Erscheinung. Es lag etwas von dem Glanze eines Renaissancefürsten über dieser allesverschlingenden, mitreißenden Persönlichkeit mit ihrer nicht zu befriedigenden Sucht nach öffentlicher Wirkung. Sir Claude war nicht nur ein großer, sondern auch ein ehrgeiziger Amateur. Er hatte nichts von jener veralteten Frivolität an sich, die in dem Wort Dilettant inbegriffen ist.

Dieses tadellose Falkenprofil mit den leuchtend schwarzen Italieneraugen, das so oft sowohl in der »Eleganten Gesellschaft« wie auch in der »Sonne des Westens« abgebildet gewesen war, erweckte in jedermann den Eindruck eines Menschen, der von Ehrgeiz, einem inneren Feuer oder vielleicht auch einer Krankheit verzehrt wird. Doch, obwohl Kidd gar viel über Sir Claude wußte – eigentlich weit mehr, als wirklich zu wissen war –, so wäre es ihm doch in seinen wildesten Träumen niemals eingefallen, eine so auffällig aristokratische Erscheinung mit dem erst kürzlich ans Tageslicht geförderten Begründer der Katastrophentheorie in Zusammenhang zu bringen oder auch nur zu ahnen, daß Sir Claude Champion und John Boulnois intime Freunde wären. Doch nach Dalroys Bericht war dies tatsächlich der Fall. Die beiden hatten als unzertrennliche Busenfreunde ihre Schuljahre miteinander verbracht, und, obwohl ihre soziale Laufbahn sich sehr verschieden gestaltete – denn Champion war ein großer Gutsbesitzer und beinahe Millionär, während Boulnois ein armer und bisher sogar ganz unbekannter Gelehrter war –, so blieben die beiden doch stets in enger Fühlung miteinander. Boulnois' Häuschen stand sogar unmittelbar vor den Mauern von Pendragon Park.

Doch, ob die beiden Leute auch in Zukunft würden Freunde bleiben können, war eine schwierige und häßliche Frage. Ein oder zwei Jahre zuvor hatte Boulnois eine schöne und erfolgreiche Schauspielerin geheiratet, der er in seiner scheuen und schwerfälligen Art zugetan war. Doch die Nachbarschaft der Besitzung von Claude Champion gab diesem berüchtigten Phantasten Gelegenheit, sich in einer Weise zu benehmen, die peinliches und beschämendes Aufsehen erregen mußte. Sir Claude hatte es zu einer gewissen Vorbildlichkeit darin gebracht, mit allem, was er tat, in die Öffentlichkeit zu dringen, und er schien eine perverse Freude daran zu haben, auch eine Affäre, die ihm keineswegs zur Ehre gereichen konnte, möglichst aufsehenerregend durchzuführen. Unaufhörlich brachten Diener aus Schloß Pendragon Frau Boulnois Buketts ins Haus; Wagen und Automobile hielten immerfort vor dem Grauen Häuschen, um Frau Boulnois abzuholen; ununterbrochen wurden auf dem Schlosse Bälle und Maskenfeste abgehalten, auf denen der Baron mit Frau Boulnois paradierte wie ein Ritter mit der Königin der Liebe und Schönheit auf einem Turnier. Und diesen selben Abend, für den Herr Boulnois Herrn Kidd bestellt hatte, um ihm seine Katastrophentheorie zu erläutern, hatte Sir Claude Champion für eine Freilichtaufführung von »Romeo und Julia« bestimmt, in der er den Romeo spielen sollte mit einer Julia, deren Darstellerin zu nennen unnötig war.

»Ich glaube, es muß unbedingt zu einem Krach kommen«, sagte James Dalroy, stand auf und schüttelte sich. »Der alte Boulnois mag ein einfacher, leicht zu behandelnder Bursche sein, aber dafür ist er wieder schwer von seiner geraden Richtung abzubringen.«

»Er ist ein Mann von tiefem Verstand und Wissen«, sagte Calhoun Kidd mit dem Brustton der Überzeugung.

»Ja«, antwortete Dalroy. »Aber selbst ein Mann von tiefem Verstand und Wissen kann nicht so ein Narr sein. Müssen Sie schon gehen? Ich komme auch in einigen Minuten.«

Doch Calhoun Kidd schritt, sobald er sein Glas Milch mit Soda ausgetrunken hatte, schnell und entschlossen die Straße entlang auf das Graue Häuschen zu, während er den zynischen Informator bei Whisky und Zigarre zurückließ. Das letzte Tageslicht war nun geschwunden; der Himmel, hie und da von einem Stern geziert, war von dunkler, grünlichgrauer Färbung wie Schiefer und nur im Osten etwas heller, eine Vorahnung des aufgehenden Mondes.

Das Graue Häuschen, wie verschanzt in einem Viereck steifer, hoher Dornenhecken, stand so dicht unterhalb der Fichtenbäume und Gitterstangen des Parkes, daß Kidd es erst irrtümlich für das Portiergebäude hielt. Doch, nachdem er den Namen auf dem kleinen hölzernen Gittertor gesehen und nach seiner Taschenuhr festgestellt hatte, daß die ihm von dem »Denker« bestimmte Stunde eben geschlagen habe, trat er durch das Gartentor ein und klopfte an der Eingangstüre des Hauses. Vom Garten aus konnte er sehen, daß das Häuschen zwar immerhin bescheiden, aber doch weit größer und luxuriöser war, als es auf den ersten Blick hin wirkte, und jedenfalls mit einem Portiergebäude gar nichts gemein hatte. Eine Hundehütte und ein Bienenstock standen wie Symbole des alten englischen Landlebens im Vorgärtchen. Der Mond ging hinter ein paar schönen Birnbäumen auf; der Hund kam aus seiner Hütte hervor, sah prüfend drein und bellte nicht; der schlichte, ältlich aussehende Diener, der die Türe öffnete, sprach wenig, doch höflich und würdevoll.

»Herr Boulnois läßt sich entschuldigen, Herr«, sagte er, »doch er war unerwarteterweise gezwungen, das Haus zu verlassen.«

»Aber es war doch verabredet, daß ich um diese Zeit herkommen sollte«, sagte der Journalist mit verärgerter Stimme. »Wissen Sie vielleicht, wohin er gegangen ist?«

»Nach Pendragon Park, Herr«, sagte der Diener mit trauriger Stimme, schon im Begriff, die Türe zu schließen.

Kidd schaute ein wenig erstaunt auf. »Ist er mit Frau . . . mit der übrigen Gesellschaft hingegangen?« fragte er etwas zögernd.

»Nein, Herr«, antwortete der Mann kurz, »er blieb zurück und ging dann später allein fort.« Und damit schloß der Diener plötzlich die Türe, als hätte er ein schlechtes Gewissen.

Der Amerikaner, jenes seltsame Gemisch von Unverschämtheit und Empfindlichkeit, war verärgert. Er hatte das starke Verlangen, sie alle ein wenig aufzurütteln, den Leuten ein bißchen Geschäftsmanieren beizubringen; dem zottigen alten Hund da und diesem grauen alten Diener mit seinem ernsten Gesicht und seiner vorsintflutlichen steifen Hemdbrust, dann diesem schläfrigen alten Mond und vor allem diesem zerstreuten alten Gelehrten, der seine Verabredungen nicht einhielt.

»Wenn er sich so benimmt, geschieht es ihm schon recht, daß ihm seine Frau untreu wird«, sagte Herr Calhoun Kidd. »Aber vielleicht ist er auch hingegangen, um einen Skandal zu machen. In diesem Falle wäre, glaube ich, ein Mann von der ›Sonne des Westens‹ am Platz.«

Und mit dieser Überlegung bog er bei der offenstehenden Parktüre ein und stapfte die lange Fichtenallee entlang, die schnurgerade in das Garteninnere von Pendragon Park führte. Die Bäume standen so schwarz und wohlgeordnet wie die Federn auf einem Leichenwagen empor; am Himmel leuchteten immer noch ein paar Sterne. Kidd assoziierte leichter literarische Zusammenhänge als rein natürliche, und so kam das Wort »Ravenswood« ihm immer wieder in den Sinn. Zum Teil war es die rabenschwarze Farbe der Fichten, zum Teil auch die nicht wiederzugebende Atmosphäre, die Scott in seiner großen Tragödie beinahe wiedergegeben hat: der Hauch von etwas Unbestimmtem, das im achtzehnten Jahrhundert gestorben ist; der Geruch eines feuchten Gartens und zerbrochener Urnen; von geschehenen Untaten, die nicht mehr gutzumachen sind; von einer seltsam unwirklichen, aber darum nicht weniger schmerzvoll traurigen Erinnerung.

Kidd blieb mehr als einmal auf diesem wohlgepflegten, schwarzen Weg, der traurig und kunstvoll zugleich anmutete, erschreckt stehen in der Meinung, Schritte vor sich zu hören. Doch er konnte niemals etwas anderes vor sich erblicken als die beiden düsteren Mauern der Fichtenreihen und den Keil sternerhellten Himmels darüber. Zuerst hielt er es für Einbildung oder eine Täuschung durch den Widerhall der eigenen Schritte. Doch je weiter er vorwärts kam, um so mehr neigte er mit den spärlichen Resten seines gesunden Menschenverstandes zu der Annahme, daß sich wirklich noch andere Füße auf dem Wege fortbewegten. Flüchtig ging ihm der Gedanke an Geister durch den Sinn, und er war erstaunt zu finden, wie schnell er sich das Bild eines der Situation entsprechenden Geistes vorstellen konnte, das kreideweiße Gesicht eines Pierrots mit schwarzen Pflästerchen. Der Scheitelpunkt des dunkelblauen Himmelsdreieckes wurde nun heller und blauer, doch Kidd erkannte nicht gleich, daß dies von den Lichtern des großen Hauses herrührte, dem er sich näherte. Er fühlte nur, wie die Luft immer erstickender wurde, wie das Gefühl der Traurigkeit mehr und mehr durchsetzt erschien von Heimlichkeiten und Gewalttätigkeiten, von – er scheute sich, das Wort zu wählen, und schloß dann, als er das richtige gefunden hatte, mit kurzem Lachen – von der Vorahnung kommender Katastrophen.

Immer weitere Fichten und weitere Gartenpfade glitten an ihm vorbei, bis er plötzlich, wie von einem Zauber gebannt, stehenblieb. Es wäre unnötig zu sagen, daß er zu träumen glaubte; diesmal war er ganz überzeugt davon, in einem Buch zu leben. Denn wir Menschenkinder sind an nicht zueinander stimmende Dinge gewöhnt; das mißtönige Geklapper des Ungereimten ist uns selbstverständlich; es ist eine Melodie, die uns in den Schlaf wiegt. Treffen die zueinander passenden Ereignisse zusammen, so durchzuckt es uns wie der schmerzliche Wohlklang eines vollendeten Akkordes. Es ereignete sich das, was sich an einem solchen Ort in einem längstvergessenen Märchen ereignet hätte.

Über den schwarzen Fichtenwald kam eine nackte Degenklinge geflogen, hellglitzernd im Mondenschein, ein schlankes, funkelndes Rapier, das in diesem alten Park schon manch ungerechtes Duell gefochten haben mochte. Der Degen fiel ziemlich weit vor Kidd mitten auf den Weg nieder und lag dort glitzernd wie eine große Nadel. Kidd lief wie ein Hase und beugte sich nieder, um das Ding zu besehen. Aus der Nähe machte es einen gar prunkvollen Eindruck. Die großen roten Juwelen am Griff waren freilich ein wenig verdächtig, auf der Klinge aber waren andere rote Tropfen, über die kein Zweifel bestehen konnte.

Kidd blickte sich unschlüssig um und sah, daß in der Richtung, aus der das blendende Wurfgeschoß gekommen war, die düstere Fassade der Fichten und Tannenbäume durch einen im rechten Winkel abzweigenden Pfad unterbrochen war; als er dahin einbog, stand er plötzlich dem Herrenhaus gegenüber und genoß die volle Aussicht auf das langgestreckte, hellerleuchtete Gebäude mit einem kleinen Teich und zahlreichen Springbrunnen davor. Doch er sah nicht lange hin, da er anderes, Interessanteres zu sehen bekam. Gerade vor ihm erhob sich eine steile Wiesenwand, die zu einer jener malerischen Überraschungen führte, wie sie in jenem alten, gezierten Gartenbaustil üblich waren. Es war ein kleiner runder Hügel wie ein Riesenmaulwurfshaufen, von drei konzentrischen Rosenhecken umringt, auf dessen höchstem Punkt in der Mitte eine Sonnenuhr stand. Kidd konnte den Uhrzeiger sehen, der sich schwarz gegen den hellen Himmel abhob, ähnlich der Hinterflosse eines Haifisches; das schwache Mondenlicht hing spielend an Stange und Zifferblatt dieser nun müßigen Uhr. Doch einen kurzen Augenblick sah er noch etwas anderes an der Uhr hängen – die Gestalt eines Mannes.

Obwohl er sie nur einen Augenblick lang dort sah, obwohl sie in einem fremdländischen und unwahrscheinlichen Gewande steckte – sie war von Kopf bis zu Fuß in rotes Trikot gekleidet, das stellenweise mit Gold durchwirkt war – wußte Kidd doch sofort, wer der Mann war. Dieses weiße, gen Himmel gerichtete Gesicht mit der römischen Nase, das so unwahrscheinlich jung aussah wie Byron, diese schwarzen, an den Schläfen ein wenig ergrauten Locken – er hatte unzählige Male die Fotografien von Sir Claude Champion gesehen. Die märchenhafte rote Gestalt schwankte einen Augenblick lang an der Sonnenuhr, in der nächsten Sekunde rollte sie die steile Böschung hinab und lag, nur schwach den Arm bewegend, zu Füßen des Amerikaners. Eine grelle, unnatürlich goldfarbene Zeichnung erinnerte Kidd plötzlich an »Romeo und Julia«; natürlich gehörte das rote Trikot zum Theaterstück. Doch längs des steilen Wiesenhanges, den der Mann herabgeglitten war, lief ein anderer roter Streifen – der gehörte nicht zum Theaterstück. Dem Mann war ein Degen in den Leib gerannt worden.

Herr Calhoun Kidd schrie und schrie immer wieder, um Leute herbeizurufen. Wieder schien es ihm, als höre er Schritte von Phantomen, und er fuhr erschreckt auf, als er plötzlich die Gestalt eines anderen Mannes neben sich erblickte. Er kannte den Mann, und doch erschreckte ihn dessen Erscheinen. Der liederliche Jüngling, der sich Dalroy genannt hatte, stand mit schauerlicher Ruhe da. Wenn Boulnois die getroffene Verabredung versäumt hatte, so hatte Dalroy eine geisterhaft anmutende Art, Verabredungen zu halten, die nicht getroffen worden waren. Das Mondlicht verlieh allen Dingen eine seltsame Färbung: Dalroys bleiches Gesicht erschien unter dem roten Haar nicht weiß, sondern blaßgrün.

All diese schauerlichen Eindrücke mögen Kidd zur Entschuldigung gereichen, wenn er gegen alle Vernunft brutal aufbrüllte: »Haben Sie das getan, Sie Teufel?«

James Dalroy lächelte sein unangenehmes Lächeln, doch ehe er sprechen konnte, hatte die gefallene Gestalt schwach den Arm gehoben und deutete nach der Richtung, in die das Schwert gefallen war; dann stöhnte er laut und sagte mit sichtlicher Anstrengung:

»Boulnois . . . Boulnois, sage ich . . . Boulnois hat es getan . . . er war eifersüchtig . . . er war eifersüchtig, ja, das war er . . .«

Kidd beugte den Kopf tief hinab, um besser zu hören, und vernahm noch die schwachen Worte:

»Boulnois . . . mit meinem eigenen Schwert . . . er warf es . . .«

Wieder hob sich die beinahe versagende Hand und deutete nach dem Schwert, dann fiel sie mit einem dumpfen kleinen Schlag steif auf den Boden nieder. In Kidd stieg plötzlich all der scharfe Humor auf, der dem inneren Ernst seiner Rasse die seltsame Würze gibt.

»Schaun Sie«, sagte er scharf und in befehlendem Tone, »Sie müssen einen Arzt holen. Der Mann ist tot.«

»Und einen Priester auch, glaube ich«, sagte Dalroy in seiner zweideutigen Art. »Diese Champions sind alle Papisten.«

Der Amerikaner kniete neben dem Leichnam nieder, befühlte das Herz, bettete den Kopf etwas höher und stellte einige letzte Belebungsversuche an; doch ehe der andere Journalist in Begleitung eines Arztes und eines Priesters zurückkehrte, konnte er ihnen bereits mit Gewißheit sagen, daß sie zu spät gekommen wären.

»Kamen Sie auch zu spät?« fragte der Arzt, ein kräftiger, gutaussehender Mann mit konventionellem Backen- und Schnurrbart, doch mit lebhaften Augen, die Kidd fragend und ein wenig zweifelnd ansahen.

»In gewissem Sinne, ja«, antwortete der Repräsentant der »Sonne« in dem gedehnten Tonfall der Amerikaner. »Ich kam zu spät, um den Mann zu retten, aber ich kam noch zurecht, meine ich, um etwas Wichtiges zu hören. Ich hörte noch, wie der tote Mann seinen Mörder beschuldigte.«

»Und wer war der Mörder?« fragte der Arzt und zog die Stirne in Falten.

»Boulnois«, sagte Calhoun Kidd mit einem leise pfeifenden Geräusch. Der Arzt starrte ihn in düsterem Schweigen an; sein Gesicht rötete sich langsam, aber er widersprach nicht. Dann sagte der Priester, ein Mann von viel kleinerer Gestalt, sanft: »Ich habe gehört, daß Herr Boulnois heute abend nicht zum Fest kommen sollte.«

»Hier wieder«, sagte der Yankee grimmig, »bin ich in der glücklichen Lage, dem alten Lande einige Aufklärungen zu geben. Ja, mein Herr, John Boulnois wollte heute abend zu Hause bleiben; er hatte dort eine richtige Verabredung mit mir. Aber John Boulnois hat es sich inzwischen anders überlegt. John Boulnois verließ plötzlich ganz allein das Haus und ging vor etwa einer Stunde in diesen verfluchten Park. Das hat mir sein Diener gesagt. Ich glaube, damit haben wir einen bestimmten Anhaltspunkt – wie die allwissende Polizei zu sagen pflegt; hat man sie übrigens schon gerufen?«

»Ja«, sagte der Arzt. »Aber sonst haben wir hier noch niemand beunruhigt.«

»Weiß es Frau Boulnois?« fragte James Dalroy; und wieder empfand Kidd das unbegründete Verlangen, ihn auf den leicht gekräuselten Mund zu schlagen.

»Ich habe es ihr nicht mitgeteilt«, sagte der Arzt grob. »Aber da kommt die Polizei.«

Der kleine Priester war in die breite Allee eingebogen und kehrte nun mit dem fortgeschleuderten Schwert zurück, das zu seiner gedrungenen Gestalt lächerlich groß aussah. »Nur noch schnell, bevor die Polizei kommt«, sagte er entschuldigend. »Hat vielleicht jemand ein Licht?«

Der amerikanische Journalist zog eine elektrische Taschenlampe hervor, und der Priester hielt sie dicht über den mittleren Teil der Klinge, die er blinzelnd und mit großer Sorgfalt beschaute. Dann, ohne auch nur einen Blick auf die Spitze oder den Griff des Degens zu werfen, reichte er dem Arzt die Waffe und sagte mit einem kurzen Seufzer:

»Ich fürchte, daß ich hier nicht mehr nötig bin. Gute Nacht, meine Herren.« Er schritt die dunkle Allee hinauf, dem Hause zu, die Hände auf dem Rücken verschränkt und den großen Kopf wie in tiefem Nachdenken zu Boden geneigt.

Die Zurückgebliebenen eilten in der Richtung des Portiergebäudes davon, wo bereits ein Polizeiinspektor in Begleitung zweier Polizisten stand und mit dem Portier verhandelte. Aber der Priester schritt langsamer und immer langsamer im Dunkel der Fichten dahin, bis er plötzlich an der Treppe stehenblieb, die zum Hause hinaufführte. Dies war seine stillschweigende Art, Kenntnis zu nehmen von einer gleichfalls stillschweigend sich ihm nähernden Gestalt; denn ihm entgegen kam ein Wesen, das sogar Calhoun Kidds Vorstellungen von einer lieblichen, aristokratischen Erscheinung aus der Geisterwelt genügt hätte. Es war eine junge Frau in einem Renaissancekleid aus silberfarbener Seide; ihr Gesicht zwischen den zwei langen goldenen Flechten war von so erstaunlicher Blässe, als wäre sie ein altes griechisches Bildnis, aus Gold und Elfenbein geschnitzt. Doch ihre Augen leuchteten hell, und ihre Stimme klang vertrauensvoll, obwohl sie leise sprach.

»Pater Brown?« fragte sie.

»Frau Boulnois?« erwiderte er ernst. Dann sah er sie an und sagte sofort: »Ich sehe, daß Sie von Sir Claude wissen.«

»Woher wissen Sie, daß ich es weiß?« fragte sie ruhig.

Er beantwortete die Frage nicht, sondern stellte eine andere: »Haben Sie Ihren Gatten gesehen?«

»Mein Mann ist zu Hause«, sagte sie. »Er hat nichts mit all dem zu tun.«

Wieder antwortete der Priester nicht, und die Frau näherte sich ihm mit einem seltsam eifrigen Gesichtsausdruck.

»Soll ich Ihnen noch mehr sagen?« fragte sie mit einem beinahe erschreckenden Lächeln. »Ich glaube nicht, daß er es tat, und Sie glauben es auch nicht.«

Pater Brown erwiderte ihren Blick, dann nickte er und wurde noch ernster.

»Pater Brown«, sagte die Dame, »ich werde Ihnen alles sagen, was ich weiß, aber vorerst erbitte ich eine Gefälligkeit von Ihnen. Wollen Sie mir, bitte, sagen, warum Sie nicht wie alle anderen von der Schuld John Boulnois' überzeugt sind? Reden Sie ungeniert; ich . . . ich weiß von den Tratschgeschichten und dem Schein, die gegen ihn sind.«

Pater Brown sah ungemein verlegen drein und fuhr sich mit der Hand über die Stirne. »Zwei Kleinigkeiten«, sagte er. »Zumindest ist die eine Sache sehr trivial und die andere sehr vage. Aber immerhin stimmen sie nicht mit der Annahme überein, daß John Boulnois das Verbrechen begangen haben sollte.«

Er wendete sein einfältiges, rundes Gesicht den Sternen zu und fuhr zerstreut fort: »Ich will zuerst von der vagen Idee sprechen, die nicht zu der Annahme paßt. Ich halte viel von vagen Ideen. Alle jene Dinge, die nicht ›Beweismaterial‹ sind, sind für mich die überzeugendsten. Ich halte eine moralische Unmöglichkeit für die größte, unüberwindlichste Unmöglichkeit. Ich kenne Ihren Gatten nur flüchtig, aber ich halte es für moralisch unmöglich, daß er dieses Verbrechen, dessen man ihn zeiht, begangen hat. Glauben Sie bitte ja nicht, daß ich annehme, Boulnois könnte etwas so Schlechtes nicht tun. Jedermann kann schlecht sein – so schlecht, wie er will. Wir können den Willen zu unserem moralischen Handeln frei lenken; aber wir können gewöhnlich unseren instinktiven Geschmack, wie wir die Dinge tun, nicht ändern. Boulnois könnte einen Mord begehen, aber niemals diesen Mord. Er würde nicht Romeos Schwert aus der romantischen Scheide reißen oder seinen Feind vor der Sonnenuhr wie am Fuße eines Altars erschlagen oder die Leiche auf Rosen betten oder das Schwert in die Fichtenbäume schleudern. Würde Boulnois einen Menschen töten, so täte er es ruhig und mit festem, sicherem Schlag, so wie er jede andere zweifelhafte Sache täte . . ., etwa das zehnte Glas eines schweren Portweins trinken oder einen schlüpfrigen griechischen Dichter lesen. Nein, die romantische Staffage sieht Boulnois nicht gleich. Sie entspricht mehr dem Wesen Champions.«

»Ah!« sagte sie und sah ihn mit Augen an, die wie Diamanten leuchteten.

»Und das Triviale ist folgendes«, sagte Brown, »an dem Schwerte waren Fingerabdrücke. Auf glattem Material, wie Glas oder Stahl, bemerkt man Fingerabdrücke ziemlich lange, nachdem sie gemacht worden sind. Diese waren auf einer glatten Fläche zu finden. Sie waren nämlich ungefähr in der Mitte der Schwertklinge. Ich habe keine Ahnung, wessen Fingerabdrücke es waren, aber warum sollte jemand das Schwert in der Mitte der Klinge gehalten haben? Es war wohl ein langes Schwert, doch Länge ist ein Vorteil im Kampf gegen einen Gegner. Zumindest gegen die meisten Gegner. Gegen alle Gegner eigentlich, mit einer einzigen Ausnahme.«

»Mit einer einzigen Ausnahme!« wiederholte sie.

»Es gibt nur einen Feind«, sagte Pater Brown, »den man leichter mit einem Dolch töten kann als mit einem Schwert.«

»Ich weiß«, sagte die Frau. »Sich selbst.«

Es entstand eine lange Pause, dann sagte der Priester unvermittelt, doch ruhig: »Habe ich also recht? Hat Sir Claude sich selbst getötet?«

»Ja«, sagte sie, und ihr Gesicht war so ruhig, als wäre es aus Marmor. »Ich sah, wie er es tat.«

»Starb er«, fragte Pater Brown, »aus Liebe zu Ihnen?«

Ein sonderbarer Ausdruck huschte über ihr Gesicht, aber es war darin nichts von Bescheidenheit oder Mitleid oder Reue oder sonst irgendeinem Gefühl, das ihr Begleiter erwarten mochte; und ihre Stimme klang plötzlich stark und voll. »Ich glaube nicht«, sagte sie, »daß er sich das geringste aus mir machte. Er haßte meinen Mann.«

»Warum?« fragte der andere und wendete sein rundes Gesicht von den Sternen ab und der Dame zu.

»Er haßte meinen Mann, weil . . . es ist so merkwürdig, ich weiß gar nicht, wie ich es sagen soll . . . weil . . .«

»Ja?« sagte Pater Brown geduldig.

»Weil mein Mann ihn nicht hassen wollte.«

Pater Brown nickte nur und schien noch immer zu lauschen. Er unterschied sich von allen wirklichen und erfundenen Detektiven dadurch, daß er nie vorgab, nicht zu verstehen, wenn er genau verstand.

Frau Boulnois näherte sich ihm mit dem zufriedenen Gesichtsausdruck eines Menschen, der seiner Sache sicher ist. »Mein John«, sagte sie, »ist ein großer Mann. Sir Claude Champion war kein großer Mann; er war ein gefeierter und erfolgreicher Mann. Mein John ist niemals gefeiert worden und hatte niemals Erfolg, und es ist wirklich wahr, daß er auch niemals davon geträumt hat. Er erwartete ebensowenig, durch sein Denken berühmt zu werden wie etwa durch Rauchen. Er ist in all diesen Dingen von einer wundervollen Einfalt. Er ist ein Kind geblieben. Er liebte Champion genauso, wie er ihn als Bub liebhatte, und bewunderte ihn, wie er ein Zauberkunststück bewundert hätte, das in einer Gesellschaft vorgeführt wird. Aber er konnte einfach nicht dazu gebracht werden, auch nur den Gedanken zu fassen, Champion zu beneiden. Und Champion wollte beneidet werden. Er ist darüber verrückt geworden und hat sich umgebracht.«

»Ja«, sagte Pater Brown, »ich glaube, ich fange an zu verstehen.«

»Ja, sehen Sie!« rief sie. »Die ganze Szenerie ist daraufhin eingerichtet worden – es war der Ort und alles genau vorbereitet. Champion logierte John in ein kleines Häuschen unmittelbar vor seinen Toren ein – wie einen Untertanen –, um ihm das Gefühl zu geben, daß sein Leben ein Mißerfolg sei. Aber John hatte dieses Gefühl niemals. Er denkt an derlei Dinge überhaupt nicht, ebensowenig wie ein zerstreuter Löwe. Champion pflegte zu den bei Johns einfacher Lebensweise beschämendsten Stunden oder zu den intimsten Mahlzeiten hereinzuplatzen, entweder mit einem prunkvollen Geschenk oder einer unwahrscheinlichen Ankündigung oder einem märchenhaften Unternehmen, was der Situation den Anschein eines Besuches von Harun al Raschid gab, und John pflegte anzunehmen oder abzulehnen in seiner liebenswürdigen, uninteressierten Art wie ein Schulbub, der mit einem Kameraden einer Meinung ist oder auch nicht. Nach fünf Jahren dieser Lebensweise hatte sich John nicht im geringsten geändert; und Sir Claude war ein Monomane.«

»Und Haman fing an, ihnen zu erzählen«, sagte Pater Brown, »von all den Dingen, mit denen der König ihn geehrt hatte; und er sprach: ›Aber an dem allen habe ich keine Genüge, solange ich sehe den Juden Mardochai am Königstor sitzen.‹«

»Die Krisis kam«, fuhr Frau Boulnois fort, »als ich John dazu brachte, einige seiner Abhandlungen an eine Zeitschrift einzusenden. Man wurde darauf aufmerksam, insbesondere in Amerika, und eine Zeitung wünschte ihn zu interviewen. Als Champion, der beinahe täglich interviewt wurde, von diesen letzten kleinen Brosamen des Erfolges hörte, die seinem Rivalen zugefallen waren, da schnappte das letzte Glied ein, das seinen teuflischen Haß noch zurückhielt. Da fing er an, meiner Liebe und Ehre in jener verrückten Weise Fallen zu legen, die das Getratsch der ganzen Umgebung geworden sind. Sie werden mich wahrscheinlich fragen, warum ich diese aufsehenerregenden Aufmerksamkeiten duldete. Darauf muß ich Ihnen antworten, daß ich sie nicht gut hätte ablehnen können, ohne meinem Mann alles zu erklären; und es gibt gewisse Dinge, welche die Seele nicht tun kann, so wie der Körper nicht fliegen kann. Niemand wäre übrigens imstande gewesen, es meinem Mann zu erklären. Ebensowenig wie man es ihm jetzt erklären könnte. Wenn Sie ihm mit noch so vielen Worten sagen würden: ›Champion will dir deine Frau wegnehmen‹, so hielte er den Scherz vielleicht für ein wenig derb, doch daß es irgend etwas anderes als ein Scherz sein könnte – diese Vorstellung fände keinen Eingang in sein Denkvermögen. Nun, John sollte heute abend kommen und zusehen, wie wir Theater spielten; doch eben, als wir anfangen sollten, sagte er, daß er nicht kommen wolle. Er hatte ein interessantes Buch und eine Zigarre gefunden. Ich erzählte es Sir Claude, und das war sein Todesstoß. Der Monomane wurde plötzlich von Verzweiflung ergriffen. Er rannte sich den Degen in den Leib und schrie, Boulnois habe ihn ermordet. Dort drüben im Garten liegt er nun tot; er ist an der Eifersucht gestorben, Eifersucht hervorzurufen. Und John sitzt im Speisezimmer und liest ein Buch.«

Wieder entstand ein Schweigen, dann sagte der kleine Priester: »Frau Boulnois, Ihre so lebhafte Schilderung hat nur einen schwachen Punkt: Ihr Gatte sitzt nicht im Speisezimmer bei einem Buche. Dieser amerikanische Reporter erzählte mir, daß er bei Ihnen zu Hause war, und daß Ihr Diener ihm gesagt habe, Herr Boulnois sei schließlich doch nach Pendragon Park gegangen.«

Ihre leuchtenden Augen wurden noch größer, und sie starrte ihn an, mehr verwirrt als beunruhigt oder erschreckt. »Ja, was soll denn das bedeuten?« rief sie. »Alle unsere Leute waren außer Haus, sie waren herübergekommen, um die Aufführung zu sehen. Und einen Diener haben wir überhaupt nicht, Gott sei Dank!«

Pater Brown fuhr herum und drehte sich wie ein Kreisel um sich selbst. »Was? Was?« schrie er und schien wie elektrisiert und zu plötzlichem Leben erwacht. »Schauen Sie einmal . . . ja . . . glauben Sie, Ihr Gatte wird mich hören, wenn ich zu ihm hinübergehe?«

»Oh, jetzt dürften unsere Leute schon zurück sein«, sagte sie verwundert.

»Gut, gut!« erwiderte der Priester eifrig und machte sich schleunigst auf den Weg zum Parktor. Unterwegs drehte er sich nochmals um und rief: »Schauen Sie, daß Sie den Yankee erwischen, sonst geht der Ruf ›John Boulnois' Verbrechen‹ morgen in großen Lettern über die ganze Republik.«

»Ach, Sie verstehen doch nicht«, sagte Frau Boulnois. »Das wäre ihm vollständig gleichgültig. Ich glaube, er weiß gar nicht, daß es Amerika wirklich gibt.«

Als Pater Brown das Häuschen mit dem Bienenstock und dem schläfrigen Hund erreicht hatte, öffnete ihm ein kleines, nettes Stubenmädchen die Türe und führte ihn ins Speisezimmer, wo Boulnois neben einer Stehlampe saß und in einem Buch las, genau wie seine Frau es beschrieben hatte. Eine kleine Flasche Wein und ein Glas standen neben ihm auf dem Tisch, und der Priester bemerkte sofort beim Eintreten, daß die Asche von John Boulnois' Zigarre nicht abgefallen, sondern in einem langen Stück unversehrt stehengeblieben war.

»Er sitzt zumindest seit einer halben Stunde hier«, dachte Pater Brown. Tatsächlich sah es so aus, als säße John Boulnois noch so da wie zu der Zeit, da sein Abendessen abgeräumt worden war.

»Lassen Sie sich bitte nicht stören, Herr Boulnois«, sagte der Priester in seiner freundlichen, sachlichen Art. »Ich werde Sie nur einen Augenblick unterbrechen. Ich fürchte, ich störe Sie bei einer wissenschaftlichen Lektüre.«

»Nein«, sagte Boulnois. »Ich habe ›Der blutige Daumen‹ gelesen.« Er sagte es, ohne die Stirne zu runzeln und ohne zu lächeln, und dem Besucher fiel in der ganzen Art und Haltung des Mannes eine gewisse männliche Gleichgültigkeit auf, die seine Frau Größe genannt hatte. Boulnois legte einen grellgelben Band nieder und hatte so wenig das Gefühl einer gewissen Unangemessenheit, daß er nicht einmal einen Scherz darüber machte. John Boulnois war ein großer Mann mit langsamen Bewegungen und einem mächtigen, halb kahlen, halb grauhaarigen Schädel; seine Gesichtszüge waren ein wenig derb und stumpf. Er trug einen schäbigen, sehr unmodernen Frack mit einem kleinen dreieckigen Hemdausschnitt; er hatte diese Kleidung wohl in der Absicht angelegt, seine Frau als Julia spielen zu sehen.

»Ich werde Sie nicht lange vom ›blutigen Daumen‹ oder irgendeiner anderen katastrophalen Angelegenheit abhalten«, sagte Pater Brown lächelnd. »Ich bin nur gekommen, um Sie über das Verbrechen zu befragen, das Sie heute abend begangen haben.«

Boulnois sah ihn ruhig an, doch auf seiner Stirne wurde ein roter Streifen sichtbar: er glich einem Mann, der zum ersten Mal das Gefühl der Verlegenheit entdeckt.

»Ich weiß, es war ein seltsames Verbrechen«, fuhr Pater Brown fort. »Seltsamer vielleicht als Mord – für Sie. Es ist manchmal schwerer, die kleinen Sünden zu beichten als die großen – aber darum eben ist es so wichtig, sie zu beichten. Jeder gesellige Gastgeber begeht Ihr heutiges Verbrechen sechsmal in der Woche; und doch schnürt es Ihnen die Kehle zu wie eine unaussprechliche Verruchtheit.«

»Man hat das Gefühl«, sagte der Gelehrte langsam, »so ein schrecklicher Esel zu sein.«

»Ich weiß«, gab der andere zu, »aber man muß oft wählen zwischen diesem peinlichen Gefühl und der Tatsache, wirklich ein Esel zu sein.«

»Ich kann meine Gefühle nicht so genau analysieren«, fuhr Boulnois schließlich fort; »aber als ich hier in diesem Stuhl saß und dieses Buch las, fühlte ich mich so glücklich wie ein Schulbub an einem Ferientag. Es war Sicherheit, Ewigkeit . . . ich kann es nicht genau erklären . . . die Zigarren lagen in Reichweite . . . die Streichhölzer lagen in Reichweite . . . der ›Daumen‹ mußte noch viermal erscheinen . . . es war nicht nur Friede, es war ein Übermaß. Da läutete diese Glocke, und ich dachte einen entsetzlichen, endlosen Augenblick lang, daß ich von dem Stuhl hier nicht aufstehen könne . . . buchstäblich, physisch nicht aufstehen könne. Dann endlich gelang es mir wie einem, der die Last der Welt auf seinen Schultern trägt, denn ich wußte, daß alle unsere Leute fort waren. Ich öffnete die Eingangstüre, und da stand ein kleiner Mann, bereit, den Mund zum Sprechen und das Notizbuch zum Schreiben zu öffnen. Da erinnerte ich mich jenes amerikanischen Journalisten, den ich vergessen hatte. Er trug das Haar in der Mitte gescheitelt, und ich sage Ihnen, ich hätte einen Mord . . .«

»Ich verstehe«, sagte Pater Brown. »Ich habe ihn gesehen.«

»Ich habe keinen Mord begangen«, fuhr der Lehrer der Katastrophentheorie sanft fort, »nur Meineid. Ich sagte, ich wäre nach Pendragon Park gegangen und machte ihm die Türe vor der Nase zu. Das ist mein Verbrechen, Pater Brown, und ich weiß nicht, was für eine Buße Sie mir auferlegen werden.«

»Ich werde Ihnen keine Buße auferlegen«, sagte der Kirchenmann und raffte mit unverkennbarer Heiterkeit Hut und Schirm zusammen; »nein, ganz im Gegenteil. Ich bin eigens dazu hergekommen, um Sie von einer kleinen Strafe zu befreien, der Sie sonst um dieser kleinen Schuld willen nicht hätten entgehen können.«

»Und was ist denn das für eine kleine Strafe«, fragte Boulnois lächelnd, »der ich so glücklich entwischt bin?«

»Gehängt zu werden«, sagte Pater Brown.

 


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