Gilbert Keith Chesterton
Das Paradies der Diebe
Gilbert Keith Chesterton

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Der Gott des Gongs

Es war an einem jener kalten, leeren Nachmittage zu Anfang des Winters, an denen das Tageslicht eher silberfarben als golden und eher zinnfarben als silbern zu nennen ist. Eine trübselige Stimmung lag über Hunderten von öden Büroräumen und gähnenden Wohnzimmern, und noch trübseliger sah es längs der flachen Küste in Essex aus; die Monotonie erschien hier um so unmenschlicher, als sie in sehr großen Abständen unterbrochen war, bald von einem Laternenpfahl, der noch unzivilisierter aussah als ein Baum, bald von einem Baum, der noch häßlicher aussah als ein Laternenpfahl. Ein wenig Schnee war bis auf einige Streifen wieder weggeschmolzen, und auch diese sahen an Stellen, wo sie vom Frost festgehalten worden waren, eher bleifarben als silberglänzend aus. Es war kein neuer Schnee gefallen, doch ein schmales Band des alten Schnees lief knapp am Uferrand parallel dem schmalen Streifen von Wogenschaum entlang.

Der Ufersaum des Meeres schien trotz seines leuchtend violettblauen Schimmers gefroren zu sein wie die Adern eines erfrorenen Fingers. Meilenweit und meilenweit vor- und rückwärts war keine lebende Seele zu sehen bis auf zwei Fußgänger, die schnellen Schrittes nebeneinander einhergingen, obwohl einer von ihnen weit längere Beine hatte, mit denen er viel weiter ausholen konnte als der andere.

Weder Ort noch Zeit schienen für einen Ferientag sehr geeignet, doch Pater Brown hatte wenige Ferientage und mußte sie nehmen, wann sie eben kamen, auch zog er es immer vor, sie, wenn möglich, in Gesellschaft seines alten Freundes Flambeau, des ehemaligen Verbrechers und ehemaligen Detektivs, zu verbringen. Der Priester hatte sein altes Kirchspiel in Cobhole wieder einmal aufsuchen wollen und wanderte nun nordöstlich die Küste entlang.

Nach etwa einer oder zwei Meilen bemerkten sie, daß das Ufer von da an ausgemauert war und so eine richtige Esplanade bildete; die häßlichen Laternenpfähle wurden zahlreicher und standen näher beieinander, sie waren auch reicher verziert, wenngleich nicht weniger häßlich.

Nach einer weiteren halben Meile wurde Pater Brown durch den Anblick eines kleinen Labyrinthes von blumenleeren Blumentöpfen verwirrt, die mit kurzstieligen, flachen, ganz farblosen Blattpflanzen gefüllt waren und so weniger einer Gartenanlage als einem gewürfelten Pflaster glichen. Pater Brown spürte die Atmosphäre einer gewissen Sorte von Badeorten, die er nicht besonders liebte, und als er etwas weiter auf der Esplanade vor sich hinschaute, sah er etwas, das jeden Zweifel ausschloß. Grau durch die Entfernung, ragte das überdachte Podium eines Musikpavillons wie ein Riesenpilz auf sechs Beinen empor.

»Ich glaube«, sagte Pater Brown, indem er den Rockkragen in die Höhe klappte und seinen Wollschal etwas fester um den Hals zog, »wir nähern uns einer Zufluchtsstätte von Freuden und Vergnügungen aller Art.«

»Ich fürchte«, erwiderte Flambeau, »es werden jetzt nur wenige Leute das Vergnügen haben, hierher ihre Zuflucht zu nehmen. Man hat versucht, diese Orte auch im Winter populär zu machen, aber das ist nirgends gelungen, ausgenommen in Brighton und an einigen wenigen anderen, altrenommierten Orten. Das hier muß Seawood sein, glaube ich – ein Versuch Lord Pooleys; er will zu Weihnachten sizilianische Sänger herkommen lassen, und es geht das Gerücht, daß hier einer der größten Boxkämpfe veranstaltet werden soll. Aber man wird das ganze verfallene Nest ins Meer werfen müssen; es sieht ebenso trübselig aus wie ein verlassener Eisenbahnwaggon.«

Sie waren nun bis an das Orchesterpodium herangekommen, und der Priester sah, den Kopf wie ein Vogel leicht zur Seite geneigt, mit einer ganz merkwürdig berührenden Neugier dazu empor. Es war das konventionelle, geschmacklos-prunkvolle Podium, das man für solche Zwecke zu errichten pflegt; ein abgeflachtes, zum Teil vergoldetes Dach, das wie ein Baldachin auf sechs schlanken Pfeilern aus buntbemaltem Holze ruhte; das Ganze etwa fünf Fuß oberhalb der Esplanade auf einer runden, hölzernen, trommelartigen Tribüne. Aber in dieser Kombination von Schnee und Gold lag etwas Phantastisches und Künstliches zugleich, das sowohl Flambeau wie seinem Freund auffiel, es rief irgendeine Vorstellung in ihnen wach, über die sie sich nicht ganz klarwerden konnten; aber jedenfalls hatte es etwas Kunstvolles und zugleich Fremdartiges an sich.

»Ich weiß schon«, sagte Flambeau endlich. »Es wirkt japanisch. Wie auf jenen japanischen Holzschnitten, wo der Schnee auf den Bergen wie Zucker aussieht und das Gold auf den Pagoden wie das von vergoldetem Lebkuchen. Es sieht ganz wie ein kleiner heidnischer Tempel aus.«

»Ja«, sagte Pater Brown. »Wir wollen uns einmal den Götzen darin ansehen.« Und mit einer Behendigkeit, die man ihm kaum zugetraut hätte, hüpfte er auf die Tribüne hinauf.

»Oh, sehr gut«, rief Flambeau lachend, und im nächsten Augenblick war auch seine Riesengestalt auf der seltsamen Erhöhung zu sehen.

So gering der Höhenunterschied auch war, erweckte er in dieser weiten Ebene doch die Vorstellung, als könnte man von hier aus weiter und immer weiter über Land und Meer sehen. Landeinwärts ging die kleine winterliche Gartenanlage in ein wirres graues Gehölz über, dahinter sah man die langen niedrigen Scheunen und Schuppen eines seltsamen Bauernhauses und dahinter wieder nichts als die weiten Ebenen Ostenglands. Seewärts war weder ein Segel noch sonst irgendein Lebenszeichen zu sehen bis auf ein paar Seemöwen, und sogar diese sahen wie verspätete Schneeflocken aus und schienen mehr zu flattern als zu fliegen.

Flambeau hörte plötzlich hinter sich einen Ausruf und fuhr herum. Das Geräusch schien von tiefer unten zu kommen, als er erwartet hatte, und schien eher an seine Fersen gerichtet worden zu sein als an seinen Kopf. Er streckte sofort die Hand aus, doch konnte er nicht umhin, bei dem, was er sah, in heftiges Lachen auszubrechen. Aus irgendeinem Grund war der Boden unter Pater Browns Füßen gewichen, und der unglückselige kleine Mann war bis auf den Erdboden eingebrochen. Er war gerade so groß oder so klein, daß eben noch sein Kopf aus dem Loch zwischen den gebrochenen Bretterplanken herausguckte wie das Haupt Johannes des Täufers auf dem Becken. Der Kopf zeigte einen verstörten Gesichtsausdruck, wie vielleicht der Johannes des Täufers.

Einen Augenblick später fing er ein wenig zu lachen an. »Das Holz muß verfault sein«, sagte Flambeau; »obwohl es merkwürdig erscheinen mag, daß es mich trägt und gerade Sie an einer schwachen Stelle eingebrochen sind. Kommen Sie, ich will Ihnen heraushelfen.«

Doch der kleine Priester blickte ein wenig neugierig die Ecken und Ränder des Holzes an, das man als verfault bezeichnet hatte, und irgend etwas schien seinen Geist zu bekümmern.

»Kommen Sie«, rief Flambeau ungeduldig, die große, braune Hand immer noch ausgestreckt. »Wollen Sie nicht herauskommen?«

Der Priester hielt einen abgebrochenen Splitter des Holzes zwischen Zeigefinger und Daumen und antwortete nicht gleich. Endlich sagte er nachdenklich: »Ob ich herauskommen will? Eigentlich nein. Ich glaube, ich möchte lieber hineingehen.« Und er tauchte so plötzlich in die Dunkelheit unter dem Holzboden nieder, daß er seinen breitkrempigen kirchlichen Hut herunterstieß, der nun, ohne ein kirchliches Haupt darunter, oben auf den Brettern liegenblieb.

Flambeau blickte nochmals erst landeinwärts, dann seewärts, und wieder konnte er nichts anderes sehen als die Meeresflächen, die ebenso winterlich aussahen wie der Schnee, und Schneeflächen, die dem Meere glichen.

Er hörte ein flüchtiges Geräusch hinter sich und sah den kleinen Priester weit schneller aus dem Loch herauskriechen, als er hineingefallen war. Sein Gesichtsausdruck war nicht mehr verstört, sondern eher entschlossen und – vielleicht nur durch den Widerschein des Schnees – ein wenig blässer als sonst.

»Nun?« fragte sein großer Freund. »Haben Sie den Götzen dieses Tempels gefunden?«

»Nein«, sagte Pater Brown. »Ich habe etwas Wichtigeres gefunden. Das Opfer.«

»Was, zum Teufel, meinen Sie?« rief Flambeau ganz erschrocken.

Pater Brown antwortete nicht. Er starrte mit einer tiefen Furche auf der Stirn in die Landschaft, und plötzlich deutete er auf etwas hin und fragte: »Was ist das dort drüben für ein Haus?«

Der Richtung des Zeigefingers folgend, sah Flambeau jetzt erst die Ecke eines Gebäudes, das näher lag als das Bauernhaus, doch zum größten Teil von einer Baumreihe verdeckt war. Es war kein großes Gebäude und stand ein gutes Stück abseits vom Ufer; doch der Schimmer einer Verzierung daran rief die Vermutung wach, daß es einem ähnlichen Verschönerungszweck in diesem Badeorte diente wie der Musikpavillon, die kleine Gartenanlage und die schwarzen Eisenbänke mit den reichverzierten Rückenlehnen.

Pater Brown sprang von dem Podium des Musikpavillons herunter, sein Freund folgte ihm; und als sie in der angegebenen Richtung weitergingen, wichen die Bäume bald nach rechts und links zurück, und sie erblickten ein kleines, geschmackloses und auffallendes Gebäude – das gewohnte Hotel ähnlicher Badeorte. Beinahe die ganze Front war vergoldet und aus bemaltem Glas, und diese kitschige Art wirkte inmitten dieser grauen Seelandschaft und der grauen Bäume geisterhaft und schwermütig. Die beiden Männer hatten die Empfindung, als dürfe man in einer solchen Gastwirtschaft an Speisen und Getränken nur den Papiermaché-Schinken und den leeren Becher eines Pantomimenspiels erwarten.

Darin jedoch hatten sie, wie es schien, nicht recht. Im Näherkommen sahen sie vor dem Büfett, das augenscheinlich geschlossen war, eine jener eisernen Sitzgelegenheiten mit geschwungenen Rückenlehnen stehen, wie sie auch die Gartenanlage geschmückt hatten; doch war diese Bank hier viel länger als alle anderen. Sie hatte wahrscheinlich den Zweck, daß vor dem Hause sitzende Gäste von dort aus aufs Meer hinausschauen konnten; aber bei einem solchen Wetter war nicht anzunehmen, daß irgend jemand dies auch wirklich täte.

Nichtsdestoweniger stand gerade vor dem äußersten Ende der eisernen Bank ein kleiner runder Wirtstisch und darauf eine kleine Flasche Wein und ein Schüsselchen mit Mandeln und Rosinen. Auf der Bank hinter dem Tisch saß barhaupt ein schwarzhaariger junger Mann und starrte in einem Zustande beinahe erstaunlicher Unbeweglichkeit auf das Meer hinaus.

Doch obwohl er, aus einer Entfernung von vier Ellen gesehen, eine Wachspuppe hätte sein können, sprang er wie ein Stehaufmännchen in die Höhe, als die beiden Ankömmlinge nur mehr drei Ellen weit von ihm waren, und sagte in ehrerbietiger, wenn auch nicht unterwürfiger Art:

»Wollen Sie bitte nähertreten, meine Herren? Meine Leute sind augenblicklich nicht hier, aber ich kann Ihnen selbst eine Kleinigkeit bringen.«

»Danke vielmals«, sagte Flambeau. »Sie sind wahrscheinlich der Besitzer?«

»Ja«, sagte der Mann mit einem kleinen Rückfall in seinen vorherigen Zustand der Unbeweglichkeit. »Meine Kellner sind alle Italiener, wissen Sie, und da habe ich eingesehen, daß sie dabei sein müssen, wenn ihr Landsmann den Schwarzen schlägt, vorausgesetzt, daß er es wirklich fertigbringt. Sie wissen, der große Kampf zwischen Malvoli und dem Neger Ned soll doch heute stattfinden.«

»Ich fürchte, wir haben nicht genug Zeit, um Ihre Gastfreundschaft ernstlich in Anspruch zu nehmen«, sagte Pater Brown. »Aber ich glaube, mein Freund würde gerne ein Glas Sherry trinken, um sich zu erwärmen und auf das Wohl des lateinischen Champions zu trinken.«

Flambeau verstand nicht recht, was für eine Bewandtnis es mit dem Sherry hatte, aber er erhob nicht den mindesten Einspruch. Er sagte nur liebenswürdig: »Oh, danke sehr.«

»Sherry, Herr – ja, gewiß«, sagte der Wirt und wendete sich dem Hotel zu. »Entschuldigen Sie mich, wenn ich Sie einen Augenblick warten lasse. Ich habe Ihnen ja bereits gesagt, meine Leute sind nicht da . . .« Und er ging auf die schwarzen Fenster seines Gasthauses zu, dessen Läden verschlossen waren und in dem kein Licht brannte.

»Oh, es ist gar nicht so wichtig«, fing Flambeau an, doch der Mann drehte sich um und versicherte ihm:

»Ich habe die Schlüssel, und ich finde mich schon im Finstern zurecht.«

»Ich wollte wirklich nicht . . .« fing Pater Brown an.

Da wurde er von einer bellenden, kaum menschlich zu nennenden Stimme unterbrochen, die aus dem Innern des unbewohnten Hauses kam. Sie rief laut, doch unverständlich einen fremden Namen, worauf der Hotelbesitzer sich weit schneller dem Hause näherte, als er es um Flambeaus Sherry willen getan hatte. Wie sich sofort erwies, hatte der Besitzer damals und auch nachher nur die lautere Wahrheit gesprochen, doch sowohl Flambeau wie Pater Brown haben oft versichert, bei all ihren oft sehr wilden Abenteuern noch nie so sehr erschrocken zu sein wie bei dem Klang dieser Menschenfresserstimme, die so plötzlich aus der Stille eines leeren Wirtshauses drang.

»Mein Koch!« beeilte sich der Besitzer zu erklären. »Ich hatte ihn vergessen. Er wird gleich fortgehen. Sherry, mein Herr, nicht wahr?«

Und tatsächlich erschien in der Türöffnung ein großer, weißer Körper mit einer weißen Schürze, wie es sich für einen Koch gehört, doch mit der nicht unbedingt notwendigen Zugabe eines schwarzen Gesichtes. Flambeau hatte oft gehört, daß Neger gute Köche seien. Doch irgendwie vermehrte der Gegensatz zwischen der Farbe des Gesichtes und der Berufskleidung sein Erstaunen darüber, daß der Besitzer dem Ruf des Kochs folgen sollte und nicht der Koch dem des Besitzers. Aber er überlegte, daß Küchenchefs immer anmaßend sind – und außerdem kam der Wirt eben mit dem Sherry zurück, und das war die Hauptsache.

»Ich wundere mich«, sagte Pater Brown, »daß so wenige Leute hier zu sehen sind, wenn dieser berühmte Zweikampf nun doch zustande kommen soll. Wir sind Meilen und Meilen im Umkreis nur einem einzigen Menschen begegnet.«

Der Hotelbesitzer zuckte die Achseln. »Die Leute kommen vom anderen Ende der Stadt, wissen Sie, von der Eisenbahnstation, das ist drei Meilen weit von hier. Sie gehen nur zum Boxkampf und bleiben bloß über Nacht hier. Es ist auch nicht das richtige Wetter, um sich am Strand zu sonnen.«

»Oder hier auf der Bank«, sagte Flambeau und deutete zu dem Tischchen hin.

»Ich muß Umschau halten«, sagte der Mann mit dem unbeweglichen Gesicht. Er war ein stiller, unauffälliger, etwas bleicher Mensch, an dessen schwarzer Kleidung nichts Bemerkenswertes war, nur war die schwarze Krawatte etwas hoch gebunden und mit einer Krawattennadel, die einen grotesken Goldkopf hatte, befestigt. Auch an seinem Gesicht war nichts Ungewöhnliches, bis auf einen gewissen nervösen Tick, die Gewohnheit nämlich, das eine Auge nicht so weit zu öffnen wie das andere, was den Eindruck erweckte, als ob das andere größer oder vielleicht künstlich sei.

Das einsetzende Schweigen wurde von dem Wirt mit der ruhigen Frage unterbrochen: »Wo ungefähr sind Sie auf Ihrem Marsche dem einen Mann begegnet, von dem Sie sprechen?«

»Merkwürdigerweise«, sagte der Priester, »ganz nahe von hier – dort drüben bei dem Musikpavillon.«

Flambeau, der auf der langen eisernen Bank saß, um seinen Sherry auszutrinken, stellte das Glas nieder und erhob sich. Er starrte seinen Freund voll Verwunderung an. Er öffnete den Mund, um zu sprechen, schloß ihn jedoch wieder.

»Merkwürdig«, sagte der schwarzhaarige Mann nachdenklich. »Wie sah er denn aus?«

»Es war ein wenig dunkel, als ich ihn sah«, fing Pater Brown an, »aber er war . . .«

Wie schon gesagt, zeigte es sich, daß der Hotelbesitzer die lautere Wahrheit gesprochen hatte. Seine Angabe, daß der Koch gleich fortgehen würde, stimmte genau; denn dieser trat eben aus dem Hause und stand im Begriff, sich die Handschuhe anzuziehen, während die anderen miteinander sprachen.

Doch diesmal war es eine ganz andere Erscheinung als jene schwarze und weiße Masse, die vorhin einen Augenblick in der Türöffnung aufgetaucht war. Er war geschniegelt und gebügelt und bis zu seinen hervorstehenden Augäpfeln hinauf nach der allerletzten Mode gekleidet. Ein hoher schwarzer Zylinderhut saß auf seinem breiten schwarzen Kopf – ein Hut, den französischer Humor mit acht Spiegeln verglichen hat. Der schwarze Mann glich überhaupt einigermaßen diesem schwarzen Hut. Er war nicht nur ebenfalls schwarz, sondern seine glänzende Haut spiegelte auch das Licht in mindestens acht Reflexwinkeln wider. Es ist unnötig zu sagen, daß er weiße Gamaschen trug und einen weißen Vorstoß an der Innenseite seiner Weste. Die rote Blume in seinem Knopfloch stand herausfordernd in die Höhe, als wäre sie dort plötzlich emporgewachsen. Und in der Art, wie er in der einen Hand den Spazierstock und in der anderen die Zigarette trug, lag eine gewisse Haltung – eine Haltung, die wir nie außer acht lassen dürfen, wenn wir von Rassevorurteilen sprechen: etwas Unschuldiges und zugleich Unverschämtes – der cake-walk.

»Manchmal«, sagte Flambeau ihm nachblickend, »wundert es mich gar nicht, daß man sie lyncht.«

»Ich wundere mich niemals«, antwortete Pater Brown, »über irgendein Werk der Hölle. Aber, wie ich eben sagte«, fuhr er zusammenfassend fort, während der Neger, immer noch mit prahlerischer Gebärde seine gelben Handschuhe anziehend, sich schnell in der Richtung des Kurortes entfernte – eine seltsame Varietéfigur, die sich scharf gegen den grauen, winterlichen Hintergrund abhob – »wie ich eben sagte, ich könnte den Mann nicht sehr genau beschreiben, aber er hatte einen wohlgepflegten, altmodischen Backen- und Schnurrbart, dunkel oder gefärbt, wie man es auf Bildnissen ausländischer Finanziers sieht; um seinen Hals war eine lange purpurrote Binde geschlungen, die beim Gehen im Winde flatterte. Sie war auf eine Weise befestigt, wie Kinderfrauen kleinen Kindern die Schals mit einer Sicherheitsnadel zu befestigen pflegen. Nur trug er«, sagte der Priester, während er gelassen auf das Meer hinausschaute, »keine Sicherheitsnadel.«

Auch der Mann, der auf der langen eisernen Bank saß, sah gelassen auf das Meer hinaus. Jetzt, da er sich wieder ganz in Ruhe befand, bemerkte Flambeau ganz deutlich, daß eines seiner Augen von Natur aus größer war als das andere. Beide standen nun weit offen, und es wollte beinahe scheinen, als würde das linke Auge zusehends größer, während der Mann vor sich hinstarrte.

»Es war vielmehr eine sehr lange Goldnadel, und der Kopf stellte einen geschnitzten Affen dar oder etwas Ähnliches«, fuhr der Priester fort; »sie war auch in merkwürdiger Weise befestigt – der Mann trug einen Zwicker und einen breiten, schwarzen . . .«

Der unbewegliche Mann starrte immer noch auf das Meer hinaus, und die beiden Augen in seinem Kopfe hätten zwei verschiedenen Leuten gehören können. Dann machte er eine Bewegung von blitzartiger Schnelligkeit.

Pater Brown stand vor ihm und wendete ihm den Rücken zu, und der Priester hätte in der Sekunde dieses Aufzuckens tot vornüber fallen können. Flambeau hatte keine Waffe, doch seine großen, braunen Hände ruhten auf dem Ende der langen Eisenbank. Seine Schultern veränderten plötzlich ihre Form, und er schwang das ganze riesige Ding hoch über seinen Kopf, wie ein Scharfrichter das Beil, bevor er es niedersausen läßt. Die Länge der senkrecht hochgehaltenen Bank erweckte die Vorstellung, als hielte er eine eiserne Leiter und lade die Menschen ein, darauf zu den Sternen emporzusteigen. Doch sein langer Schatten in dem beinahe horizontal einfallenden Abendlicht glich einem Riesen, der den Eiffelturm schwingt. Überwältigt vor Schreck beim Anblick dieses Schattens, sprang der Fremde beiseite noch vor dem drohenden Niedersausen des Eisens; dann stürzte er in sein Wirtshaus und ließ den flachen, glitzernden Dolch genau an der Stelle liegen, wo er ihn hatte fallen lassen.

»Wir müssen augenblicklich von hier fort«, rief Flambeau und schleuderte die riesige Bank mit wütender Gleichgültigkeit irgendwohin zu Boden. Dann packte er den Priester beim Arm und rannte mit ihm quer durch einen öde daliegenden Hintergarten, an dessen Ende sich eine geschlossene Gartentür befand. Flambeau stand einen Augenblick lang in wütendem Schweigen gebückt vor dieser Tür, dann sagte er: »Das Tor ist versperrt.«

Bei diesen Worten fiel ein Zweig der hier zum Schmuck gepflanzten Föhrenbäumchen nieder und fegte über die Krempe seines Hutes hin. Dies schreckte ihn unmittelbarer auf als die kleine Detonation, die knapp vorher an sein Ohr gedrungen war. Dann hörte man eine zweite Detonation in der Ferne, und die Tür, die Flambeau zu öffnen versuchte, bebte unter dem Anprall einer Kugel, die im Holze steckenblieb. Wieder wölbten sich Flambeaus Schultern und änderten plötzlich ihre Form. Drei Riegel und ein Schloß brachen im selben Augenblick, und er schoß auf den leeren Pfad hinter dem Tor hinaus, die große Gartentür mit sich reißend, wie Simson die Tore von Gaza trug.

Dann warf er die Tür über die Gartenmauer zurück, eben als ein dritter Schuß eine Handvoll Schnee und Erde hinter seiner Ferse aufwirbelte. Ohne viel Umstände packte er den kleinen Priester, schwang ihn rittlings auf seine Schultern und rannte in der Richtung auf Seawood zu, so schnell ihn seine langen Beine trugen. Erst etwa zwei Meilen weiter setzte er seinen kleinen Begleiter nieder. Es war zwar kein würdevoller Abgang gewesen, trotz dem klassischen Beispiel von Anchises, doch auf Pater Browns Antlitz war nichts als ein breites Grinsen zu sehen.

»Nun«, sagte Flambeau nach einem ungeduldigen Schweigen, währenddem sie in etwas konventionellerer Art durch die äußeren Straßen der Stadt wanderten, wo kein Überfall mehr zu befürchten war, »ich weiß zwar nicht, was das alles bedeuten soll, aber ich meine, ich kann meinen eigenen Augen wohl soweit trauen, um zu wissen, daß Sie dem Mann, den Sie so genau beschrieben haben, niemals begegnet sind.«

»Ich bin ihm gewissermaßen begegnet«, sagte Pater Brown, etwas nervös an seinen Fingern nagend – »ja, wirklich. Auch war es zu dunkel, um ihn genau zu sehen, denn es war unter jenem Musikpavillon. Aber ich fürchte, ich habe ihn doch nicht präzise genug beschrieben, denn sein Zwicker war gebrochen, und die lange goldene Nadel steckte nicht in der roten Krawatte, sondern in seinem Herzen.«

»Und ich nehme an«, sagte der andere mit gesenkter Stimme, »daß dieser Bursche mit dem Glasauge etwas damit zu tun hatte.«

»Ich hatte gehofft, daß er nur entfernt damit zu tun hätte«, antwortete Brown betrübt, »und was ich getan habe, war vielleicht nicht gut. Ich handelte auf Grund eines Impulses. Aber ich fürchte, diese Geschichte hat tiefe und dunkle Wurzeln.«

Sie gingen schweigend noch durch einige Straßen weiter. Man hatte angefangen, in dem blauen Abendlicht die gelben Laternenlichter anzuzünden, und die beiden näherten sich augenscheinlich dem inneren Stadtviertel. An den Mauern waren grellfarbige Plakate angeschlagen, auf denen der Boxkampf zwischen dem Nigger Ned und Malvoli angekündigt war.

»Nun«, sagte Flambeau endlich, »ich habe noch niemals einen Menschen erschlagen, auch nicht in meiner Verbrecherzeit, aber ich kann beinahe verstehen, wie man an einem so trostlosen Ort in Versuchung kommt, es zu tun. Von allen gottverlassenen Kehrichthaufen dieser Welt sind, glaube ich, die herzzerbrechendsten Orte die, welche wie jener Musikpavillon dort ursprünglich für festliche Zwecke bestimmt waren und dann verödet stehen. Ich kann mir vorstellen, wie ein angekränkelter Mann unter dem Eindruck der Einsamkeit und Ironie eines solchen Schauspiels das Gefühl hat, seinen Gegner umbringen zu müssen. Ich erinnere mich, daß ich einmal auf einer Fußtour durch euer wundervolles Hügelland von Surrey – als ich an nichts anderes dachte als an Stechginster und Feldlerchen – plötzlich auf einen weiten, kreisförmig abgegrenzten Platz herauskam, wo sich in weiten stummen Reihen Sitzplätze an Sitzplätze hoch übereinandertürmten, riesengroß wie ein römisches Amphitheater und leer wie ein neuer Briefkasten. Ein Vogel segelte hoch am Himmel darüber hin. Es war der große Wettrennplatz in Epsom. Und ich hatte das Gefühl, als könnte dort kein Mensch je wieder vergnügt sein.«

»Es ist merkwürdig, daß Sie Epsom erwähnen«, sagte der Priester. »Erinnern Sie sich jener Affäre, die man das Sutton-Mysterium nannte, weil zwei verdächtige Männer zufällig in Sutton wohnten – zwei Eiswagen-Männer waren es, glaube ich. Die beiden wurden schließlich freigesprochen. Man hatte einen erwürgten Mann, wie es hieß, auf den Wiesenhügeln jener Gegend gefunden. Tatsächlich aber, wie ich von einem irischen Polizeibeamten, einem meiner Freunde, erfuhr, hatte man ihn unmittelbar am Wettrennplatz gefunden – und zwar, nicht eben sehr sorglich versteckt, sondern einfach hinter einer der unteren Türen, die offengeblieben war.«

»Das ist sonderbar«, gab Flambeau zu. »Aber es bestätigt nur meine Ansicht, daß solche Vergnügungsorte außer der Saison entsetzlich verlassen aussehen, sonst wäre der Mann dort nicht ermordet worden.«

»Ich bin nicht so sehr überzeugt davon, daß er . . .«, fing Brown an und hielt dann plötzlich inne.

»Nicht so überzeugt, daß er ermordet worden ist?« fragte sein Begleiter.

»Nicht so überzeugt, daß er nicht während der Saison ermordet worden ist«, antwortete der Priester schlicht. »Finden Sie nicht auch, Flambeau, daß es mit dieser Einsamkeit so eine merkwürdige Bewandtnis hat? Sind Sie ganz überzeugt davon, daß ein kluger Mörder immer einen wirklich verlassenen Ort sucht? Es kommt doch sehr, sehr selten vor, daß man ganz allein ist. Und darum, je mehr er allein ist, um so eher wird er gesehen. Nein, ich glaube, da muß ein anderer . . . Nun, hier sind wir ja beim Pavillon oder Palast oder wie man das nennt.«

Sie waren auf einen kleinen Platz herausgekommen, der hell erleuchtet war. Das Hauptgebäude strahlte vor Vergoldung und prangte voll Plakaten; zu beiden Seiten der Eingangstür hingen Riesenfotografien von Malvoli und dem Neger Ned.

»Hallo!« schrie Flambeau, als sein kirchlicher Freund zu seiner großen Verwunderung geradewegs die breite Treppe hinaufstapfte. »Ich wußte nicht, daß Boxen Ihre neueste Liebhaberei sei. Wollen Sie dem Kampf beiwohnen?«

»Ich glaube nicht, daß ein Kampf stattfinden wird«, antwortete Pater Brown.

Sie schritten schnell durch Vorräume und innere Räume; sie schritten sogar durch die Halle des Kampfschauplatzes, in der unzählige Sitze aufgeschlagen, Schnüre gespannt und ein Podium errichtet war, und immer noch sah der Kirchenmann weder rechts noch links und hielt nicht eher an, als bis sie zu einem Beamten kamen, der vor einer Tür mit der Aufschrift »Komiteeraum« saß. Dort blieb Brown stehen und verlangte Lord Pooley zu sprechen. Der Diener bemerkte, Seine Lordschaft sei sehr beschäftigt, da der Boxkampf bald beginnen solle, doch Pater Brown fuhr fort, mit einer so unerträglichen Gelassenheit sein Ansuchen immer von neuem zu wiederholen, daß ihr kein Angestellter gewachsen war. In wenigen Augenblicken befand sich der etwas verdutzte Flambeau in Gegenwart eines Herrn, der einem aus dem Zimmer gehenden Mann eben noch einige Weisungen nachschrie: »Seien Sie vorsichtig bezüglich der Schnüre, Sie wissen ja, nach der vierten . . . Ja, und was wollen Sie, wenn ich bitten darf?«

Lord Pooley war ein Gentleman und, wie die meisten von den wenigen, die uns erhalten geblieben sind, geplagt, insbesondere von Geldsorgen. Er war halb grau und halb blond, hatte fiebrige Augen und eine geschwungene, erfrorene Nase.

»Nur ein Wort«, sagte Pater Brown. »Ich bin gekommen, um zu verhüten, daß ein Mann getötet werde.«

Lord Pooley sprang von seinem Stuhl auf, als wäre er von einer Feder in die Höhe geschleudert worden. »Ich will verdammt sein, wenn ich so etwas noch länger dulde!« rief er. »Sie, mit Ihren Komitees und Geistlichen und Bittstellern! Gab es nicht auch früher, als man noch ohne Handschuhe focht, Geistliche? Und jetzt boxt man mit den vorschriftsmäßigen Handschuhen, und es besteht nicht der leiseste Schimmer einer Möglichkeit, daß einer von den beiden Boxern getötet wird!«

»Ich dachte nicht an einen der beiden Boxer«, sagte der kleine Priester.

»Nun, nun!« sagte der Edelmann ein wenig ablehnend, doch belustigt. »Wer denn soll getötet werden? Der Schiedsrichter?«

»Ich weiß nicht, wer getötet werden wird«, erwiderte Pater Brown, nachdenklich vor sich hinstarrend. »Wüßte ichs, so müßte ich Sie nicht hier stören. Ich könnte dem Mann einfach zur Flucht verhelfen. Ich habe nie etwas gegen den Boxkampf gehabt. Aber wie die Sache nun einmal steht, muß ich Sie bitten, ankündigen zu lassen, daß der Kampf für den Augenblick verschoben werden muß.«

»Weiter nichts?« höhnte der Mann mit den fieberglänzenden Augen. »Und was halten Sie von den zweitausend Menschen, die hergekommen sind, um dem Kampf beizuwohnen?«

»Ich sage, daß eintausendneunhundertneunundneunzig von ihnen lebend davonkommen werden, wenn sie dem Kampf beigewohnt haben werden«, sagte Pater Brown.

Lord Pooley sah Flambeau an. »Ist Ihr Freund verrückt?« fragte er.

»Ganz gewiß nicht«, lautete die Antwort.

»Und schauen Sie einmal«, fuhr Lord Pooley in seiner zerfahrenen Art fort, »was noch schlimmer ist, es ist da eine ganze Bande von Italienern aufgetaucht, die auf Seiten Malvolis stehen – schwarze, wilde Kerle aus irgendeinem fremden Land. Sie wissen ja, wie diese Mittelmeervölker sind. Wenn ich die Nachricht hinausschicke, daß der Kampf verschoben werde, so wird dieser Malvoli an der Spitze seines ganzen korsikanischen Klans hier hereinstürmen.«

»Mein Lord, es ist eine Frage von Tod und Leben«, sagte der Priester. »Läuten Sie bitte. Lassen Sie Ihre Nachricht verkünden. Und sehen Sie dann zu, ob Malvoli erscheinen wird.«

Der Edelmann läutete mit einem merkwürdigen Ausdruck der Neugier an der Tischglocke. Er sagte zu dem Diener, der beinahe im selben Augenblick in der Türöffnung erschien: »Ich werde den Zuschauern draußen bald eine wichtige Mitteilung zu machen haben. Wollen Sie, bitte, inzwischen den beiden Champions sagen, daß der Kampf verschoben werden muß.«

Der Diener starrte den Sprecher einen Augenblick lang wie einen bösen Geist an und verschwand dann.

»Was für Beweise haben Sie für das, was Sie sagen?« fragte Lord Pooley plötzlich. »Von wem haben Sie Ihre Informationen?«

»Von einem Musikpavillon«, sagte Pater Brown und kratzte sich den Kopf. »Aber nein, das ist falsch; ich habe sie auch aus einem Buch. Das habe ich in London in einem Buchladen gefunden – sehr billig, wirklich.«

Er hatte ein kleines Lederbändchen aus der Tasche gezogen, und Flambeau, der über seine Schultern blickte, konnte sehen, daß es eine alte Reisebeschreibung war und daß die Ecke eines Blattes als Merkzeichen umgebogen war.

»›Die einzige Form, in der Voodoo . . .‹«, fing Pater Brown an, laut vorzulesen.

»In der was?« fragte Seine Lordschaft.

»In der Voodoo«, wiederholte der Leser beinahe mit Erleichterung, »außerhalb Jamaikas weitere Verbreitung findet, ist die Form des Affen oder des Gottes des Gongs, die in vielen Teilen der beiden amerikanischen Kontinente Macht und Verehrung genießt, insbesondere unter den Halbblütigen, von denen viele wie Weiße aussehen. Diese Form der Teufelsanbetung und Menschenopferung unterscheidet sich von vielen anderen durch die Tatsache, daß das Blut nicht öffentlich auf dem Altar vergossen wird, sondern durch eine Art Ermordung einzelner in einer Menschenmenge. Der Gong wird mit betäubendem Lärm geschlagen, während die Türen des Schreins geöffnet werden und der Affengott enthüllt wird; beinahe die ganze Versammlung starrt mit ekstatischen Blicken darauf. Doch nachher . . .«

Die Türe des Zimmers wurde aufgerissen, und der fashionabel gekleidete Neger stand im Rahmen der Öffnung, mit rollenden Augen, den Zylinderhut immer noch unverschämt auf den Kopf gestülpt. »Ho!« brüllte er, die Zähne entblößend. »Was soll das? Huh! Huh! Sie stehlen einem Schwarzen den Preis – Preis ist es schon – Sie glauben, Sie können den italienischen Lumpen retten . . .«

»Die Sache wird ja nur verschoben«, sagte der Edelmann ruhig. »Ich werde Ihnen alles in einigen Minuten erklären können.«

»Wer sind Sie, daß . . .«, schrie der Neger Ned jetzt und fing an, in Wut zu geraten.

»Mein Name ist Pooley«, erwiderte der andere mit anerkennenswerter Gelassenheit. »Ich bin der Sekretär der Veranstaltung, und ich rate Ihnen, sofort das Zimmer zu verlassen.«

»Wer der Kerl?« fragte der schwarze Champion und deutete verächtlich auf den Priester.

»Mein Name ist Brown«, lautete die Antwort. »Und ich rate Ihnen, sofort das Land zu verlassen.«

Der Boxkämpfer stand einige Augenblicke still und starrte ihn an, dann, zum höchsten Erstaunen Flambeaus und der anderen, schritt er hinaus und schlug die Türe krachend hinter sich zu.

»Nun«, fragte Pater Brown und fuhr mit der Hand über sein verstaubtes Haar, »was halten Sie von Leonardo da Vinci? Schöner italienischer Kopf, nicht?«

»Schauen Sie«, sagte Lord Pooley, »ich habe auf Ihr bloßes Wort hin eine ziemliche Verantwortung auf mich genommen. Ich meine, Sie sollten mir jetzt mehr hierüber erzählen.«

»Sie haben ganz recht, mein Lord«, antwortete Brown. »Und es wird keine lange Geschichte werden.« Er steckte das kleine Lederbändchen in die Tasche seines Überrockes. »Ich glaube, wir wissen alles, was hieraus zu entnehmen ist, aber Sie sollen selbst sehen, ob ich recht habe. Dieser Neger, der eben hier hinausschwankte, ist einer der gefährlichsten Menschen von der ganzen Welt, denn er hat den Verstand eines Europäers zusammen mit dem Instinkt eines Kannibalen. Er hat das, was unter seinen barbarischen Genossen reines, gesundes Schlächterhandwerk war, zu einer ganz modernen, wissenschaftlichen und geheimen Gesellschaft von Mördern gemacht. Er weiß nicht, daß ich es weiß, auch nicht, daß ich es beweisen kann.«

Es entstand ein Schweigen, dann fuhr der kleine Mann fort:

»Doch, wenn ich einen Menschen ermorden wollte, wäre es da wirklich der klügste Plan, mich soweit wie möglich zu vergewissern, daß ich mit ihm allein bin?«

Lord Pooley maß den Geistlichen wieder mit ablehnenden Blicken und sagte nur: »Wenn Sie wirklich jemanden ermorden wollten, so würde ich Ihnen dies wohl empfehlen.«

Pater Brown schüttelte den Kopf wie ein Mörder von weit größerer Erfahrung. »Das hat Flambeau auch gesagt«, antwortete er seufzend. »Aber überlegen Sie doch nur einmal. Je einsamer sich ein Mensch fühlt, um so weniger sicher ist er, allein zu sein. Das müßte weite, leere Ebenen rings um ihn bedeuten, und eben das würde ihn so leicht sichtbar machen. Haben Sie noch nie von der Höhe eines Hügels aus einen einzelnen Bauern auf einem Acker pflügen sehen oder vom Tale aus einen einsamen Hirten beobachtet? Sind Sie nie auf einer Klippe gestanden und haben einen einzelnen Menschen die Küste entlang wandern sehen? Hätten Sie es nicht bemerkt, wenn er eine Krabbe getötet hätte? Nein! Nein! Nein! Ein kluger Mörder, wie etwa Sie oder ich, würde die Sache nie so anpacken, daß er sich zu vergewissern suchte, ob ihn niemand sähe.«

»Wie denn kann man es anstellen?«

»Es gibt nur eines«, sagte der Priester. »Sich zu vergewissern, daß alle Leute auf etwas anderes hinschauen. Ein Mann wurde am Wettrennplatz in Epsom erdrosselt. Jeder hätte es sehen können, wenn der Platz leer gewesen wäre – jeder Fußgänger hinter der Hecke, jeder Automobilist auf den Hügeln. Aber niemand hatte es gesehen, als der Platz von Menschen voll war und alle schrien und schauten, weil der Favorit als erster durchs Ziel kam – oder auch nicht. Ein Halstuch zuziehen oder einen Körper hinter eine Türe schleudern, das kann in einem Augenblick geschehen wenn es nur der richtige Augenblick ist. Es war natürlich dasselbe«, fuhr er, zu Flambeau gewendet, fort, »mit jenem armen Kerl unter dem Musikpavillon. Man hatte ihn durch das Loch fallen lassen, denn das war keine zufällig eingebrochene Stelle, gerade an irgendeinem dramatischen Höhepunkt der Unterhaltung, beim ersten Bogenstrich eines berühmten Violinkünstlers, oder beim ersten Ton einer großen Sängerin. Und hier natürlich, wenn der Knock-out-Schlag gekommen wäre – wäre es nicht der einzige gewesen. Das ist der kleine Trick, den Neger Ned von seinem alten Gott des Gongs gelernt hat.«

»Bei der Gelegenheit, Malvoli . . .«, begann Pooley.

»Malvoli«, sagte der Priester, »hat nichts damit zu tun. Es ist wohl wahr, daß er einige Italiener hinter sich hat, doch unsere lieben Freunde sind nicht Italiener. Sie sind Mischlinge, afrikanisches Halbblut verschiedenster Nuancen; doch ich fürchte, wir Engländer halten alle Ausländer, insofern sie schwarz und schmutzig sind, für ein und dasselbe.« Und mit einem Lächeln fügte er hinzu: »Ich fürchte sogar, die Engländer lehnen es auch ab, irgendwelche feineren Unterscheidungen zu machen zwischen dem moralischen Charakter, den meine Religion schafft, und jenem, der aus Voodoo erblüht.«

 

Die Frühjahrssaison hatte ihre ganze Pracht über Seawood ausgeschüttet, das Ufer mit Menschen und Badekarren bestreut, mit Wanderpredigern und Negerkapellen, bevor unsere beiden Freunde den Ort wiedersahen und lange bevor die Verfolgungsjagd gegen die seltsame, geheime Gesellschaft zur Ruhe gekommen war. Beinahe überall ging das Geheimnis ihrer Absicht mit ihnen selbst zugrunde. Der Besitzer des Hotels war tot an die Küste gespült worden wie ein Klumpen Seegras; sein rechtes Auge war friedlich geschlossen, doch das linke stand weit offen und glitzerte wie Glas im Mondenschein. Neger Ned war eine oder zwei Meilen weit entfernt eingeholt worden, hatte mit der linken Faust drei Polizeibeamte erschlagen, und der Neger war auf diese Weise entkommen. Aber das genügte, um alle englischen Zeitungen in Bewegung zu setzen, und einen oder zwei Monate lang widmete die englische Regierung beinahe ausschließlich ihre ganze Kraft dem Bestreben, den Neger-Leithammel – was er in des Wortes zwiefacher Bedeutung war – an seinem Entkommen aus einem englischen Hafen zu hindern. Alle Leute, die ihm an Gestalt nur im entferntesten glichen, wurden zu ganz ungewöhnlichen Untersuchungen herangezogen, sie mußten sich das Gesicht abreiben lassen, bevor man sie an Deck eines Schiffes ließ, als ob alle weißen Gesichter wie Masken geschminkt wären. Jeder Neger in England erhielt bestimmte Verhaltungsmaßregeln und mußte sich melden; die auslaufenden Schiffe hätten eher einen Basilisken an Bord genommen als einen Neger. Denn man hatte herausgefunden, wie entsetzlich, wie weitverbreitet und verborgen die Macht der wilden, geheimen Gesellschaft war, und um die Zeit, da Flambeau und Pater Brown in der warmen Aprilsonne ans Geländer der Promenade gelehnt standen, hatte der »schwarze Mann« in England beinahe dieselbe Bedeutung bekommen wie einst in Schottland.

»Er muß immer noch in England sein«, bemerkte Flambeau, »und verteufelt gut versteckt. Man hätte ihn in einem Hafen finden müssen, wenn er nur sein Gesicht weiß angemalt hätte.«

»Ja, sehen Sie, er ist eben ein wirklich kluger Mann«, sagte Pater Brown entschuldigend. »Und ich bin ganz überzeugt davon, daß er sein Gesicht niemals weiß anstreichen würde.«

»Aber was könnte er denn sonst machen?«

»Ich glaube«, sagte Pater Brown, »er würde sein Gesicht schwärzen.«

Flambeau stand regungslos ans Geländer gelehnt da und lachte.

Pater Brown lehnte auch regungslos am Geländer, hob einen Augenblick den Finger und deutete in die Richtung der maskierten Negersänger mit rußgeschwärzten Gesichtern, die am Ufer eine Vorstellung gaben.

 


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