Gilbert Keith Chesterton
Das Paradies der Diebe
Gilbert Keith Chesterton

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Das Duell des Doktor Hirsch

M. Maurice Brun und M. Armand Armagnac schritten durch die sonnenbeschienenen Champs-Elysees, gewissermaßen lebhaft und respektabel zugleich. Sie waren beide klein, frisch und zuversichtlich. Sie hatten beide schwarze Bärte, die nicht zu ihren Gesichtern zu gehören schienen, nach der seltsamen französischen Mode, die es zuwege bringt, echtes Haar wie künstliches erscheinen zu lassen. M. Brun trug einen dunklen Keil von Barthaar anscheinend unterhalb seiner Unterlippe befestigt. M. Armagnac hatte der Abwechslung halber zwei Bärte; je einen aus jeder Ecke seines scharfgeschnittenen Kinns hervorsprießend. Beide Männer waren jung. Beide waren Atheisten, mit all der deprimierenden Eintönigkeit der Aussichten, doch auch mit der großen Anpassungsfähigkeit bezüglich der Auslegung dieser Lehre. Sie waren beide Schüler des großen Doktor Hirsch: Wissenschaftler, Publizist und Moralist.

M. Brun war durch den Vorschlag berühmt geworden, den landläufigen Ausdruck »adieu« aus der französischen Schriftsprache auszumerzen und eine kleine Geldstrafe für den Gebrauch des Wortes im gewöhnlichen Leben einzuführen. »Dann würde«, meinte er, »der bloße Name eures imaginären Gottes zum letztenmal an das Ohr der Menschheit gedrungen sein.« M. Armagnac spezialisierte sich mehr auf einen gewissen Widerstand gegen den Militarismus und wünschte, daß die Worte der Marseillaise: »Aux armes, citoyens« umgeändert würden in: »Aux grèves, citoyens«. Doch sein Antimilitarismus war von einer besonderen und gallischen Art. Ein hervorragender und sehr wohlhabender englischer Quäker, der ihn einst aufsuchte, um eine Abrüstung des ganzen Planeten mit ihm zu besprechen, war nicht wenig entsetzt ob Armagnacs Vorschlag, daß, um einen Anfang zu machen, die Soldaten ihre Offiziere niederschießen sollten.

Und wirklich waren es diese beiden Punkte, in denen die zwei Männer am meisten von der Lehre ihres Führers und Vaters auf dem Gebiete der Philosophie abwichen. Doktor Hirsch – obwohl er in Frankreich geboren war und die glänzendsten Vorteile einer französischen Erziehung genossen hatte – gehörte seinem Temperament nach einem anderen Typus an; er war sanft, verträumt, menschlich und, trotz seiner skeptischen Lehre, eines gewissen Transzendentalismus nicht bar. Kurz, er war eher wie ein Deutscher, nicht wie ein Franzose; und so sehr man ihn auch bewunderte, empörte sich doch etwas in dem Unterbewußtsein dieser Gallier ob seiner so friedlichen Art, den Frieden zu predigen. Doch blieb Paul Hirsch für seine Partei in ganz Europa der Heilige der Wissenschaft. Seine umfassenden und verwegenen kosmischen Theorien zeugten von seiner strengen Lebensführung und seiner makellosen, wenn auch etwas frigiden Moralität; er nahm ungefähr die Stelle eines Darwin und Tolstoi zugleich ein. Doch war er weder Anarchist noch Antipatriot; seine Ansichten über die Abrüstung waren gemäßigt, er glaubte an eine organische Entwicklung – die republikanische Regierung setzte volles Vertrauen in ihn, besonders auf Grund von verschiedenen wichtigen Verbesserungen, wie zum Beispiel einem kürzlich von ihm entdeckten, geräuschlos wirkenden Sprengstoff, dessen Geheimnis die Regierung sorgfältig wahrte.

Sein Haus stand in einer schönen Straße nahe dem Elysée – einer Straße, die in diesem blühenden Sommer beinahe ebenso reich belaubt schien wie der Park selbst; eine Reihe von Kastanienbäumen hielt die Sonnenstrahlen ab und war nur an einer Stelle unterbrochen, an der sich ein großes Kaffeehaus weit auf die Straße hinaus ausbreitete. Beinahe gerade gegenüber stand das Haus des großen Mannes der Wissenschaft mit weißen Mauern, grünen Jalousien und einem eisernen, ebenfalls grün angestrichenen Balkon unter den Fenstern des ersten Stockwerkes. Darunter befand sich der Eingang in einen lustig mit Zwergbäumen und Kacheln ausgeschmückten Hof, in den die beiden Franzosen, in freundliches Gespräch vertieft, eben eintraten.

Der alte Diener des Doktors, Simon, öffnete ihnen die Türe. Man hätte ihn leicht selbst für einen Doktor halten können, da er einen schlichten schwarzen Anzug trug, Brillengläser, graues Haar und ein vertrauenerweckendes Auftreten hatte. Tatsächlich sah er weit repräsentabler aus als sein Herr, Doktor Hirsch, der mit seinem knollenförmigen Kopf, unter dem der Körper verschwindend klein erschien, an ein Radieschen erinnerte. Mit der ganzen Feierlichkeit eines großen Arztes, der ein Rezept überreicht, händigte Simon dem Herrn Armagnac einen Brief aus, den dieser mit der seiner Rasse eigenen Ungeduld aufriß, um schnell folgende Zeilen zu lesen:

»Ich kann nicht hinunterkommen, um mit Ihnen zu sprechen. Es ist ein Mann in diesem Haus, den zu empfangen ich mich weigere. Er ist ein chauvinistischer Offizier, Dubosc. Er sitzt auf der Treppe. Er hat alle Möbel in sämtlichen Zimmern durcheinandergeworfen. Ich habe mich in meinem Studierzimmer vorn an der Straßenseite eingeschlossen. Wenn Sie mich lieben, gehen Sie in das Kaffeehaus hinüber und warten Sie an einem der draußen befindlichen Tische. Ich werde versuchen, ihn zu Ihnen hinüberzuschicken. Ich möchte gerne, daß Sie ihn treffen und mit ihm verhandeln. Ich kann nicht selbst mit ihm zusammenkommen. Ich kann nicht; ich will nicht. Es wird einen zweiten Dreyfus-Prozeß geben.

P. Hirsch.«

M. Armagnac sah M. Brun an. M. Brun bat sich den Brief aus, las ihn und sah M. Armagnac an. Dann setzten sich beide gegenüber an einem der kleinen Tischchen unter den Kastanienbäumen nieder und bestellten zwei Gläser mit entsetzlichem grünem Absinth, den sie anscheinend zu jeder Zeit und bei jeder Witterung trinken konnten. Sonst war das Kaffeehaus ziemlich leer, nur an einem Tisch trank ein Soldat Kaffee, und an einem anderen Tisch saß ein großer Mann, der einen kleinen Sirup trank, mit einem Priester zusammen, der gar nichts trank.

Maurice Brun räusperte sich und sagte: »Natürlich müssen wir dem Meister in jeder Weise beistehen, aber . . .«

Es entstand ein plötzliches Schweigen, dann sagte Armagnac: »Er mag natürlich besondere Gründe haben, warum er dem Mann nicht selbst begegnen will, aber . . .«

Ehe einer von den beiden den Satz zu Ende sprechen konnte, wurde offenbar, daß man den Eindringling aus dem gegenüberliegenden Haus entfernte. Die Zwergbäumchen in der Hauseinfahrt gerieten ins Schwanken und flogen zur Seite, als der unwillkommene Gast wie eine Kanonenkugel aus ihrer Mitte herausschoß.

Er war von stämmiger Gestalt und trug einen kleinen, aufgeschlagenen Tirolerhut aus Filz und machte überhaupt den Eindruck eines Tirolers. Die Schultern des Mannes waren stark und breit, doch seine Beine, in Kniehosen und gestrickten Wollstrümpfen, waren zierlich und flink. Sein Gesicht war nußbraun; er hatte sehr große, ruhelose Augen; das dunkle Haar war vorne fest zurückgebürstet und hinten kurz geschnitten, so daß sich der mächtige, eckig geformte Schädel deutlich abzeichnete; er trug einen riesigen schwarzen Schnurrbart, der gleich Bisonhörnern abstand. Ein so kräftiger Kopf sitzt meist auf einem Stiernacken; doch dieser Hals war von einer breiten, farbigen Krawatte verdeckt, die bis zu den Ohren hinaufgewickelt und vorne in den Rock hineingeschlungen war wie eine bunte Weste. Die Krawatte war in kräftigen, doch dunklen Farben gemustert, dunkelrot und altgold und purpur, wahrscheinlich von orientalischer Machart. Der Mann hatte im ganzen etwas leise Barbarisches an sich und glich eher einem ungarischen Landherrn als einem gewöhnlichen französischen Offizier. Sein Französisch war jedoch offensichtlich das eines Einheimischen und sein französischer Patriotismus so impulsiv, daß er ein wenig absurd anmutete. Das erste, was er tat, als er aus dem Hausflur flog, war, daß er mit trompetenhafter Stimme die Straße hinunterschrie: »Gibt es hier irgendwo einen Franzosen?«, als riefe er in Mekka nach einem Christen.

Armagnac und Brun standen augenblicklich auf; doch sie kamen zu spät. Schon liefen Leute von den Straßenecken herbei, es bildete sich eine kleine, doch undurchdringliche Menschenmenge. Mit dem schnellen französischen Instinkt für Politik auf der Straße war der Mann mit dem schwarzen Schnurrbart schon bis an eine Ecke des Kaffeehauses gerannt, sprang auf einen Tisch, hielt sich an einem herabhängenden Ast eines der Kastanienbäume fest und schrie, wie einst Camille Desmoulins geschrien hatte, als er Eichenlaub unter die Bevölkerung streute.

»Franzosen!« rief er. »Ich bin kein Redner! Gott helfe mir, darum eben rede ich! Die Leute in ihrem schmierigen Parlament, die reden lernen, lernen auch schweigen – zu schweigen, wie jener Spion, der sich in dem gegenüberliegenden Hause versteckt! Er schwieg, als ich an die Tür seines Schlafzimmers klopfte! Er schweigt jetzt, obwohl er meine Stimme über diese Straße hin hört und zitternd in seinem Stuhle sitzt! Oh, sie haben eine schweigende Beredsamkeit – diese Politiker! Doch die Zeit ist gekommen, da wir, die wir nicht reden können, reden müssen. Man hat euch den Preußen verraten. In diesem Augenblick verraten. Jener Mann hat euch verraten. Ich bin Jules Dubosc, Oberst der Artillerie, Belfort. Wir fingen gestern in den Vogesen einen deutschen Spion, und man fand bei ihm ein Papier – ein Papier, das ich hier in meiner Hand hielt. Oh, man versuchte wohl, es zu vertuschen; aber ich brachte es sofort dem Mann, der es geschrieben hat – dem Mann in jenem Hause! Es ist von seiner Hand. Es ist mit seinen Initialen gezeichnet. Es ist eine Anleitung zur Aufdeckung des Geheimnisses dieses neuen, geräuschlos wirkenden Sprengstoffes. Hirsch hat ihn erfunden: Hirsch schrieb diese Notiz darüber. Diese Notiz ist deutsch geschrieben und wurde in der Tasche eines Deutschen gefunden: ›Sagen Sie dem Mann, daß die Formel für Sprengstoff in einem grauen Kuvert im ersten Schrank links vom Schreibtisch des Sekretärs liegt, Kriegsministerium, mit roter Tinte. Er soll vorsichtig sein P. H.‹«

So ratterte er kurze Sätze wie ein Maschinengewehr hervor, aber er war offensichtlich einer jener Leute, die entweder verrückt sind oder recht haben. Der größte Teil der versammelten Menschen waren Nationalisten und bereits in gefährlich aufrührerischer Stimmung. Eine Minorität ebenso zorniger Intellektueller, geführt von Armagnac und Brun, bewirkte nur, daß die Majorität noch kampflustiger wurde.

»Wenn dies ein Militärgeheimnis ist«, schrie Brun, »warum schreien Sie es auf der Straße aus?«

»Das will ich Ihnen sagen, warum ich das tue!« brüllte Dubosc über die brüllende Menschenmenge hin. »Ich ging geradewegs und höflich zu dem Mann. Hätte er mir irgendeine Erklärung zu geben gehabt, so hätte er es unter vollkommener Diskretion tun können. Er weigert sich, Erklärungen abzugeben. Er verweist mich an zwei Fremde im Kaffeehaus wie an zwei Bediente. Er hat mich aus dem Haus geworfen, aber ich werde wieder hineingehen, mit den Einwohnern von Paris hinter mir!«

Ein Schrei erscholl, von dem die ganze Häuserfassade zu erbeben schien, und zwei Steine flogen empor, deren einer eine Scheibe der Balkontür zertrümmerte. Der empörte Oberst tauchte noch einmal in der Hauseinfahrt unter, und man konnte ihn drinnen schreien und poltern hören. Mit jedem Augenblick wurde das Meer von Menschen größer und größer; es wogte das Geländer und die Stufen zum Haus des Verräters empor; es schien beinahe unvermeidlich, daß man das Haus stürmen würde, wie man einst die Bastille gestürmt hatte, als plötzlich die Flügel der eingeworfenen Glastür geöffnet wurden und Doktor Hirsch auf den Balkon heraustrat. Einen Augenblick lang schlug die Wut in Gelächter um, denn es war eine lächerliche Gestalt für einen derartigen Schauplatz. Der lange nackte Hals und die abfallenden Schultern ließen ihn einer Champagnerflasche gleichen, aber das war auch der einzige festliche Eindruck, den der Mann erweckte. Der Rock schlotterte an ihm herum wie an einer Puppe; er trug sein karottenfarbenes Haar lang und zerzaust; Wangen und Kinn waren dicht umrahmt von einem jener aufreizenden Bärte, die weitab vom Munde beginnen. Der Mann war sehr blaß und trug eine blaue Brille.

So blutleer sein Antlitz auch war, sprach er doch mit einer gewissen gezierten Bestimmtheit, so daß die Menge, als er in der Mitte seines dritten Satzes angelangt war, vollkommen still wurde.

». . . Ihnen jetzt nur zwei Dinge zu sagen. Das eine gilt meinen Feinden, das zweite meinen Freunden. Meinen Feinden sage ich: Es ist wahr, daß ich Herrn Dubosc nicht sprechen will, obwohl er eben von dieser meiner Türe poltert. Es ist wahr, daß ich zwei andere Männer gebeten habe, ihn in meiner Vertretung anzuhören. Und ich will Ihnen sagen, warum! Weil ich ihn nicht empfangen will und darf – weil es gegen jede Regel der Ehre und Würde verstoßen würde, ihn zu empfangen. Ehe ich nicht vor einem Gericht vollkommen freigesprochen bin, gibt es eine andere Entscheidung, die ein Mann zur Verteidigung seiner Ehre in Anspruch nehmen kann, und die er mir als Ehrenmann schuldig ist; wenn ich ihn nun darum an meine Sekundanten verweise, bin ich . . .«

Armagnac und Brun schwenkten wild ihre Hüte, und sogar die Feinde des Doktors brüllten laut Beifall ob dieser unerwarteten Herausforderung. Wieder blieben einige Sätze unverständlich, doch konnte man ihn sagen hören: »Meinen Freunden . . . ich persönlich ziehe immer rein intellektuelle Waffen vor, und eine höher entwickelte Menschheit wird sich sicherlich auf diese beschränken. Aber auch unsere eigene heiligste Überzeugung ist im Grunde nur das Ergebnis von äußeren Umständen und Vererbung. Meine Bücher hatten Erfolg; meine Theorien sind unwiderleglich; doch ich leide in politischer Beziehung unter einem beinahe physischen Vorurteil der Franzosen. Ich kann nicht sprechen wie Clemenceau und Déroulède, denn ihre Worte sind wie der Widerhall ihrer Pistolenschüsse. Der Franzose verlangt nach einem Mann, der Duelle schlägt, wie der Engländer nach einem, der Sport betreibt. Nun, ich will meine Probe ablegen: ich will diese barbarische Bestechung bezahlen und für den Rest meines Lebens zu Vernunftgründen zurückkehren.«

Es fanden sich sofort zwei Männer in der Menge, die dem Oberst Dubosc ihre Dienste anboten, als dieser einige Augenblicke später befriedigt herauskam. Einer von ihnen war der gewöhnliche Soldat mit dem Kaffee, der einfach sagte: »Ich werde Sie vertreten, Sir. Ich bin der Duc de Valognes.« Der zweite war der große Mann, den sein Freund, der Priester, anfangs davon abhalten wollte; der Priester ging dann aber allein fort. –

Gegen Abend wurde im rückwärtigen Teil des Café Charlemagne ein leichtes Abendessen serviert. Der Garten war zwar weder durch Glas noch vergoldeten Gips überdacht, aber die Gäste befanden sich doch beinahe alle unter einem zarten und unregelmäßigen Laubdach; denn die reichbelaubten Bäume standen so dicht um die Tische, daß sie etwas von dem hellen Glanz und der dunklen Glut eines kleinen Obstgartens hatten. An einem der mittleren Tische saß – völlig allein – ein stämmiger kleiner Priester, voll tiefster Befriedigung mit einer Ladung Weißfische beschäftigt. Da seine tägliche Lebensführung sehr einfach war, hatte er eine besondere Vorliebe für unerwartete und besondere Genüsse; er war ein enthaltsamer Epikureer. Er hob die Augen nicht von seinem Teller, neben welchem Paprika, Zitronen, Schwarzbrot und Butter in einer geraden Reihe aufgestellt waren, bis ein großer Schatten über den Tisch fiel und sein Freund, Flambeau, sich ihm gegenüber niedersetzte. Flambeau war düster.

»Ich fürchte, daß ich diese Geschichte aufgeben muß«, sagte Flambeau nachdrücklich; »ich stehe ganz auf seiten der französischen Soldaten wie Dubosc und ganz im Gegensatz zu den französischen Atheisten wie Hirsch. Aber es scheint mir, daß wir in diesem Fall einen Fehler gemacht haben. Der Herzog und ich hielten es für das beste, die Anklage zu untersuchen, und ich muß sagen, ich bin froh, daß wir es getan haben.«

»Ist das Papier also ein Schwindel?« fragte der Priester.

»Das ist eben das Merkwürdige«, erwiderte Flambeau. »Es ist genau die Handschrift des Doktor Hirsch, und niemand kann irgendeinen Fehler daran feststellen. Aber Hirsch hat es nicht geschrieben. Wenn er ein französischer Patriot ist, so hat er es nicht geschrieben, weil es Deutschland eine Information gibt. Und wenn er ein deutscher Spion ist, so hat er es nicht geschrieben, nun – weil es Deutschland keine Information gibt.«

»Sie meinen, die Information ist falsch?« fragte Pater Brown.

»Falsch«, antwortete der andere, »und gerade darin falsch, worin Doktor Hirsch richtige Angaben gegeben hätte – über das Versteck seiner eigenen Formel in seinem eigenen amtlichen Departement. Mit Erlaubnis des Doktor Hirsch und der Behörden wurde es dem Herzog und mir gestattet, das Geheimfach im Kriegsministerium zu inspizieren, in dem die Formel des Doktor Hirsch aufbewahrt wird. Wir sind die einzigen Leute, die sie je zu Gesicht bekommen haben, ausgenommen der Erfinder selbst und der Kriegsminister; aber der Minister hat es gestattet, um Hirsch vor dem Zweikampf zu bewahren. Daraufhin können wir Dubosc natürlich nicht mehr vertreten, wenn seine Aufdeckung nur Blödsinn ist.«

»Und das ist sie?« fragte Pater Brown.

»Ja«, sagte sein Freund düster. »Es ist ein plumper Schwindel von jemand, der nichts von dem wahren Versteck weiß. Angeblich sollte das Papier in dem Schrank links vom Schreibtisch des Sekretärs liegen. Tatsächlich ist der Schrank mit dem Geheimfach etwas rechts von dem Schreibtisch. Weiterhin sollte das graue Kuvert ein langes Dokument enthalten, das mit roter Tinte geschrieben ist. Es ist nicht mit roter Tinte, sondern mit ganz gewöhnlicher, schwarzer geschrieben. Natürlich ist es ein Unsinn, anzunehmen, daß Hirsch über ein Papier hätte im Irrtum sein können, von dem außer ihm selbst niemand etwas wußte, oder daß er sich bemüht haben sollte, einem fremden Dieb behilflich zu sein, indem er ihn anwies, in einem falschen Schranke zu suchen. Ich fürchte, wir müssen die Geschichte aufgeben und Freundchen Rothaar um Entschuldigung bitten.«

Pater Brown schien zu überlegen; er hob ein Stückchen Weißfisch auf die Gabel. »Sind Sie sicher, daß das graue Kuvert nicht im linken Schranke war?« fragte er.

»Ganz sicher«, erwiderte Flambeau. »Das graue Kuvert – es war eigentlich ein weißes Kuvert – war . . .«

Pater Brown legte das kleine Silberfischchen mit der Gabel nieder und starrte seinen Gefährten über den Tisch hin an. »Was?« fragte er mit veränderter Stimme.

»Nun, was?« wiederholte Flambeau und aß herzhaft weiter.

»Es war nicht grau?« fragte der Priester. »Flambeau, Sie machen mir Angst.«

»Vor was, zum Teufel, haben Sie Angst?«

»Ich habe Angst vor einem weißen Kuvert«, sagte der andere ganz ernst. »Wenn es doch nur grau gewesen wäre! Zum Kuckuck, es hätte doch ebensogut grau sein können! Aber wenn es weiß gewesen ist, scheint das Ganze eine schwarze Geschichte zu sein. Der Doktor hat also doch irgendwie im Trüben fischen wollen.«

»Aber ich sage Ihnen doch, er hätte so eine Notiz gar nicht schreiben können!« rief Flambeau. »Es stimmt ja keine einzige von den Tatsachen. Und ob er nun schuldig oder unschuldig ist, Doktor Hirsch kannte alle Tatsachen ganz genau.«

»Auch der Mann, der diese Notiz geschrieben hat, kannte alle Tatsachen genau«, sagte der Kleriker schlicht. »Er hätte sie niemals so falsch hinstellen können, wenn er sie nicht gekannt hätte. Man muß schrecklich viel wissen, wenn man in allen Punkten unrecht haben will – wie der Teufel.«

»Meinen Sie . . .«

»Ich meine, wenn einer auf gut Glück etwas hätte zusammenlügen wollen, so hätte er in manchen Punkten die Wahrheit gesagt«, erwiderte der Freund mit Bestimmtheit. »Nehmen Sie an, es hätte Sie jemand auf die Suche nach einem Haus geschickt, das eine grüne Türe und blaue Fensterläden hat, ein Vorgärtchen, aber keinen Hintergarten, einen Hund, aber keine Katze, und in dem man Kaffee trinkt, aber keinen Tee. Wenn Sie ein solches Haus nicht fänden, würden Sie sagen, man habe Sie gefoppt. Aber ich sage nein. Ich sage, wenn Sie ein Haus gefunden hätten, wo die Türe blau und die Fensterläden grün wären, wo es einen Hintergarten, aber keinen Vordergarten gäbe, wo Katzen gebräuchlich wären, aber Hunde augenblicklich erschossen würden, wo man Tee literweise tränke und Kaffee verboten wäre – dann würden Sie wissen, daß Sie das Haus gefunden hätten. Der Mann mußte dieses spezielle Haus gekannt haben, um so genau ungenau sein zu können.«

»Aber was kann es bedeuten?« fragte sein Gegenüber.

»Ich kann es mir nicht vorstellen«, sagte Brown. »Ich verstehe diese Hirsch-Affäre ganz und gar nicht. Solange es nur der rechte Schrank war statt des linken und schwarze Tinte statt roter, dachte ich, daß es die zufälligen Irrtümer eines Schwindlers wären, wie Sie sagen. Doch drei ist eine mystische Zahl; es bringt die Dinge zu einem Abschluß. Es bringt dies hier zu einem Abschluß. Daß vor allen Angaben über die Stellung des Schrankes, die Farbe der Tinte, die Farbe des Kuverts – keine einzige zufällig richtig sein sollte, das kann kein Zufall sein. Das war keiner.«

»Was denn war es? Verrat?« fragte Flambeau und machte sich wieder ans Essen.

»Das weiß ich auch nicht«, antwortete Brown mit einem Gesicht, das völlige Verwirrung zeigte. »Das einzige, woran ich denken kann . . . Nun, ich verstand den Fall Dreyfus auch niemals. Ich kann immer Beweise moralischer Art eher erfassen als die anderen. Ich richte mich nach den Augen eines Menschen und nach seiner Stimme, wissen Sie, und ob seine Familie glücklich zu sein scheint, und welche Dinge er bevorzugt – und welche er vermeidet. Nun, dieser Fall Dreyfus hat mich verwirrt. Nicht durch die schrecklichen Dinge, die man von beiden Seiten dem anderen zur Last legte; ich weiß, obwohl es der modernen Anschauung widerspricht, daß die menschliche Natur, zum äußersten getrieben, immer noch imstande ist, Cenci oder Borgia zu sein. Nein, was mich verwirrte, war die Aufrichtigkeit von beiden Parteien. Ich meine nicht die politischen Parteien; Parkett und Galerie sind im großen ganzen ehrlich und werden oft getäuscht. Ich meine die Personen des Theaterstückes. Ich meine die Verschwörer, wenn es Verschwörer waren. Ich meine den Verräter, wenn er ein Verräter war. Ich meine die Leute, welche die Wahrheit gewußt haben mußten. Nun, Dreyfus fuhr fort, sich wie ein Mann zu benehmen, der wußte, daß man ihm Unrecht tat. Und andererseits fuhren die französischen Staatsmänner und Soldaten fort, sich so zu benehmen, als ob sie wüßten, daß er nicht ein Mann wäre, dem man Unrecht täte, sondern einer, der Unrecht getan. Ich meine nicht, daß sie sich richtig benommen hätten, ich meine, sie benahmen sich so, als ob sie ihrer Sache sicher wären. Ich kann diese Dinge nicht erklären; ich weiß, was ich meine.«

»Ich wollt', ich wüßt' es«, sagte sein Freund. »Und was hat das mit dem alten Hirsch zu tun?«

»Nehmen Sie an«, fuhr der Priester fort, »daß eine Vertrauensperson anfinge, dem Feinde Informationen zu geben, weil es falsche Informationen waren. Nehmen Sie an, daß der Mann vielleicht sogar glaubte, sein Land zu retten, indem er den Fremden irreführte. Nehmen Sie an, daß ihn dies in die Kreise von Spionen brachte und daß man ihm kleine Darlehen gab und ihn ein wenig festband. Nehmen Sie an, daß er seine widerspruchsvolle Stellung auf eine komplizierte Art aufrechthielt, indem er den fremden Spionen niemals die Wahrheit sagte, sie aber mehr und mehr erraten ließ. Sein besseres Ich, soviel eben noch übrig war davon, würde immer noch sagen: ›Ich habe dem Feind nicht geholfen; ich habe gesagt, daß es der linke Schrank sei.‹ Seine schlechtere Hälfte würde jedoch schon anfangen zu sagen: ›Aber sie könnten klug genug sein, um zu merken, daß es den rechten bedeutet.‹ Ich glaube, es ist psychologisch möglich – in einem aufgeklärten Zeitalter, wissen Sie.«

»Es mag psychologisch möglich sein«, antwortete Flambeau, »und es könnte sicherlich eine Erklärung für Dreyfus sein, mit seiner eigenen Überzeugung, daß man ihm unrecht täte, und seinen Richtern, die von seiner Schuld überzeugt waren. Aber es würde ihn historisch nicht reinwaschen, da die Papiere von Dreyfus wenn es seine Papiere waren – buchstäblich richtig waren.«

»Ich habe nicht an Dreyfus gedacht«, sagte Pater Brown.

Es war allmählich still um sie geworden, je mehr die Tische sich leerten; es war schon spät, obwohl die Sonnenstrahlen sich noch an allen Dingen festhielten, als hätten sie sich zufällig in den Bäumen verfangen. In dieser Stille rückte Flambeau laut seinen Stuhl zurück, was ein vereinzeltes, widerhallendes Geräusch hervorrief, und warf den Ellbogen über die Lehne.

»Nun«, sagte er etwas grob, »wenn Hirsch nichts Besseres als ein feiger Verrats-Krämer ist . . .«

»Sie dürfen nicht zu streng sein mit ihnen«, sagte Pater Brown sanft. »Es ist nicht nur ihre Schuld; sie haben keine Instinkte. Ich meine jene Empfindungen, die eine Frau davon abhalten, mit einem Mann zu tanzen, oder einen Mann abhalten, anvertrautes Gut zu berühren. Sie haben gelernt, daß es nur eine Sache des Gradunterschiedes ist.«

»Immerhin«, rief Flambeau ungeduldig, »es wäre keine Besudelung meiner Prinzipien; und ich will die Sache zu Ende führen. Der alte Dubosc mag ein wenig verrückt sein, aber schließlich ist er in seiner Art ein Patriot.«

Pater Brown fuhr fort, Weißfische zu verzehren.

Die ernsthafte Art, mit der er dies tat, bewog Flambeau, seinen Gefährten nochmals mit wilden, schwarzen Blicken zu streifen. »Was ist denn los mit Ihnen?« fragte er. »Mit Dubosc ist doch soweit alles in Ordnung. Oder haben Sie Mißtrauen gegen ihn?«

»Mein Freund«, sagte der kleine Priester und legte mit einer Gebärde hilfloser Verzweiflung Messer und Gabel nieder. »Ich habe heute gegen alles Mißtrauen. Ich meine gegen alles, was sich heute zugetragen hat. Ich habe gegen die ganze Geschichte Mißtrauen, obwohl sie sich vor meinen Augen abgespielt hat. Ich zweifle an allem, was meine Augen seit heute früh gesehen haben. Irgendwie unterscheidet sich diese Geschichte gar sehr von den gewöhnlichen Polizeimysterien, in denen der eine immer mehr oder weniger lügt und der andere mehr oder weniger die Wahrheit sagt. Hier sind beide Männer . . . Nun! Ich habe Ihnen die einzige Theorie gesagt, von der ich mir vorstellen könnte, daß sie jemand befriedigt. Mich befriedigt sie nicht.«

»Mich auch nicht«, erwiderte Flambeau stirnrunzelnd, während der andere fortfuhr, mit einer Miene vollständiger Resignation Fische zu essen. »Wenn Sie nichts anderes vorbringen können als jene Idee, daß eine Nachricht durch Angaben vermittelt wird, welche der Wahrheit entgegengesetzt sind, so würde ich das zwar ungewöhnlich klug und spitzfindig nennen, aber . . .«

»Ich würde es durchsichtig nennen«, sagte der Priester schnell. »Ich würde es ungewöhnlich durchsichtig nennen. Aber das ist das Merkwürdige an der Geschichte. Es ist wie eine Schulbubenlüge. Es gibt nur drei Versionen, die von Dubosc, die von Hirsch und die meine. Entweder wurde diese Nachricht von einem französischen Offizier geschrieben, um einen französischen Beamten zu ruinieren; oder sie wurde von dem französischen Beamten geschrieben, um deutschen Offizieren zu helfen; oder sie wurde von dem französischen Beamten geschrieben, um deutsche Offiziere irrezuführen. Gut also. Man würde erwarten, daß ein geheimes Papier, das zwischen solchen Leuten, wie Offizieren und Beamten, gewechselt wird, anders aussähe. Man würde vielleicht Chiffern, sicherlich Abkürzungen voraussetzen; jedenfalls wissenschaftliche Termini und strikte Fachausdrücke. Aber dies hier ist so absichtlich einfach wie ein Schauerroman: ›In der roten Grotte werden Sie die goldene Kassette finden.‹ Es sieht so aus, als ob . . . es Absicht wäre, daß man es durchschaut.«

Beinahe noch ehe sie es bemerken konnten, war eine kleine Gestalt in französischer Uniform mit Windeseile an ihren Tisch herangetreten und ließ sich schwer auf einen Sessel fallen.

»Ich bringe erstaunliche Nachrichten«, sagte der Duc de Valognes. »Ich komme eben von unserem Oberst. Er packt gerade seine Koffer, um das Land zu verlassen, und er bittet uns, sur le terrain seine Entschuldigung vorzubringen.«

»Was?« schrie Flambeau mit einer ganz erschreckenden Ungläubigkeit, »Abbitte tun?«

»Ja«, sagte der Herzog mürrisch, »da und dort – vor allen Leuten – wenn die Schwerter gezogen sind. Und Sie und ich sollen es machen, während er das Land verläßt.«

»Aber was kann das bedeuten?« rief Flambeau. »Er kann sich doch nicht vor diesem kleinen Doktor Hirsch fürchten! Verdammt noch einmal«, rief er in einer Art überlegender Wut, »vor dem kann sich doch niemand fürchten.«

»Ich glaube, es ist irgendeine Intrige!« schnaubte Valognes, »irgendeine Verschwörung der Juden und Freimaurer. Es soll wahrscheinlich dazu beitragen, den Ruhm dieses Doktor Hirsch zu vermehren . . .«

An Pater Browns Miene war nichts Auffallendes zu bemerken, nur seltsam befriedigt sah er drein; es konnte ebensogut Unwissenheit wie Verständnis sein, was seine Züge erhellte. Doch gab es zuweilen einen Augenblick des Aufleuchtens. Dann war es, als nähme er eine Maske ab und zeige darunter sein kluges Gesicht; und Flambeau wußte, daß sein Freund plötzlich verstanden hatte. Brown sagte nichts, sondern beendete seine Mahlzeit.

»Wo haben Sie unseren feinen Oberst zuletzt gesehen?« fragte Flambeau ärgerlich.

»Er ist drüben im Hotel Saint Louis, wohin wir ihn im Wagen begleitet haben. Er packt seine Koffer, sag' ich Ihnen.«

»Glauben Sie, daß er noch dort ist?« fragte Flambeau und blickte stirnrunzelnd über den Tisch hin.

»Ich glaube nicht, daß er schon fort sein kann«, erwiderte der Herzog; »er packt für eine lange Reise . . .«

»Nein«, sagte Pater Brown ganz einfach, stand aber plötzlich auf, »für eine sehr kurze Reise eigentlich. Aber wir könnten noch zurechtkommen, um ihn dort zu erwischen, wenn wir mit einem Automobil hinüberfahren.«

Es war nichts mehr aus ihm herauszubringen, bis das Auto vor dem Hotel Saint Louis um die Ecke bog, wo sie ausstiegen und er die Gesellschaft durch eine Seitenallee hinaufführte, die in der zunehmenden Dämmerung bereits in tiefem Schatten lag. Als der Herzog einmal ungeduldig fragte, ob Doktor Hirsch des Verrates schuldig sei oder nicht, antwortete der Priester ein wenig zerstreut: »Nein, nur des Ehrgeizes – wie Cäsar.« Dann fügte er ein wenig unvermittelt hinzu: »Er führt ein sehr einsames Leben; er mußte stets alles allein machen.«

»Nun, wenn er ehrgeizig ist, so sollte er jetzt befriedigt sein«, sagte Flambeau ein wenig bitter. »Ganz Paris wird ihm zujubeln, da unser verfluchter Oberst davongelaufen ist.«

»Sprechen Sie nicht so laut«, sagte Pater Brown, selbst die Stimme senkend; »Ihr verfluchter Oberst ist gerade vor uns.«

Die beiden anderen fuhren zusammen und zogen sich tiefer in den Schatten der Mauer zurück, denn die stämmige Gestalt ihres flüchtig gewordenen Duellanten konnte nun tatsächlich wahrgenommen werden. Er eilte im Zwielicht an ihnen vorbei, in jeder Hand einen Koffer. Er sah beinahe genau so aus, wie sie ihn zum erstenmal gesehen hatten, nur daß er seine malerische Kniehose gegen eine gewöhnliche vertauscht hatte. Offenbar lief er bereits aus dem Hotel davon.

Die Wiese, über die sie ihm folgten, machte den Eindruck, als wäre sie hinter den Dingen, wie die Rückseite einer Kulisse. An einer Seite lief eine farblose, ununterbrochene Mauer, in der in gewissen Abständen trübselig aussehende, beschmutzte Türen waren, alle fest verschlossen und gänzlich schmucklos, bis auf das Kreidegekritzel eines zufällig vorbeigekommenen Gamins. Baumkronen waren ab und zu über der Mauer zu sehen und dahinter im grauroten Schein des Abends die Rückseite irgendwelcher hoher Häuser, die in Wirklichkeit ziemlich nahe standen, doch aussahen wie eine ferne, unerreichbare Gebirgskette. An der anderen Seite der Wiese lief ein hohes vergoldetes Gitter, das einen finsteren Park umsäumte.

Flambeau sah sich ein wenig zaghaft um. »Wissen Sie«, sagte er, »es ist hier so merkwürdig . . .«

»Hallo!« rief plötzlich der Herzog, »dieser Kerl ist verschwunden. Versunken, wie durch einen verdammten Zauber!«

»Er hat einen Schlüssel«, erklärte ihr kirchlicher Berater. »Er ist nur durch eine dieser Gartentüren eingetreten.« Und schon hörten sie eine der Holztüren klirrend ins Schloß fallen.

Flambeau eilte mit langen Schritten zu der Türe hin, die solcherart beinahe vor seiner Nase zuschlug, stand einen Augenblick lang vor ihr still und biß seinen schwarzen Schnurrbart in wütender Neugierde. Dann warf er seine langen Arme empor und schwang sich wie ein Affe hinauf, so daß er aufrecht oben auf der Mauer stand, während sich seine riesige Gestalt schwarz wie die dunklen Baumgipfel gegen den roten Himmel abhob.

Der Herzog sah den Priester an. »Die Flucht dieses Dubosc ist wohlüberlegter, als wir dachten«, sagte er, »doch ich glaube, er flieht aus Frankreich.«

»Er entflieht von überall«, antwortete Pater Brown.

Valognes Augen erhellten sich, doch seine Stimme wurde düsterer. »Meinen Sie Selbstmord?« fragte er.

»Man wird seine Leiche nicht finden«, erwiderte der andere.

Flambeau schrie auf, oben auf der Mauer. »Mein Gott«, rief er aus, »jetzt erkenn' ich den Ort! Ja, es ist die Hinterseite der Straße, in der unser Freund Hirsch wohnt. Ich dachte, ich müßte die Rückseite eines Hauses ebensogut erkennen wie den Rücken eines Menschen.«

»Und Dubosc ist da hineingegangen?« rief der Herzog und schlug sich auf die Schenkel. »Na, da werden sie einander schließlich doch noch begegnen.« Und in einer plötzlichen Anwandlung gallischer Lebhaftigkeit sprang er auf die Mauer an Flambeaus Seite und saß dort, buchstäblich mit den Beinen zappelnd vor Aufregung. Nur der Priester blieb unten, lehnte sich gegen die Mauer und drehte so dem ganzen Schauspiel den Rücken, während er sinnend auf das Staket des gegenüberliegenden Parks und auf die schwankenden Bäume sah.

Der Herzog, so angeregt er auch war, blieb seinen aristokratischen Instinkten treu und wünschte nur, das Haus anzustarren, nicht etwa, es auszuspionieren; doch Flambeau mit seinen Einbrecher- und Detektiv-Instinkten hatte sich bereits von der Mauer aus in die Gabelung eines Baumes geschwungen, von wo aus er ganz in die Nähe des einzigen erleuchteten Fensters an der Rückseite des hohen, dunklen Hauses klettern konnte. Über das Fenster war eine rote Jalousie herabgelassen, doch schief befestigt worden, so daß sie auf einer Seite offenstand, und Flambeau konnte, wenn er den Hals weit vorbog, hinter einem Zweig gerade noch den Oberst Dubosc erblicken, der in einem hellerleuchteten und luxuriös ausgestatteten Schlafzimmer umherging. Doch so nah Flambeau auch dem Hause war, hörte er die Worte seines Kollegen an der Mauer und wiederholte sie leise.

»Ja, jetzt werden sie einander schließlich doch begegnen.«

»Sie werden einander niemals begegnen«, sagte Pater Brown. »Hirsch hatte recht, wenn er sagte, daß in einer solchen Sache die beiden Hauptpersonen nicht direkt miteinander zusammenkommen sollten. Haben Sie jemals jene seltsame psychologische Studie von Henry James gelesen, in der zwei Leute einander durch Zufall so oft verfehlen, daß sie beide große Angst voreinander bekommen und glauben, es wäre Schicksal? Das hier ist etwas Ähnliches, aber noch seltsamer.«

»Es gibt Leute in Paris, die sie von derlei krankhaften Einbildungen heilen werden«, sagte Valognes rachsüchtig. »Sie werden schön miteinander kämpfen müssen, wenn wir sie fangen und dazu zwingen, einander zu begegnen.«

»Und sie werden einander nicht einmal am Tage des Jüngsten Gerichts begegnen«, sagte der Priester. »Wenn der allmächtige Gott die Rollen der Listen hielte und St. Michael die Posaunen bliese, auf daß die Schwerter gekreuzt werden – auch dann noch, wenn einer von ihnen bereitstände, würde der andere nicht kommen.«

»Ach, was soll all dieser Mystizismus bedeuten?« rief der Herzog von Valognes ungeduldig; »warum sollten sie, um's Himmels willen, einander nicht begegnen wie andere Menschen?«

»Sie sind das Gegenteil voneinander«, sagte Pater Brown mit einem seltsamen Lächeln. »Sie widersprechen einander. Sie heben einander auf, sozusagen.«

Er fuhr fort, auf die gegenüberstehenden dunklen Bäume zu starren, doch Valognes wendete schnell den Kopf, auf einen unterdrückten Ausruf Flambeaus hin. Dieser Kundschafter, der in das erleuchtete Fenster spähte, hatte eben gesehen, wie der Oberst nach einigem Aufundabgehen anfing, sich den Rock auszuziehen. Flambeaus erster Gedanke war, daß dies wirklich nach einem Duell aussähe; doch bald mußte er diese Ansicht zugunsten einer anderen fallenlassen. Die kräftigen, breiten Schultern und die starke Brust Duboscs waren nichts als ein gut Stück Polsterung, die zusammen mit dem Rock abfiel. In Hemd und Hose war er ein verhältnismäßig schlanker Herr, der durch das Schlafzimmer in das Badezimmer ging, ohne jede andere kampflustige Absicht, als sich zu waschen. Er beugte sich über ein Becken, trocknete seine nassen Hände und sein Gesicht an einem Handtuch ab und wendete sich wieder um, so daß das helle Licht auf sein Gesicht fiel. Die braune Farbe war daraus gewichen, auch der große schwarze Schnurrbart war verschwunden; er war glattrasiert und sehr blaß. Vom Oberst war nichts übriggeblieben als seine leuchtenden braunen Adleraugen. Unter der Mauer fuhr Pater Brown in seinen tiefsinnigen Betrachtungen fort, als spräche er zu sich selbst.

»Es ist genau so, wie ich Flambeau gesagt habe. Mit solchen Gegensätzen geht es nicht. Das stimmt nicht. Das kämpft auch nicht. Wenn es weiß anstatt schwarz ist und fest anstatt flüssig und so weiter in jedem einzelnen Fall – dann stimmt etwas nicht. Monsieur, dann stimmt etwas nicht. Einer dieser Männer ist blond, der andere schwarz. Der eine kräftig, der andere mager, der eine stark, der andere schwach. Der eine hat einen Schnurrbart und keinen Vollbart, so daß man seinen Mund nicht sehen kann; der andere hat einen Vollbart und keinen Schnurrbart, so daß man sein Kinn nicht sehen kann. Der eine hat das Haar am Hinterkopf kurzgeschnitten, aber eine breite Krawatte, die seinen Hals verbirgt; der andere trägt einen niedrigen Kragen, aber langes Haar, das seinen Hinterkopf verbirgt. Es stimmt alles zu genau, Monsieur, und darum stimmt etwas nicht. Dinge, die einander so entgegengesetzt sind, sind Dinge, die miteinander nicht streiten können. Wo immer der eine herausguckt, taucht der andere unter. Wie ein Gesicht und eine Maske, wie ein Schloß und ein Schlüssel . . .«

Flambeau starrte in das Haus, und sein Gesicht war so weiß wie ein Blatt Papier. Der Bewohner des Zimmers stand dort und wendete ihm den Rücken zu, aber ihm gegenüber befand sich ein Spiegel, und der Mann hatte bereits um sein Gesicht eine Art Umrahmung aus rotem Haar gelegt, das ungeordnet um seinen Kopf hing und längs der Wangen bis zum Kinn herabfiel, so daß der spöttisch verzogene Mund frei blieb. So im Spiegel betrachtet, glich das weiße Gesicht einem Judas, der grauenhaft lachte und von den Höllenflammen umringt war. Einen Augenblick lang sah Flambeau die wilden rotbraunen Augen tanzen, dann wurden sie von einer blauen Brille verdeckt. Als die Gestalt in einen weiten schwarzen Rock geschlüpft war, verschwand sie gegen die Vorderseite des Hauses zu. Einige Augenblicke später kündete ein Beifallssturm von der dahinterliegenden Straße an, daß Doktor Hirsch abermals auf dem Balkon erschienen war.

 


 << zurück weiter >>