Gilbert Keith Chesterton
Das Paradies der Diebe
Gilbert Keith Chesterton

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Der Kopf Cäsars

Irgendwo in Brompton oder Kensington draußen gibt es eine unendlich lange Straße von hohen, stattlichen, doch größtenteils leeren Häusern, die wie eine Reihe von Grabmälern aussieht. Sogar die Stufen, die zu den dunklen Eingangstüren hinaufführen, gleichen den Stufen an den Seiten der Pyramiden; und man zögert, an eine dieser Türen zu klopfen, aus Angst, sie würde von einer Mumie geöffnet. Doch einen noch deprimierenderen Anblick bietet die teleskopische Länge und abwechslungslose Kontinuität dieser grauen Fassaden. Der Pilger, der diese Straße hinabwandert, fängt an zu glauben, er würde nie mehr zu einer Unterbrechung oder einer Ecke gelangen. Doch eine Ausnahme gibt es – eine sehr kleine, doch begrüßt sie der Pilger beinahe mit einem Freudenschrei. Zwischen zweien dieser hohen Gebäude befindet sich eine Art Käfig, eine bloße Spalte, wie eine Türritze im Vergleich zur Straße, doch eben groß genug, um in diesem Winkel ein winziges Bierhaus oder Wirtshaus unterzubringen, das die Reichen gerade noch ihren Stallburschen gestatten. Sogar das schmutzige Aussehen der Schenke hat etwas Fröhliches an sich, und gerade in ihrer Unscheinbarkeit liegt etwas Freies, Zauberhaftes. Zu Füßen jener grauen Steinriesen sieht die Schenke wie ein hellerleuchtetes Zwergenhäuschen aus.

Irgendein hier Vorübergehender hätte an einem gewissen Herbstabend – der selbst schon etwas Märchenhaftes an sich hatte – bemerken können, wie eine Hand den roten kleinen Vorhang hinter dem Fenster beiseite schob – der zusammen mit den weißen Buchstaben einer Aufschrift das Innere des Raumes gegen die Straße zu halb verbarg – und ein Gesicht hervorguckte, nicht unähnlich dem eines unschuldigen Kobolds. Tatsächlich aber war es das Gesicht eines Mannes mit dem harmlos menschlichen Namen Brown, ehemals Priester von Cobhole in Essex und jetzt in London tätig. Sein Freund Flambeau, ein halboffizieller Detektiv, saß ihm gegenüber und war damit beschäftigt, die letzten Notizen über einen Fall aufzuzeichnen, den er in der Umgebung aufgeklärt hatte. Die beiden saßen an einem kleinen Tischchen, ganz nahe dem Fenster, als der Priester den Vorhang beiseite schob und hinausschaute. Er wartete, bis ein Fremder auf der Straße draußen am Fenster vorbeigegangen war, um den Vorhang dann wieder an seine frühere Stelle zurückfallen zu lassen. Hierauf rollten seine runden Äuglein zu der weißen Aufschrift des Fensters oberhalb seines Kopfes hinauf und schweiften dann zum Nebentisch hinüber, an dem ein Matrose bei Bier und Käse saß und ein rothaariges junges Mädchen vor einem Glas Milch. Dann, als er sah, daß sein Freund das Notizbuch einsteckte, sagte er sanft:

»Wenn Sie zehn Minuten Zeit hätten, möchte ich Sie bitten, jenem Mann da mit der falschen Nase nachzugehen.«

Flambeau sah voll Verwunderung auf; aber auch das Mädchen mit dem roten Haar sah auf, und zwar mit einem Gesichtsausdruck, der ein gewöhnliches Erstaunen weit übertraf. Sie war einfach, ja beinahe nachlässig gekleidet; sie trug einen braunen Leinenkittel; doch war sie eine Dame, und auf den zweiten Blick hin sogar eine unnötig hochmütige Dame.

»Ein Mann mit einer falschen Nase?« fragte Flambeau. »Wer ist das?«

»Ich habe keine Ahnung«, antwortete Pater Brown. »Ich möchte eben, daß Sie es herausfinden; ich bitte Sie darum. Er ist dort hinuntergegangen«, und dabei deutete der Priester mit einer seiner undefinierbaren Bewegungen mit dem Daumen über seine Schulter hin – »und er kann noch keine drei Laternenpfähle weit gekommen sein. Ich möchte nur die Richtung wissen.«

Flambeau starrte seinen Freund eine Weile lang mit halb erstauntem und halb belustigtem Ausdruck an, dann stand er vom Tische auf, zwängte seine riesige Gestalt durch die kleine Türe der Zwergenherberge und verschwand im Dämmerlicht.

Pater Brown zog ein kleines Büchlein aus der Tasche und fing aufmerksam zu lesen an; nicht durch die leiseste Bewegung verriet er sein Gewahrwerden der Tatsache, daß die rothaarige Dame ihren Tisch verlassen und sich ihm gegenüber niedergesetzt hatte. Endlich beugte sie sich vor und sagte mit leiser, doch klarer Stimme: »Warum sagen Sie das? Woher wissen Sie, daß sie falsch ist?«

Brown hob seine etwas schweren Augenlider, die in nicht geringer Verlegenheit zitterten. Dann streiften seine zweifelnden Blicke wieder die weiße Aufschrift auf dem Fenster des Wirtshauses. Die Blicke des jungen Mädchens folgten ihm und ruhten dort in völligem Unverständnis.

»Nein«, sagte Pater Brown in Beantwortung ihrer Gedanken. »Es heißt nicht ›SELA‹ wie in den Psalmen. Ich habe es vorhin in der Zerstreutheit selbst erst so gelesen; es ist englisch und heißt einfach ›ALES‹, Bier.«

»Nun und?« fragte die verwunderte Dame. »Was hat das für eine Bedeutung, was es heißt?«

Seine herumirrenden Blicke trafen auf die Manschetten ihrer Ärmel, die mit einer schmalen Spitzenkante ihre Handgelenke umschlossen, eben genug, um das Gewand von dem Arbeitskittel einer Frau aus dem Volke zu unterscheiden und es eher zu dem Arbeitskittel einer Malerin zu stempeln. Der Priester schien darin reichliche Nahrung für seine Gedanken zu finden, doch seine Antwort kam sehr langsam und zögernd: »Ja, sehen Sie, Madame«, sagte er, »von draußen sieht das Lokal – nun, es ist ja sicherlich ein ganz anständiges Lokal – aber Damen wie Sie halten es – halten es gewöhnlich nicht dafür. Sie gehen niemals freiwillig in solche Lokale, ausgenommen . . .«

»Nun?« fragte sie.

»Ausgenommen einige wenige Unglückliche, die nicht hineingehen, um dort Milch zu trinken.«

»Sie sind ein sehr merkwürdiger Mensch«, sagte die junge Dame. »Was bezwecken Sie eigentlich mit all dem?«

»Nichts, worüber Sie sich Sorgen machen sollten«, erwiderte er sehr freundlich. »Ich möchte mich nur mit einigem Wissen wappnen, um Ihnen helfen zu können, wenn Sie mich jemals aus freiem Willen bitten sollten, Ihnen behilflich zu sein.«

»Aber warum sollte ich der Hilfe bedürfen?«

Er fuhr in seinem träumerischen Monologe fort. »Sie konnten nicht gut hereingekommen sein, um ›protégées‹ zu besuchen, bescheidene Freunde aus einer niedrigeren Gesellschaftsklasse oder dergleichen, sonst wären Sie ins Wohnzimmer hineingegangen . . . und Sie konnten nicht hereingekommen sein, weil Sie sich unwohl fühlten, sonst hätten Sie mit der Wirtin gesprochen, die offenbar eine sehr anständige Frau ist . . . außerdem sehen Sie auch nicht im gewöhnlichen Sinne unwohl aus, Sie sehen nur unglücklich aus . . . Diese Straße ist die einzige ursprünglich lange Straße, die keine Nebengassen hat, und die Häuser zu beiden Seiten sind verschlossen . . . Ich konnte nur vermuten, daß Sie jemand kommen gesehen haben, dem Sie nicht begegnen wollten, und darum in diesem Wirtshaus den einzigen Zufluchtsort inmitten dieser Steinwüste erkannten . . . Ich glaube nicht, daß ich mir mehr herausnahm, als einem Fremden zukommt, wenn ich den einzigen Menschen, der kurz darauf vorbeikam, näher ansah . . . Und da ich den Eindruck hatte, daß er einem üblen Typus angehöre . . . während Sie einem guten Typus angehören . . . so hielt ich mich bereit, Ihnen zu helfen, falls er Sie belästigen sollte; das ist alles. Was meinen Freund anbelangt, so wird er bald zurückkommen; und sicherlich kann er nichts herausfinden dadurch, daß er eine Straße wie diese hier hinunterstapft . . . Ich habe das auch gar nicht vermutet.«

»Warum haben Sie ihn dann fortgeschickt?« rief sie und beugte sich in noch brennenderer Neugier vor. Sie hatte eines von jenen stolzen, ungestümen Gesichtern, die häufig bei Rothaarigen zu finden sind, und eine römische Nase, wie Marie Antoinette.

Zum erstenmal sah ihr Pater Brown ruhig und entschlossen in die Augen und sagte: »Weil ich hoffte, Sie würden mit mir sprechen.«

Nun wieder blickte sie ihn eine Weile lang mit erhitztem Gesicht an, in dem ein rötlicher Schimmer von Zorn lag; dann, trotz aller Bemühungen, verrieten Augen und Mundwinkel ihren Sinn für Humor, und sie antwortete beinahe spöttisch: »Nun, wenn Sie auf meine Unterhaltung so erpicht sind, werden Sie vielleicht auch meine Frage beantworten.« Nach einer Pause fügte sie noch hinzu: »Ich hatte die Ehre, Sie zu fragen, warum Sie die Nase jenes Mannes für falsch halten.«

»Das Wachs wird bei solchem Wetter immer ein wenig fleckig«, antwortete Pater Brown ganz schlicht.

»Aber es ist doch eine so krumme Nase«, wendete das rothaarige Mädchen ein.

Der Priester lächelte nun seinerseits. »Ich sage ja nicht, daß es eine Nase ist, die man nur so zum Vergnügen trägt«, gab er zu. »Dieser Mann trägt sie, glaube ich, weil seine wirkliche Nase um so vieles hübscher ist.«

»Aber warum?« fragte sie beharrlich weiter.

»Wie geht doch das Ammenverschen?« bemerkte Brown zerstreut. »›Es war ein krummer Mann, der ging einen krummen Weg . . .‹ Ich glaube, dieser Mann hat eine sehr krumme Straße eingeschlagen – indem er seiner Nase nach ging.«

»Wieso? Was hat er getan?« fragte sie ein wenig unsicher.

»Ich möchte Ihr Vertrauen gewiß nicht um Haaresbreite erzwingen«, sagte Pater Brown sehr ruhig. »Aber ich glaube, Sie könnten mir hierüber viel mehr erzählen als ich Ihnen.«

Das Mädchen erhob sich und stand eine Weile vollkommen still, doch mit geballten Fäusten da; es machte den Eindruck, als wollte sie sich schnell entfernen. Dann öffneten sich ihre zusammengepreßten Hände langsam, und sie setzte sich wieder nieder. »Sie sind ein noch größeres Geheimnis als all die übrigen«, sagte sie verzweifelt; »aber ich habe das Gefühl, als stecke in Ihrem Geheimnis ein Herz.«

»Was wir alle am meisten fürchten«, sagte der Priester mit leiser Stimme, »ist ein Nebel ohne Zentrum. Das ist es, was den Atheismus zum Nachtmahr macht.«

»Ich werde Ihnen alles erzählen«, sagte das rothaarige Mädchen trotzig, »bis auf das eine, warum ich es Ihnen sage; das weiß ich nämlich selbst nicht.«

Sie zupfte an dem fleckigen Tischtuch herum und fuhr dann fort: »Sie sehen aus, als könnten Sie unterscheiden, was kein Snobismus ist und was einer ist. Und wenn ich sage, ich stamme aus einer guten alten Familie, so werden Sie wohl verstehen, daß dies ein wesentlicher Teil meiner Geschichte ist. In der Tat liegt für mich die größte Gefahr in der hohen und harten Meinung, die mein Bruder in bezug auf ›noblesse oblige‹ und derlei Dinge hat. Nun, mein Name ist Christabel Carstairs, und mein Vater war der Oberst Carstairs, von dem Sie sicherlich schon gehört haben, der die berühmte Sammlung römischer Münzen, die Carstairs-Sammlung, zusammengebracht hat. Ich könnte Ihnen meinen Vater nie beschreiben; das beste, was ich sagen könnte und was der Sache am nächsten käme, wäre, daß er selbst einer römischen Münze glich. Er war ebenso schön, ebenso echt, ebenso wertvoll, ebenso metallrein und ebenso veraltet. Er war auf seine Sammlung stolzer als auf seinen Waffenrock – nichts könnte mehr sagen als das. Sein ungewöhnlicher Charakter zeigte sich so recht in seinem Testament. Er hatte zwei Söhne und eine Tochter. Er hatte mit dem einen Sohn, meinem Bruder Giles, einen Streit gehabt und ihn mit einer kleinen Rente nach Australien geschickt. Dann machte er ein Testament und hinterließ die Carstairs-Sammlung mit einer tatsächlich noch geringeren Rente meinem Bruder Arthur. Er meinte es als Belohnung, als die höchste Ehre, die er zu vergeben hatte, in Anerkennung von Arthurs Ehrlichkeit und Rechtschaffenheit und der Auszeichnungen, die er auf der Universität in Cambridge in Mathematik und Nationalökonomie errungen hatte. Mir hinterließ er eigentlich sein ganzes, ziemlich großes Vermögen; und ich bin überzeugt, daß er das als Zeichen von Verachtung meinte.

Darüber hätte sich Arthur wohl beklagen können, werden Sie vielleicht sagen, aber Arthur ist ganz wie mein Vater. Obwohl er in früher Jugend einige Meinungsverschiedenheiten mit ihm hatte – kaum war er im Besitze der Sammlung, so wurde er sofort wie ein heidnischer Priester, der sich einem Tempel weiht. Er vermischte diese römischen Halbpfennig-Stücke mit der Ehre der Carstairs-Familie in genau derselben steifen, abgöttischen Art und Weise, wie es vorher sein Vater getan hatte. Er handelte so, als müßte römisches Geld von allen römischen Tugenden bewacht werden. Er gönnte sich kein Vergnügen; er gab nichts für sich aus; er lebte nur mehr für die Sammlung. Oft nahm er sich nicht einmal mehr die Mühe, zu seinen einfachen Mahlzeiten Toilette zu machen, sondern kramte unter den verschnürten, braunen Papierpäckchen, die niemand anderer berühren durfte, in einem alten, braunen Schlafrock mit Schnur und Quaste herum, so daß er mit dem blassen, schmalen, feingeschnittenen Gesicht wie ein alter, asketischer Mönch aussah. Von Zeit zu Zeit jedoch pflegte er wie ein ausgesprochen fashionabel gekleideter Herr zu erscheinen; aber das geschah immer nur, wenn er zu den Londoner Auktionen oder Antiquitätenhändlern ging, um der Carstairs-Sammlung irgendwelche interessanten Neuerwerbungen hinzuzufügen.

Nun, wenn Sie jemals junge Menschen gekannt haben, werden Sie hoffentlich nicht entsetzt sein, zu hören, daß ich von all dem in einen etwas gedrückten Gemütszustand geriet; in einen Zustand, in dem man zu sagen beginnt, das alles wäre ganz recht und schön mit den alten Römern, aber in vernünftigen Grenzen. Ich bin nicht wie mein Bruder Arthur; ich kann nicht umhin, mich bei Unterhaltungen zu unterhalten. Ich habe eine Menge Romantik und all den Unsinn mitbekommen, vermutlich von der anderen Seite der Familie her, von der ich auch meine roten Haare habe. Der arme Giles war geradeso, und ich glaube, die Atmosphäre der Münzensammlung mag als Entschuldigung für ihn gelten, obwohl er wirkliches Unrecht beging und beinahe eingesperrt wurde. Aber er hatte sich nicht schlechter benommen als ich, wie Sie gleich hören sollen.

Jetzt komme ich nämlich zu dem dummen Teil der Geschichte. Ich glaube, ein so kluger Mann wie Sie kann erraten, was für eine Art von Ereignis eintreten mußte, um das monotone Leben eines unbändigen Mädchens von siebzehn Jahren in einer solchen Lage zu unterbrechen. Aber ich bin von so vielen schrecklichen Dingen erschüttert, daß ich meine eigenen Gefühle kaum mehr verstehe; und ich weiß nicht, ob ich es heute als Flirt verachte oder als das Leid eines gebrochenen Herzens ertrage. Wir wohnten damals in einem kleinen Badeort am Meer in Süd-Wales, und ein pensionierter Kapitän, der einige Häuser weit entfernt wohnte, hatte einen Sohn, der um fünf Jahre älter war als ich; er war mit meinem Bruder Giles befreundet gewesen, bevor dieser nach den Kolonien ging. Sein Name tut nichts zur Sache, aber ich will Ihnen sagen, daß er Philip Hawker hieß, einfach darum, weil ich Ihnen alles sage. Wir pflegten zusammen auf den Garnelenfang zu gehen und sagten und glaubten, daß wir ineinander verliebt wären; zumindest sagte er es bestimmt, und ich glaubte es bestimmt. Wenn ich Ihnen nun noch erzähle, daß er bronzefarbenes, lockiges Haar und ein falkenähnliches, von der Meerluft gleichfalls bronzefarbenes Gesicht hatte, so geschieht dies, wie ich Ihnen versichern kann, nicht um seinetwillen, sondern um der Geschichte willen, denn es war die Ursache eines sehr seltsamen Zusammentreffens.

Eines Sommernachmittags, an dem ich Philip versprochen hatte, mit ihm zum Strand hinunter auf den Garnelenfang zu gehen, wartete ich ein wenig ungeduldig im Wohnzimmer vorne und sah Arthur zu, der mit einigen neuerworbenen Münzenpäckchen herumhantierte und sie langsam, je eines oder zwei auf einmal, in sein dunkles Studierzimmer oder Museum forttrug, das an der Hinterseite des Hauses lag. Sobald ich schließlich die schwere Türe hinter ihm zufallen hörte, ergriff ich schnell mein Fischernetz und wollte eben hinausschlüpfen, als ich sah, daß mein Bruder eine Münze zurückgelassen hatte, die glitzernd auf einer langen Bank vor dem Fenster lag. Es war eine Bronzemünze; und die Farbe zusammen mit der scharfgeschnittenen Linie der römischen Nase und irgend etwas in der Haltung des langen, sehnigen Nackens machten den Kopf Cäsars, der auf der Münze abgebildet war, zu einem wahren Porträt Philip Hawkers. Da erinnerte ich mich plötzlich, daß Giles Philip einmal von einer Münze erzählt hatte, die ihm so ähnlich sähe, und daß Philip sie hatte haben wollen. Vielleicht können Sie sich die närrischen Gedanken vorstellen, die mir zu Kopfe stiegen; ich hatte das Gefühl, als wäre ich im Besitze eines Zaubermittels. Es schien mir, als wäre es eine Art ewiger Bund zwischen Philip und mir, wenn ich nur mit dieser Münze davonlaufen und sie ihm geben könnte; ich empfand tausend solcher Dinge zugleich. Dann wieder gähnte unter mir wie ein ungeheuerlicher Abgrund die entsetzliche Vorstellung dessen, was ich tun wollte. Vor allem der unerträgliche Gedanke, vor dem ich wie vor der Berührung heißen Eisens zurückschreckte, was Arthur davon denken würde: ein Carstairs ein Dieb! Und ein Dieb an dem Schatze der Carstairs! Ich glaubte, mein Bruder könnte mich dafür wie eine Hexe verbrennen lassen. Aber dann wieder verschärfte eben der Gedanke an diese fanatische Grausamkeit meinen alten Haß gegen seine schmierige, alte Antiquitäten-Wichtigtuerei, sowie meine Sehnsucht nach Jugend und Freiheit, die mich vom Meere her zu rufen schienen. Draußen war heller Sonnenschein und Wind, und der gelbe Kopf irgendeines Stechginsterzweiges schlug an das Glas des Fensters. Ich dachte an jenes lebendige, wachsende Gold, das mir von allem Heideland der Welt aus zurief – und dann an jenes tote, matte Gold meines Bruders, an die Bronze, das Kupfer, die in dem Maße, wie das Leben vorbeiging, nur immer staubiger und staubiger wurden. Die Natur und die Carstairs-Sammlung waren einander schließlich in die Haare geraten.

Die Natur ist älter als die Carstairs-Sammlung. Als ich die Straße zum Meer hinunterlief, die Münze in der festgeballten Faust, lastete das ganze römische Reich auf meinen Schultern mitsamt dem ganzen Stammbaum der Carstairs. Nicht nur der alte silberne Löwe brüllte in meinen Ohren, sondern alle Adler Cäsars schienen flügelschlagend und kreischend hinter mir her zu sein.

Und doch schlug mein Herz immer höher und höher; wie ein Papierdrache schwang sich mein Mut empor, bis ich über die weichen, trockenen Sandhügel kam und zu dem flachen, nassen Küstensand hinunter, wo Philip schon, bis über die Knöchel im seichten, glitzernden Wasser, einige hundert Ellen weit draußen im Meer stand. Der Himmel war rot im Schein der untergehenden Sonne, und die weite Fläche seichten Wassers, das eine halbe Meile weit kaum fußtief war, glich einem See rubinroter Flammen. Erst als ich meine Schuhe und Strümpfe heruntergerissen hatte und zu ihm hinausgewatet war – er stand ziemlich weit vom trockenen Land entfernt –, wendete ich mich um und sah zurück. Wir waren ganz allein, umgeben von Meerwasser und nassem Sand, und ich gab ihm den Kopf Cäsars.

In demselben Augenblick durchzuckte mich die Angstvorstellung, daß mich ein Mann weit draußen auf den Sandhügeln angestrengt anstarrte. Im nächsten Augenblick mußte ich wohl wieder das Gefühl gehabt haben, es sei nur die Spannung meiner unvernünftigen Nerven gewesen, denn der Mann war nur ein dunkles Fleckchen in weiter Ferne, und ich konnte eben nur erkennen, daß er, den Kopf leicht zur Seite geneigt, ganz still stand und in die Ferne blickte. Es gab keinen erdenklichen logischen Anhaltspunkt, um zu meinen, daß er nach mir hinschaute; er mochte ein Schiff oder den Sonnenuntergang betrachten oder irgendwelche anderen Leute, die da und dort am Ufer umherschlenderten. Nichtsdestoweniger, woher auch immer die schreckhafte Ahnung mir gekommen sein mochte, sie erwies sich als prophetisch; denn als ich zu ihm hinauf starrte, fing er plötzlich an, weit auszuschreiten, und kam schnurstracks über die weite, nasse Sandfläche auf uns zu. Als er näher und näher kam, bemerkte ich, daß er dunkelhaarig und bärtig war und eine schwarze Brille trug. Er war ärmlich, doch anständig gekleidet, von dem alten schwarzen Zylinderhut an, den er auf dem Kopfe trug, bis zu den starken schwarzen Stiefeln an seinen Füßen. Ungeachtet dieser Stiefel jedoch schritt er geradeswegs ins Wasser, ohne einen Augenblick zu zögern, und kam mit der Unbeirrbarkeit einer abgeschossenen Kugel auf mich zu.

Ich kann Ihnen die Empfindung von Widernatürlichkeit und Wunder nicht schildern, die mich überkam, als er so gelassen die Schranken zwischen Land und Wasser durchbrach. Es war, als wäre er geradeswegs über eine Klippe geschritten und spazierte nun ruhig mitten durch die Luft weiter. Es war, als wäre ein Haus in den Himmel hinaufgeflogen oder der Kopf eines Menschen herabgefallen. Er ließ doch einfach nur seine Schuhe naß werden, aber es hatte den Anschein, als wäre er ein Dämon, der ein Gesetz der Natur mißachtete. Hätte er nur einen Augenblick am Rande des Wassers gezögert, so wäre das Ganze völlig bedeutungslos geworden. Doch so, wie es geschah, schien er so sehr einzig und allein auf mich zu schauen, daß er des Ozeans nicht achtete. Philip stand einige Ellen weiter mit dem Rücken zu mir und beugte sich über sein Netz. Der Fremde kam näher, bis er nur noch zwei Ellen weit von mir entfernt war und das Wasser ihm bis in halbe Kniehöhe reichte. Dann sagte er mit klarer, doch etwas gezierter Betonung: ›Würde es Sie belästigen, eine Münze mit etwas anderer Aufschrift anderweitig zu vergeben?‹

Es war mit einer einzigen Ausnahme eigentlich nichts Abnormes an ihm. Die farbigen Gläser waren nicht wirklich undurchsichtig, sondern aus ganz gewöhnlichem blauem Brillenglas, auch die Augen dahinter waren nicht unbeständig, sondern ruhig auf mich gerichtet. Sein dunkler Bart war nicht besonders lang oder wild; der Mann sah nur so haarig aus, weil der Bart sehr hoch oben im Gesicht angewachsen war, knapp unter den Backenknochen. Die Gesichtsfarbe war weder bleich noch fahl, sondern gerade im Gegenteil eher frisch und jugendlich; doch das eben gab ihm ein weiß und rosenrotes Wachspuppenaussehen, was das Schauerliche an ihm, ich weiß nicht warum, noch vermehrte. Das einzig Seltsame, das man tatsächlich an ihm feststellen konnte, war die Nase, die – im übrigen gut geformt – an der Spitze ein wenig zur Seite gedreht war, als wäre sie im weichen Zustand mit einem Hämmerchen ein wenig zur Seite geklopft worden. Man konnte es kaum eine Verunstaltung nennen, und doch kann ich Ihnen nicht schildern, wie er dadurch für mich zu einem wahren Nachtmahr wurde. Als er so in dem vom Sonnenuntergang rot gefärbten Wasser vor mir stand, erweckte er in mir die Vorstellung eines höllischen Seeungeheuers, das eben brüllend aus einem Meer von Blut aufgestiegen war. Ich weiß nicht, warum die Form einer Nase meine Phantasie so stark erregte. Ich glaube, es schien, als könnte er die Nase wie einen Finger bewegen und als hätte er sie eben in diesem Augenblick bewegt.

›Irgendeine kleine Unterstützung‹, fuhr er mit dem gleichen, merkwürdig affektierten Akzent fort, ›die mich der Notwendigkeit enthebt, Ihrer Familie direkte Mitteilungen zu machen.‹

Da wurde es mir plötzlich klar, daß man einen Erpressungsversuch an mir machte, gegründet auf die Entwendung der Bronzemünze; alle meine abergläubischen Befürchtungen und Zweifel wurden da mit einemmal von der überwältigend praktischen Frage verschlungen: wie konnte er es herausgebracht haben? Ich hatte das Ding, einem plötzlichen Impuls folgend, gestohlen; ich war bestimmt allein gewesen, denn ich vergewisserte mich immer erst der Tatsache, daß ich unbeobachtet war, bevor ich hinausschlüpfte, um Philip zu treffen. Es war mir, allem Anschein nach, auf der Straße niemand gefolgt, und selbst wenn dies geschehen wäre, hätte man mich nicht durchstrahlen können, um die Münze in meiner geschlossenen Faust zu sehen. Der Mann auf den Sandhügeln oben hatte unmöglich erkennen können, was ich Philip gab.

›Philip‹, rief ich hilflos, ›bitte frage diesen Menschen, was er will.‹

Als Philip, nachdem er sein Netz geflickt hatte, endlich den Kopf hob, sah er ziemlich rot aus, als schämte er sich; doch es mochte vielleicht auch die Anstrengung des Bückens oder das rote Abendlicht sein; es mochte vielleicht wieder nur eine meiner krankhaften Einbildungen gewesen sein, die mich zu bedrängen schienen. Er sagte nur grob zu dem Mann: ›Gehen Sie da fort.‹ Dann winkte er mir, ihm zu folgen, und wir machten uns auf, um ans Land zu waten; ohne dem Mann irgendwelche Beachtung zu schenken, folgte Philip einem steinernen Wellenbrecher, der vom Fuß des Sandhügels aus emporlief, und schlug so die Richtung unseres Heimwegs ein. Vielleicht glaubte er auch, daß es unserem bösen Geist nicht so leichtfallen würde wie uns, über diese groben Steine zu gehen, die von Seegras und Algen grün und schlüpfrig waren; denn wir waren jung und daran gewöhnt. Aber mein Verfolger schritt ebenso zierlich dahin, wie er seine Rede zu setzen verstand, und er folgte mir nach, seine Worte und seine Steine richtig wählend. Ich hörte, wie er mir mit seiner zarten, verhaßten Stimme über meine Schulter hin zuredete, bis endlich, sobald wir die Höhe der Sandhügel erreicht hatten, Philips Geduld ganz gegen seine sonstige Gewohnheit riß. Er drehte sich plötzlich um und sagte: ›Gehen Sie zurück! Ich kann jetzt nicht mit Ihnen reden.‹ Und als der Mann zögerte und den Mund auftat, schlug ihn Philip ins Gesicht, daß er vom höchsten Sandhügel bis ganz unten hinunterkollerte. Ich sah, wie er unten hervorkroch, ganz mit Sand bedeckt.

Dieser Schlag erleichterte mich einigermaßen, obwohl er meine Gefahr vergrößern konnte. Doch Philip schien auf seine Heldentat nicht besonders stolz zu sein. Obwohl er ebenso zärtlich war wie immer, schien er doch niedergeschlagen, und bevor ich ihn um eine völlige Aufklärung bitten konnte, verabschiedete er sich vor seiner Türe von mir mit zwei Bemerkungen, die mir als sonderbar auffielen. Er sagte, daß ich – wenn man die Sache richtig erwöge – die Münze eigentlich in die Sammlung zurückgeben müsse, daß er sie aber ›für den Augenblick‹ selbst behalten wolle. Dann fügte er ganz plötzlich und wie nebenbei hinzu: ›Du weißt doch, daß Giles aus Australien zurück ist?‹«

Die Türe der Schenke wurde geöffnet, und der riesenhafte Schatten des Detektivs Flambeau fiel auf den Tisch. Pater Brown stellte ihn der Dame in der ihm eigenen schlichten, überzeugenden Art vor und hob die Geschicklichkeit und das Mitgefühl des anderen für solche Fälle hervor. Beinahe ohne sich dessen genau bewußt zu sein, wiederholte das Mädchen nun seine Geschichte vor den beiden Zuhörern. Doch Flambeau reichte, als er sich verbeugt und niedergesetzt hatte, dem Priester einen kleinen Zettel hin. Brown nahm ihn ein wenig erstaunt in Empfang und las die darauf verzeichneten Worte: »Wagen nach Haus Wagga Wagga, 379 Mafeking Avenue, Putney.« Das Mädchen fuhr in seiner Erzählung fort.

»Während ich die steile Straße zu unserem Hause hinaufging, drehte sich mir alles im Kopfe. Meine Gedanken waren immer noch nicht klar, als ich an die Türschwelle kam, vor der ich eine Milchkanne stehen fand und – den Mann mit der krummen Nase. Die Milchkanne erzählte mir, daß niemand von der Dienerschaft zu Hause sei und mich infolgedessen auch niemand ins Haus einlassen könnte, ausgenommen mein Bruder Arthur, dessen Hilfe mein Ruin wäre. In heller Verzweiflung warf ich dem schrecklichen Wesen zwei Schillinge in die Hand und sagte ihm, er möge in ein paar Tagen wieder vorsprechen, bis ich mir alles ein wenig überlegt hätte. Er ging brummend davon, aber gutwilliger, als ich erwartet hatte – und ich beobachtete mit schrecklich rachsüchtigem Vergnügen, wie sich der sternartige Sandfleck auf seinem Rücken die Straße hinab entfernte. Etwa sechs Häuser weiter bog er um eine Ecke.

Dann ließ ich mir die Türe öffnen, goß mir eine Tasse Tee auf und versuchte, die Sache in Ruhe zu überlegen. Ich saß im Wohnzimmer am Fenster und sah in den Garten hinaus, der noch im letzten Schein der Abendsonne glühte. Doch ich war zu zerstreut und verträumt, um mit einiger Aufmerksamkeit auf die Wiesen und Blumentöpfe und Blumenbeete zu sehen. Darum traf mich der Schock um so unvermittelter, weil ich es erst so spät bemerkte.

Der Mann oder das Ungeheuer, das ich fortgeschickt hatte, stand ganz regungslos mitten im Garten. Oh, wir haben alle eine Menge gelesen über bleichgesichtige Gespenster im Dunkel; aber das war entsetzlicher als alles andere dieser Art, eben weil er noch im warmen Sonnenlicht stand, wenn er auch selbst einen langen Schatten warf, und weil sein Gesicht nicht bleich war, sondern diese wachsfarbene Röte einer Friseurpuppe trug. Er stand ganz regungslos still, das Gesicht mir zugewandt; und ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie entsetzlich er aussah inmitten der Tulpen und all der prunkhaft strahlenden Blumen, die aus Glashäusern zu stammen schienen. Es sah aus, als hätten wir eine Wachsfigur statt einer Statue in der Mitte unseres Gartens aufgestellt.

Doch beinahe im selben Augenblick, als er sah, daß ich mich am Fenster regte, drehte er sich um und lief durch das offenstehende hintere Gartentor hinaus, durch das er zweifellos eingetreten war. Diese plötzliche Schüchternheit seinerseits war so unvereinbar mit der Unentwegtheit, mit der er ins Meerwasser geschritten war, daß ich ein unbestimmtes Gefühl der Beruhigung empfand. Ich dachte, er habe vielleicht größere Angst, Arthur zu begegnen, als ich wüßte. Jedenfalls ließ ich mich endlich in Ruhe nieder, um friedlich meine Abendmahlzeit einzunehmen – denn es war gegen alle Regel, Arthur zu stören, wenn er damit beschäftigt war, das Museum immer und immer wieder umzuräumen –, und meine etwas erleichterten Gedanken flohen zu Philip und verloren sich schließlich in der Ferne. Ich starrte gedankenlos, doch eher vergnügt auf ein anderes Fenster, das zwar durch keinen Vorhang verhängt, doch diesmal schwarz wie eine Schiefertafel war, denn die Nacht war endlich eingefallen. Es schien mir, daß etwas wie eine Schnecke an der Außenseite des Fensters klebte. Doch als ich aufmerksamer hinsah, war es mehr so, als preßte jemand den Daumen gegen die Scheibe. Angst und Mut stiegen zugleich in mir auf; ich stürzte zum Fenster und fuhr mit einem unterdrückten Schrei zurück, den wohl jeder mit Ausnahme meines Bruders Arthur hätte hören müssen.

Es war ebensowenig ein Daumen wie eine Schnecke. Es war die Spitze einer verbogenen Nase, die an die Scheibe gepreßt wurde; die Nase war weiß vom Druck, und das dahinterliegende, hereinstarrende Gesicht mit den Augen war zuerst unsichtbar, dann aber grau, wie das eines Gespenstes. Ich schlug irgendwie die Fensterläden zu, stürzte in mein Zimmer hinauf und sperrte mich ein. Aber selbst im bloßen Vorbeieilen gewahrte ich ein zweites Fenster, und ich hätte schwören können, daß darauf irgend etwas wie eine Schnecke war.

Es mochte vielleicht das klügste sein, trotz allem zu Arthur zu gehen. Wenn dieses Geschöpf wie eine Katze so dicht ums Haus schlich, konnte es schließlich noch schlimmere Absichten haben, als nur zu erpressen. Mein Bruder mochte mich hinauswerfen und für immer verfluchen, aber er war ein Gentleman und würde mich auf der Stelle verteidigen. Nachdem ich zehn Minuten lang überlegt hatte, ging ich hinunter, klopfte an die Türe und trat ein: um den letzten und schrecklichsten Anblick zu erleben.

Der Stuhl meines Bruders war leer, und er selbst war offenbar fort. Doch der Mann mit der verbogenen Nase saß da und wartete auf seine Rückkehr, den Hut immer noch unverschämterweise auf dem Kopf und tatsächlich in einem der Bücher meines Bruders unter der Lampe meines Bruders lesend. Der Ausdruck seines Gesichts war gelassen und beschäftigt, doch seine Nasenspitze erweckte immer noch den Anschein, als sei sie der beweglichste Teil seines Gesichtes, als hätte sie sich eben von rechts nach links gedreht wie der Rüssel eines Elefanten. Ich hatte den Mann entsetzlich genug gefunden, als er mich verfolgte und mir nachspähte, doch dieses Nichtgewahrwerden meiner Anwesenheit war noch erschreckender. Ich glaube, ich habe laut und lang aufgeschrien; aber das tut nichts zur Sache. Was ich dann tat, das zählt: ich gab ihm alles Geld, was ich hatte, einschließlich einer Menge Papiere, die ich – obzwar sie mir gehörten – anzugreifen eigentlich nicht berechtigt war. Der Mann ging endlich fort, mit ekelhaft taktvollen Entschuldigungen in langen Sätzen und Wendungen; und ich setzte mich nieder mit dem Gefühl, in jeder Beziehung ruiniert zu sein. Und doch wurde ich noch in derselben Nacht durch einen bloßen Zufall gerettet. Arthur war plötzlich, wie er dies öfters tat, in Geschäften nach London gereist und kehrte spät, doch strahlend zurück. Er hatte sich einen Schatz, der sogar für die Familiensammlung einen neuen Glanz bedeutete, so gut wie gesichert. Er war so glücklich, daß ich schon Mut fassen wollte, um die Entwendung des weniger wertvollen Stückes zu gestehen. Doch er ließ mit seiner überwältigenden Besessenheit kein anderes Thema aufkommen. Da der Plan der Neuerwerbung immer noch mißlingen konnte, bestand er darauf, ich sollte sofort die Koffer packen und mit ihm nach Fulham übersiedeln, wo er bereits Zimmer gemietet hatte, um in der Nähe des Antiquitätenladens zu sein. So entfloh ich ohne mein Zutun, beinahe mitten in der Nacht, meinem Feinde – doch gleichzeitig auch Philip . . . Mein Bruder ging oft in das South Kensington Museum, und ich belegte, um irgendeine Art Nebenbeschäftigung zu finden, einige Vorlesungen auf der Kunstakademie. Ich kam jetzt eben von dort zurück, und da sah ich dieses lebendige Scheusal der Trostlosigkeit die lange Straße herunterkommen.

Ich habe nur noch eines zu sagen: ich verdiene keine Hilfe, und ich beklage mich nicht, wenn mich verdiente Strafe ereilt; es ist nur gerecht und mußte so kommen. Aber immer noch zerbreche ich mir den Kopf, wie es so hat kommen können. Hat mich die Strafe durch ein Wunder ereilt? Oder wie konnte irgend jemand, ausgenommen Philip oder ich, wissen, daß ich ihm mitten im Meer eine winzige Münze gegeben habe?«

»Das ist ein ungewöhnliches Problem«, gab Flambeau zu.

»Nicht so ungewöhnlich wie die Lösung«, bemerkte Pater Brown ein wenig düster. »Werden Sie zu Hause sein, Fräulein Carstairs, wenn wir Sie in etwa ein und einer halben Stunde in Ihrer Wohnung in Fulham aufsuchen?«

Das Mädchen sah ihn an, erhob sich dann und begann die Handschuhe anzuziehen. »Ja«, sagte sie, »ich werde dort sein«, und sehr eilig verließ sie das Lokal.

Der Detektiv und der Priester besprachen immer noch den Fall, als sie sich am selben Abend dem Hause in Fulham näherten; es war sogar für einen nur vorübergehenden Aufenthalt ein auffallend armseliger Wohnort für die Familie Carstairs.

»Natürlich würde man bei oberflächlicher Betrachtung zuerst an jenen Bruder aus Australien denken, der schon früher einmal in Schwierigkeiten war«, sagte Flambeau, »weil er so unerwartet heimgekommen ist und gerade der Mann wäre, der gemeine Helfershelfer haben könnte. Aber ich kann keine Möglichkeit sehen, wie immer ich die Sache auch betrachte, wie er da hereinkommt, wenn nicht . . .«

»Nun?« fragte sein Begleiter geduldig.

Flambeau senkte die Stimme. »Wenn nicht auch dieser Freund des Mädchens mit drinsteckt, und zwar wäre der noch der größere Schurke. Der Mensch aus Australien wußte, daß Hawker die Münze haben wollte. Aber ich kann nicht begreifen, wie er hätte erfahren können, daß Hawker sie auch tatsächlich bekommen habe, wenn nicht Hawker ihm oder seinem Komplicen über den Strand ein Zeichen gegeben hätte.«

»Das ist wahr«, gab der Priester anerkennend zu.

»Haben Sie eines noch bemerkt?« fuhr Flambeau eifrig fort. »Dieser Hawker hört, daß seine Freundin belästigt und beleidigt wird, aber er schlägt erst zu, als er zu den weichen Sandhügeln gekommen ist, wo er in einem Scheinkampf Sieger bleiben kann. Hätte er inmitten der Felsen im Meer zugeschlagen, so hätte er seinen Verbündeten leicht verletzen können.«

»Auch das ist richtig«, sagte Pater Brown und nickte zustimmend.

»Und dann, wenn man vom Anfang der Sache ausgeht: es kommen nur ein paar Menschen in Betracht, aber doch zumindest drei. Wenn es sich um Selbstmord handelt, genügt ein Mensch: bei einem Mord handelt es sich um zwei, aber für Erpressungen braucht man mindestens drei Personen.«

»Warum?« fragte der Priester sanft.

»Ja, das ist doch klar«, rief der Freund; »es muß einer da sein, der bloßgestellt wird, einer, der die Bloßstellung androht, und einer zumindest, der über die Bloßstellung entsetzt ist.«

Nach einer langen Pause der Überlegung sagte der Priester: »Sie machen einen logischen Fehler. Der Idee nach brauchen Sie drei Personen. Zur Ausführung genügen zwei.«

»Was meinen Sie?« fragte der andere.

»Warum sollte der Erpresser dem Opfer nicht mit sich selbst drohen?« fragte Brown leise. »Nehmen Sie an, daß eine Frau eine wütende Abstinenzlerin wäre und ihren Mann so weit in Angst versetzte, daß er seine Wirtshausbesuche vor ihr verheimlicht; und sie würde ihm dann mit verstellter Schrift Erpressungsbriefe schreiben, in denen sie ihm drohen würde, es seiner Frau zu sagen! Warum sollte das nicht gehen? Nehmen Sie an, ein Vater verbietet seinem Sohn zu spielen und geht ihm dann gut verkleidet nach und droht dem Jungen mit seiner eigenen väterlichen Rechtschaffenheit! Nehmen Sie an . . . aber wir sind am Ziel, mein Lieber.«

»Du lieber Gott!« rief Flambeau, »Sie wollen doch nicht etwa sagen . . .«

Ein lebhafter junger Mann kam die Stufen des Hauses heruntergelaufen und wandte ihnen im goldenen Lichtschein der Laterne den unverkennbaren Kopf zu, welcher der römischen Münze glich. »Fräulein Carstairs wollte das Haus nicht betreten, bevor Sie kämen«, sagte Hawker ohne weitere Förmlichkeiten.

»Nun«, bemerkte Brown vertraulich, »finden Sie nicht auch, daß es das beste ist, was sie tun konnte, einfach draußen zu warten – solange Sie auf sie achtgeben? Sehen Sie, ich vermute, daß Sie schon alles erraten haben.«

»Ja«, sagte der junge Mann leise, »ich habe es schon am Strand vermutet, und jetzt weiß ich es bestimmt; darum habe ich ihn absichtlich weich fallen lassen.«

Flambeau nahm einen Schlüssel aus der Hand des Mädchens und die Münze von Hawker, öffnete die Tür und betrat mit seinem Freund das Haus; sie gingen über den Korridor ins Wohnzimmer. Es war nur ein Mensch darinnen: der Mann, den Pater Brown an dem kleinen Wirtshaus hatte vorbeigehen sehen. Er stand, als gälte es sich zur Wehr zu setzen, gegen die Mauer gelehnt; er hatte den schwarzen Mantel gegen einen braunen Schlafrock vertauscht, sonst war er unverändert.

»Wir sind gekommen«, sagte Pater Brown höflich, »um die Münze ihrem Eigentümer zurückzustellen.« Und er reichte sie dem Manne mit der Nase hin.

Flambeau rollte die Augen. »Ist dieser Mann ein Münzensammler?« fragte er.

»Dieser Mann ist Herr Arthur Carstairs«, sagte der Priester voll Überzeugung, »und er ist ein Münzensammler von etwas seltsamer Art.«

Der Mann erbleichte so furchtbar, daß die krumme Nase wie ein selbständiges und komisches Ding aus seinem Gesicht hervorragte. Trotzdem sprach er mit einer gewissen verzweifelten Würde. »Und doch sollen Sie sehen«, sagte er, »daß ich nicht alle Familieneigenschaften verloren habe.« Dann drehte er sich plötzlich um, eilte in ein anderes Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu.

»Halten Sie ihn auf!« schrie Pater Brown, stolperte und fiel halb über einen Sessel, während Flambeau nach einem oder zwei Rucken die Tür aufstieß. Aber es war zu spät. Flambeau schritt schweigend zum Telefon hinüber, um die Polizei und einen Arzt zu verständigen.

Eine leere Medizinflasche lag auf dem Boden. Über den Tisch gelehnt, lag der Körper des Mannes im braunen Schlafrock inmitten seiner aufgeplatzten, mit braunem Packpapier umwickelten Päckchen, aus denen zwar keine römischen, doch ganz moderne englische Münzen hervorquollen.

Der Priester hob die Bronzemünze mit dem Kopf Cäsars empor und sagte: »Das war alles, was von der Carstairs-Sammlung übriggeblieben war.«

Nach einigem Schweigen fuhr er mit noch größerer Sanftmut als sonst fort: »Das Testament dieses bösen Vaters war eine grausame Sache, und – sehen Sie – der Sohn nahm es nicht gut auf. Er haßte das römische Geld, das er besaß, und sein Verlangen nach wirklichem Geld, das ihm versagt war, wuchs immer mehr. Nicht nur, daß er die Sammlung Stück um Stück verkaufte, sondern er sank auch Schritt um Schritt zu immer niedrigeren Mitteln herab, sich Geld zu verschaffen – ja sogar bis zu Erpressungsversuchen an seiner eigenen Familie, die er in dieser Verkleidung vornahm. Er erpreßte seinen Bruder aus Australien auf Grund jenes kleinen, längst vergessenen Vergehens, darum ist er mit dem Wagen nach dessen Haus in Putney gefahren; er erpreßte seine Schwester auf Grund jenes Diebstahls, den er allein bemerkt haben konnte. Und darum hatte sie – nebenbei gesagt – jene übernatürliche Ahnung, als er dort oben auf dem Sandhügel stand. Gestalt und Haltung bloß, selbst aus der Entfernung, erinnern uns eher an eine bestimmte Person als ein gut nachgeahmtes Gesicht ganz in der Nähe.«

Wieder entstand ein Schweigen. »Nun also«, brummte der Detektiv, »so war dieser große Münzensammler und Münzenkenner schließlich nichts anderes als ein gewöhnlicher Geizhals?«

»Sind das so verschiedene Dinge?« fragte Pater Brown in demselben, seltsam nachsichtigen Ton. »Was ist an einem Geizhals so Schlimmes, das nicht oft an einem Sammler ganz ebenso schlimm wäre? Was ist Schlimmes daran, ausgenommen . . . ›Du sollst dir kein Bildnis machen dessen, was oben im Himmel oder unten auf der Erde ist; du sollst sie nicht anbeten und ihnen nicht dienen, denn ich, der Herr . . .‹, aber wir müssen gehen und schauen, wie es den armen jungen Leuten geht.«

»Ich glaube«, sagte Flambeau, »daß es ihnen trotz alledem sehr gut geht.«

 


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