Gilbert Keith Chesterton
Das Paradies der Diebe
Gilbert Keith Chesterton

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Der Mann in der Passage

Zwei Männer erschienen gleichzeitig an den beiden gegenüberliegenden Enden eines Verbindungsganges, der an dem einen Flügel des Apollo-Theaters in Adelphi entlanglief. Es war gegen Abend, aber die Straßen lagen noch im Sonnenlicht, das in die blassen Farben der Dämmerung hinüberspielte. Der Gang war verhältnismäßig lang und dunkel, so daß jeder der beiden Männer den anderen nur als Silhouette am gegenüberliegenden Ende sehen konnte. Nichtsdestoweniger erkannte doch jeder den anderen, sogar in diesen tintenfarbenen Umrissen, denn beide waren Männer von auffallender Erscheinung, und sie haßten einander.

Die überdeckte Passage führte auf einer Seite in eine der steilen Straßen von Adelphi und auf der anderen zu einer Terrasse, von der aus man den im Abendrot schimmernden Fluß überblickte. Die eine Seitenwand der Passage bildete eine kahle Mauer, die zu einem alten Theaterrestaurant gehörte, einem mißglückten Unternehmen, das nun geschlossen war. An der anderen Seitenwand befanden sich zwei Türen, eine an jedem Ende. Keine von beiden war das, was man gewöhnlich den Bühnenausgang nennt; sie waren eine Art privater Bühnenausgang, der nur von ganz vereinzelten Darstellern benützt wurde, und in diesem Fall von den Stars der heutigen Shakespeare-Aufführung. So bedeutende Persönlichkeiten lieben es oft, derartige private Aus- und Eingänge zu haben, um Freunden zu begegnen oder sie vermeiden zu können.

Die beiden in Frage stehenden Männer waren sicherlich zwei solche Freunde, Männer, die offenbar die Türen kannten und darauf rechneten, daß man sie ihnen öffnen würde, denn beide näherten sich der Türe an dem oberen Ende mit gleicher Gelassenheit und Zuversicht. Freilich nicht mit gleicher Eile; doch der Mann, der schneller ging, war der, welcher vom ferneren Ende kam, so daß sie beide beinahe im selben Augenblick vor der geheimen Bühnentüre ankamen. Sie grüßten einander höflich und warteten, bis einer von ihnen, der schnellere Geher, der weniger Geduld zu haben schien, an die Türe klopfte.

Darin und in allem übrigen waren sie voneinander so verschieden, daß man nicht sagen konnte, einer wäre dem anderen überlegen gewesen. Im privaten Leben waren sie beide hübsch, tüchtig und beliebt zu nennen. Als Leute der Öffentlichkeit bekleideten sie beide hervorragende Stellen. Doch alles an ihnen, vom Ruhm bis zum hübschen Äußeren, war von durchaus verschiedener und miteinander nicht zu vergleichender Art. Sir Wilson Seymour gehörte zu jenen Menschen, deren Bedeutung jedem gesellschaftlich Orientierten bekannt ist. Je näher man mit den innersten Kreisen jeder Partei oder Berufsclique bekannt wurde, um so öfter begegnete man Sir Wilson Seymour. Er war der einzige intelligente Mann auf zwanzig unintelligente Komiteemitglieder – auf jedem Gebiete, angefangen von der Reform der Royal Academy bis zum Projekt des Bimetallismus für Großbritannien. Insbesondere auf dem Gebiete der Kunst war er allmächtig. Er war so einzigartig, daß niemand ganz entscheiden konnte, ob er ein großer Aristokrat war, der die Kunst unter seine Hauptinteressen aufgenommen hatte, oder ein großer Künstler, den die Aristokraten aufgenommen hatten. Aber man konnte nicht fünf Minuten mit ihm zusammensein, ohne wahrzunehmen, daß man eigentlich sein ganzes Leben lang von ihm geleitet worden war.

Seine Erscheinung war »distinguiert« im eigentlichen Sinn des Wortes, konventionell und zugleich einzigartig. Die letzte Mode hätte nichts auszusetzen gefunden an seinem Zylinderhut, der aber doch anders war als aller anderen Leute Hüte – ein bißchen höher vielleicht, was des Mannes natürliche Größe noch etwas unterstrich. Seine hohe, schlanke Gestalt war ein wenig vorgebeugt, doch sah sie nicht im mindesten schwächlich aus. Sein Haar war silbergrau, doch sah er nicht alt aus; er trug das Haar etwas länger als üblich, hatte aber dabei nichts Weibliches an sich; das Haar war gelockt, sah jedoch nicht gebrannt aus. Sein sorgfältig geschnittener Spitzbart ließ ihn männlicher erscheinen und ein wenig militärisch, so wie bei jenen alten Admiralen von Velasquez, mit deren dunklen Porträts sein Haus geschmückt war. Seine grauen Handschuhe waren eine Schattierung bläulicher, sein Stock mit dem Silberknopf eine Spur länger als Dutzende solcher Handschuhe und Stöcke, mit denen man in Theatern und Restaurants herumschlenkert und in die Hände schlägt.

Der andere Mann war nicht so groß, doch wäre er niemand als klein aufgefallen, sondern nur als kräftig und hübsch. Auch sein Haar war gelockt, doch blond und kurz geschnitten, es umrahmte einen mächtig geformten Schädel – jene Art von Schädel, mit denen man eine Türe einschlägt, wie Chaucer von Miller sagte. Sein militärischer Schnurrbart und die Haltung seiner Schultern ließen den Soldaten erkennen, doch hatte er ein Paar jener besonders aufrichtigen und durchdringenden Augen, die man am häufigsten bei Matrosen findet. Sein Gesicht war ein wenig eckig, sein Kinn war eckig, seine Schultern waren eckig, sogar sein Rock war eckig. Tatsächlich hatte Max Beerbohm ihn in der damals modernen Richtung wilder Karikatur als die verkörperte Lehre des vierten Buches Euklid dargestellt.

Denn auch er war ein Mann der Öffentlichkeit, wenn auch seine Erfolge ganz anderer Art waren. Man mußte nicht in der besten Gesellschaft verkehren, wenn man von Kapitän Cutler hören wollte oder von der Belagerung von Hongkong und dem großen Marsch durch China. Man konnte nicht umhin, von ihm zu hören, wo immer man sich befand; sein Porträt war auf jeder zweiten Ansichtskarte zu sehen; die Karten und Berichte seiner Schlachten in jedem zweiten illustrierten Blatt; Lieder, die ihn besangen, waren in jedem zweiten Varieté oder von allen Drehorgeln zu hören. Sein Ruhm, wenn auch wahrscheinlich vorübergehender, war zehnmal größer, verbreiteter und ursprünglicher als der des anderen Mannes. In Tausenden von englischen Familienhäusern wurde er für eine überragende Größe Englands gehalten, wie Nelson. Doch hatte er unverhältnismäßig geringeren Einfluß in England als Sir Wilson Seymour.

Ein ältlicher Diener öffnete den beiden die Türe; es war ein Kammerdiener, dessen niedergeschlagene Miene und Haltung und dessen schäbiger schwarzer Rock mit der abgetragenen Hose in seltsamem Widerspruch standen zu der glitzernden Inneneinrichtung der Garderobe unserer berühmten Schauspielerin. Spiegel standen und hingen in allen erdenklichen Brechungswinkeln herum, so daß sie einem ungeheuren, hundertfach facettierten Diamanten glichen – wenn man sich im Innern eines Diamanten befinden könnte. Alle übrigen Formen des Luxus, einige Blumen, einige bunte Kissen, einige Bestandteile von Bühnenkostümen wurden von all den Spiegeln bis zum Wahnsinn arabischer Nächte vervielfältigt und tanzten umher und verschoben sich gegeneinander, je nachdem der umherschleichende Bedienstete einen der Spiegel herauszog oder gegen die Wand zurückschob.

Beide sprachen den schmierigen Diener mit Namen an, nannten ihn Parkinson und fragten nach der Dame als Fräulein Aurora Rome. Parkinson sagte, sie sei im Nebenzimmer, und er wolle hineingehen, um die Herren zu melden. Ein Schatten überflog das Gesicht der beiden Besucher; denn das Nebenzimmer war das Privatzimmer des großen Schauspielers, mit dem Fräulein Aurora zusammen spielte, und sie gehörte zu jener Art von Frauen, die Bewunderung nicht entfacht, ohne auch zugleich Eifersucht zu entfachen. Eine halbe Minute später jedoch wurde die Verbindungstüre geöffnet, und sie »trat auf«, wie immer – sogar im Privatleben –, so, daß die Stille selbst, die sie umgab, ein Beifallsgetöse zu sein schien, und ein wohlverdientes. Sie war in ein etwas seltsames Gewand von pfauengrünem und pfauenblauem Satin gekleidet, der wie grünes und blaues Metall schimmerte – das Entzücken von Kindern oder Ästheten –, und das schwere, tiefbraune Haar umrahmte eines jener Märchengesichter, die allen Männern gefährlich sind, insbesondere jedoch Knaben und Männern mit ergrauendem Haar. Sie spielte zusammen mit ihrem Partner, dem berühmten amerikanischen Schauspieler Isidore Bruno, eine besondere poetische und phantastische Wiedergabe des Sommernachtstraums, in welcher das künstlerische Schwergewicht auf Oberon und Titania gelegt war, oder mit anderen Worten auf Bruno und sie selbst. Inmitten traumhafter und erlesener Dekorationen, in mythischen Tänzen bewegt, rief dieses grüne Kostüm – schillernden Käferflügeln gleich – all den märchenhaften Eindruck einer Elfenkönigin wach. Doch stand ein Mann ihr persönlich in beinahe noch hellem Tageslicht gegenüber, so sah er nur auf das Antlitz dieser Frau.

Sie begrüßte beide Männer mit jenem strahlenden und verwirrenden Lächeln, mit dem sie so viele Männer in genau derselben gefahrvollen Distanz von sich hielt. Sie nahm von Cutler ein paar Blumen an, die ebenso tropisch und kostspielig waren wie seine Siege, und irgendein anderes Geschenk von Sir Wilson Seymour, das dieser Herr ihr etwas später und in etwas nonchalanterer Weise überreichte. Denn es widerstrebte seiner ganzen Art und Erziehung, heftige Gefühle zur Schau zu tragen, und zugleich seiner konventionellen Art von Konventionslosigkeit, so auffallende und allgemein sichtbare Dinge zu schenken wie Blumen. Er habe zufällig eine Kleinigkeit aufgegabelt, sagte er von etwas, das in der Tat eine Sehenswürdigkeit war; es war ein antiker griechischer Dolch aus dem Mykenischen Zeitalter, wie er wohl zur Zeit von Theseus und Hippolyta hätte getragen werden können. Wie alle Waffen der Heldenzeit aus Bronze gemacht, war der Dolch doch seltsamerweise noch immer scharf genug, um jemand damit erstechen zu können. Es sei tatsächlich die blattartige Form gewesen, die ihn angezogen habe; das Ding sei so vollkommen wie eine griechische Vase. Wenn es von irgendwelchem Interesse für Fräulein Rome wäre oder sie es irgendwie in ihrem Stück verwenden könne, so hoffe er, würde sie . . .

Die Türe ins Nebenzimmer wurde aufgerissen, und es erschien die große Gestalt eines Mannes, der zu dem erläuternden Seymour sogar in noch größerem Gegensatz stand als Kapitän Cutler. Beinahe sechseinhalb Fuß hoch und mit mehr als theatralischen Muskeln und Sehnen, glich Isidore Bruno, in einem prächtigen Leopardenfell und dem goldbraunen Schmuck Oberons, einem barbarischen Gotte. Er stützte sich auf eine Art Jagdspeer, der auf der Bühne wie ein leichter Silberstab wirkte, in dem kleinen und verhältnismäßig engen Raum jedoch so schlicht wie eine spitze Eisenstange aussah – und ebenso gefährlich. Des Mannes lebhafte, schwarze Augen rollten in vulkanischer Wut, sein bronzefarbenes Gesicht, so hübsch es auch war, zeigte in diesem Augenblick nur eine Kombination von hohen Backenknochen und zusammengekniffenen Zähnen, die gewisse amerikanische Mutmaßungen über seine Abstammung aus den Plantagen des Südens wachrief.

»Aurora«, fing er an, mit seiner tiefen, vor Leidenschaft bebenden Stimme, die so oft die Zuhörer ergriffen hatte, »willst du . . .«

Er hielt unschlüssig inne, da eine sechste Gestalt plötzlich in der Türöffnung aufgetaucht war – eine Gestalt, die in diesem Milieu so wenig am Platze war, daß sie beinahe lächerlich wirkte. Es war ein auffallend kleiner Mann in der schwarzen Kleidung eines römisch-katholischen Weltgeistlichen, der, insbesondere in Gegenwart Brunos und Auroras, aussah wie ein hölzerner Noah aus einer geschnitzten Arche. Er schien sich jedoch keines Gegensatzes bewußt zu sein, sondern sagte mit schlichter Höflichkeit: »Ich glaube, Fräulein Rome hat nach mir geschickt.«

Ein scharfer Beobachter hätte bemerken können, daß die Temperatur der allgemeinen Erregung bei dieser harmlosen Unterbrechung eher stieg. Die Sonderstellung dieses professionellen Junggesellen schien es den anderen klarzumachen, daß sie um die Frau herumstanden wie ein Ring verliebter Rivalen; ebenso wird beim Eintritt eines Fremden in einem beschneiten Mantel in ein Zimmer den darin Anwesenden erst richtig klar, daß es darin so heiß wie in einem Backofen ist. Die Gegenwart dieses einen Mannes, der sie nicht liebte, verschärfte das Empfinden Fräulein Romes, daß alle anderen in Liebe für sie entbrannt waren, und jeder auf eine gewissermaßen gefährliche Art: der Schauspieler mit allen Begierden eines Wilden und eines verwöhnten Kindes; der Soldat mit all dem primitiven Egoismus eines mehr willensstarken als geistigen Mannes; Sir Wilson mit jener täglich stärker werdenden Konzentration, mit der alte Hedonisten sich einer Liebhaberei hingeben; und endlich – mit der stumpfen Fasziniertheit eines Hundes – sogar der unterwürfige Parkinson, der sie vor ihren Triumphen gekannt hatte und nach Betreten der Garderobe jede ihrer Bewegungen mit seinen Augen verfolgte.

Ein schlauer Beobachter hätte jedoch noch etwas Sonderbareres bemerken können. Und der Mann, der einem schwarzen hölzernen Noah glich, dabei aber nicht ganz aller Schlauheit bar war, bemerkte es mit besonderem, wenn auch verhaltenem Vergnügen. Es war offensichtlich, daß die große Aurora, obwohl keineswegs gleichgültig gegen die Bewunderung des anderen Geschlechtes, in diesem Augenblick alle diese Männer, die sie bewunderten, loswerden und allein sein wollte mit dem einen Mann, der es nicht tat – der sie zumindest in diesem Sinne nicht bewunderte; denn der kleine Priester bewunderte – sogar mit viel Freude – die Entschlossenheit und weibliche Diplomatie, mit der sie sich an diese Aufgabe machte. Der kleine Priester beobachtete wie einen napoleonischen Feldzug die schnelle Präzision ihrer Politik, mit der sie alle verjagte, ohne einen einzigen zu verbannen. Bruno, der große Schauspieler, war so kindisch, daß man ihn leicht hinausschicken konnte; er verließ wie ein schmollendes Kind das Zimmer und schlug die Türe hinter sich zu. Cutler, der britische Offizier, war Ideen unzugänglich, aber korrekt in seiner Handlungsweise. Er würde alle Winke ignorieren, aber eher sterben, als den bestimmten Auftrag einer Dame ignorieren. Was Freund Seymour anbelangte, so mußte der anders behandelt werden; er wurde als letzter gelassen. Die einzige Art, ihn zu entfernen, war, vertrauensvoll an ihn als alten Freund zu appellieren, ihn in das Geheimnis der Räumung einzuweihen. Der Priester bewunderte Fräulein Rome aufrichtig, wie sie alle diese drei Zwecke in eine wohlerwogene Handlung umzusetzen verstand.

Sie ging zu Kapitän Cutler hinüber und sagte in ihrer gewinnendsten Art: »Ich werde all diese Blumen werthalten, weil es wahrscheinlich Ihre Lieblingsblumen sein dürften. Aber sie sind nicht vollzählig, wissen Sie, wenn meine Lieblingsblumen nicht dabei sind. Gehen Sie doch bitte, hinüber in jenes Geschäft an der Ecke dort und holen Sie mir einige Maiglöckchen, dann wird alles ganz wunderschön sein.«

Der erste Zweck ihrer Diplomatenkunst, der Abgang des wütenden Bruno, wurde damit gleichzeitig erfüllt. Er hatte seinen Speer bereits mit königlicher Gebärde wie ein Zepter dem erbarmungswürdigen Parkinson überreicht und war eben daran, sich auf einen gepolsterten Sitz wie auf einen Thronsessel niederzulassen. Doch bei diesem unverhohlenen Appell an den Rivalen funkelte in seinen opalisierenden Augäpfeln all die leidenschaftliche Unverschämtheit des Sklaven auf; er ballte einen Augenblick lang seine braunen Fäuste, stieß dann die Türe auf und verschwand in seine eigenen Gemächer. Doch inzwischen hatte Fräulein Romes Versuch, die britische Armee zu mobilisieren, nicht so gut geklappt, wie man hätte annehmen dürfen. Cutler hatte sich allerdings schnell und steif erhoben und war unbedeckten Hauptes zur Türe geschritten, wie auf einen Befehl hin. Doch in der gegen einen Spiegel lehnenden schlanken Gestalt Seymours lag vielleicht etwas zu aufreizend Elegantes, das den Kapitän veranlaßte, kurz bevor er den Ausgang erreichte, stehenzubleiben und den Kopf dahin und dorthin zu drehen wie ein irregemachter Bulldog.

»Ich muß diesem dummen Menschen den Weg zeigen«, flüsterte Aurora, zu Seymour gewandt, und lief in den Vorraum hinaus, um den sich entfernenden Gast zur Eile zu treiben.

Seymour, in seiner eleganten und sorglosen Pose, schien zu lauschen und sich erleichtert zu fühlen, als er die Dame dem Kapitän einige letzte Weisungen nachrufen hörte, dann schien sie sich kurz umzuwenden und lachend an das andere Ende der Passage zu laufen, das Ende, welches an der Terrasse oberhalb der Themse lag. Doch eine oder zwei Sekunden später verfinsterte sich Seymours Gesicht wieder. Ein Mann in seiner Position hat so viele Rivalen, und er erinnerte sich, daß an dem anderen Ende der Passage ein korrespondierender Eingang zu Brunos Privatzimmer führte. Er verlor nichts von seiner Würde, wechselte mit Pater Brown einige höfliche Worte über das Wiederaufleben byzantinischer Architektur in der Westminsterkathedrale und schlenderte dann ganz ungezwungen selbst hinaus auf die Passage. Pater Brown und Parkinson waren nun allein geblieben, und keiner von den beiden hatte etwas für unnötige Konversation übrig. Der Kammerdiener ging im Zimmer herum, zog Spiegel heraus und stieß sie wieder zurück, und seine schmierigen, dunklen Kleider sahen noch schäbiger aus, da er immer noch den prunkvollen Zauberstab König Oberons hielt. Jedesmal, sooft er den Rahmen eines neuen Spiegels hervorzog, erschien eine neue schwarze Gestalt Pater Browns; das unsinnige Spiegelzimmer war voller Pater Browns; sie hingen verkehrt in der Luft wie Engel, schlugen Purzelbäume wie Akrobaten und wendeten jedermann den Rücken wie ungewöhnlich ungezogene Leute.

Pater Brown schien diese ganze Schar von Zeugen nicht zu bemerken, sondern beobachtete Parkinson mit müßigen, aufmerksamen Blicken, bis dieser sich mitsamt seinem lächerlichen Speer ins Nebenzimmer, Brunos Garderobe, entfernte. Dann gab sich der Priester abstrakten Betrachtungen, die ihn stets zu unterhalten pflegten, hin – er berechnete die Winkel der Spiegel, die Winkel jeder Brechung, die Winkel, unter welchen jeder Spiegel an der Wand befestigt sein mußte . . . als er einen lauten, doch erstickten Schrei hörte.

Er sprang auf und stand wie gelähmt da, um zu lauschen. Im selben Augenblick stürzte Sir Seymour, bleich wie Elfenbein, ins Zimmer herein. »Wer ist dieser Mann in der Passage?« schrie er. »Wo ist der Dolch, den ich gebracht habe?«

Ehe Pater Brown sich in seinen schweren Stiefeln umdrehen konnte, wühlte Seymour im Zimmer herum und suchte die Waffe. Doch ehe er diese oder irgendeine andere Waffe hätte finden können, hörte man auf dem Pflaster draußen eilende Schritte, und in derselben Türöffnung erschien das eckige Gesicht Cutlers. Er hielt groteskerweise immer noch einen Strauß Maiglöckchen in der Hand. »Was ist das?« schrie er. »Wer ist der Kerl unten in der Passage? Irgendeiner Ihrer Tricks?«

»Meine Tricks?« zischte sein bleicher Rivale und machte einen Schritt auf ihn zu.

In dem Augenblick, da all dies vor sich ging, trat Pater Brown hinaus in den oberen Teil der Passage, blickte den Gang hinunter und eilte schnell auf das zu, was er sah.

Daraufhin ließen die anderen beiden Männer ihren Streit fallen und stürzten ihm nach, während Cutler rief: »Wer sind Sie?«

»Mein Name ist Brown«, sagte der Priester traurig, als er sich über etwas niedergebeugt und sich dann wieder aufgerichtet hatte. »Fräulein Rome hatte nach mir geschickt, und ich kam, so schnell ich konnte. Ich bin zu spät gekommen.«

Die drei Männer sahen zu Boden; das sterbende Licht des späten Nachmittags lief wie ein Goldstreifen über die Passage, in deren Mitte Aurora Rome strahlend in ihrem goldgrünen Gewande lag, das tote Antlitz nach oben gerichtet. Ihr Kleid war wie nach einem Kampf aufgerissen und ließ die rechte Schulter entblößt, doch die Wunde, aus der das Blut strömte, war auf der anderen Seite. Der Bronzedolch lag flach und glitzernd etwa eine Elle weit entfernt.

Es herrschte eine geraume Zeit hindurch tiefes Schweigen, so daß man aus der Ferne das Lachen eines Blumenmädchens vernahm und jemanden wütend nach einem Autotaxi pfeifen hörte. Dann packte der Kapitän mit einer so plötzlichen Bewegung, daß es Leidenschaft oder Theater sein konnte, Sir Wilson Seymour beim Hals.

Seymour, unerschrocken und unbeweglich, sah ihn durchdringend an. »Sie brauchen mich nicht umzubringen«, sagte er, in vollkommen gelassenem Ton; »das werde ich schon auf eigene Rechnung tun.«

Der Kapitän zögerte und ließ die Hand fallen; doch der andere fügte mit der gleichen eiskalten Aufrichtigkeit hinzu: »Wenn ich einsehen werde, daß ich die Kraft nicht habe, es mit jenem Dolch zu tun, so kann ich es in einem Monat durch Trinken erreichen.«

»Trinken ist nicht gut genug für mich«, erwiderte Cutler; »doch ehe ich sterbe, will ich dafür Blut haben. Nicht das Ihre – doch ich glaube zu wissen, wessen Blut.«

Und bevor die anderen seine Absicht erraten konnten, ergriff er den Dolch, sprang auf die nächste Türe am unteren Ende der Passage zu, stieß sie trotz Schloß und Riegel auf und stand Bruno in dessen Garderobe gegenüber. In diesem Augenblick trottete der alte Parkinson in seiner schwankenden Art aus der Türe heraus und erblickte die Leiche, die in der Passage lag. Zitternd näherte er sich ihr, blickte matt mit bebendem Gesicht nach ihr hin, ging dann zitternd in die Garderobe zurück und setzte sich plötzlich auf einen der reichverzierten und gepolsterten Stühle. Pater Brown lief augenblicklich zu ihm hinüber, ohne auf Cutler und den riesigen Schauspieler zu achten, obwohl das Zimmer bereits von ihren Schlägen widerhallte und sie anfingen, miteinander um den Dolch zu raufen. Seymour, der einigen gesunden Verstand bewahrt hatte, pfiff einen Polizisten herbei, der am anderen Ende der Passage stand.

Als die Polizei kam, mußte sie die beiden Männer auseinanderreißen, die einander mit affenähnlichem Griff umklammert hielten; und nach einigen formellen Fragen wurde Isidore Bruno auf die Beschuldigung des Mordes hin, die sein wütender Gegner vorbrachte, verhaftet. Der Gedanke, daß der große Nationalheld des Tages einen Übeltäter mit eigenen Händen gefangengenommen hatte, fiel zweifellos bei der Polizei schwer ins Gewicht, die eines gewissen journalistischen Elementes nicht ermangelt. Man behandelte Cutler mit feierlicher Hochschätzung und machte ihn darauf aufmerksam, daß er eine kleine Wunde an der Hand habe. Eben als Cutler zwischen umgeworfenen Stühlen und Tischen auf Bruno eingedrungen war, hatte dieser ihm den Dolch entwunden und ihn gerade unterhalb des Handgelenkes getroffen. Die Verletzung war wirklich nur unbedeutend, doch ehe der halbwilde Gefangene aus dem Zimmer gebracht werden konnte, starrte er mit befriedigtem Lächeln auf das fließende Blut.

»Schaut beinahe wie ein Kannibale aus. Nicht?« sagte der Polizeibeamte vertrauensvoll zu Cutler.

Cutler gab keine Antwort, sondern sagte einen Augenblick später etwas schroff: »Wir müssen nach der . . . Toten sehen . . .« und seine Stimme wurde unhörbar.

»Nach den beiden Toten«, fiel die Stimme des Priesters von der anderen Seite des Zimmers ein. »Dieser arme Kerl war tot, bevor ich zu ihm herüberkommen konnte.« Und er stand da und sah auf den alten Parkinson hinab, der zusammengekauert wie ein schwarzes Bündel auf dem prächtigen Stuhl saß. Auch er hatte, nicht ohne Beredsamkeit, der verstorbenen Frau seinen Tribut gezahlt.

Die Stille wurde zuerst von Cutler unterbrochen, der von einer rauhen Art Zärtlichkeit erfaßt schien. »Ich wollt', ich wäre er«, sagte er heiser. »Ich erinnere mich, wie er – mehr als irgendeiner – ihr mit den Blicken zu folgen schien, wenn sie umherging. Sie war seine Luft, und jetzt ist er verschmachtet. Er ist einfach tot.«

»Wir sind alle tot«, sagte Seymour mit seltsamer Stimme und blickte die Straße hinab.

Sie verabschiedeten sich an der Straßenecke von Pater Brown mit einigen belanglosen Entschuldigungen bezüglich etwaiger Formlosigkeiten, die sie sich vielleicht zuschulden hatten kommen lassen. Die Miene beider Männer war traurig, doch auch versteckt.

Das Gehirn des kleinen Priesters war immer wie ein Kaninchengehege wilder Gedanken, die einander zu schnell jagten, als daß er sie hätte festhalten können. Wie der weiße Schwanz eines Kaninchens fuhr ihm blitzartig der Gedanke durch den Kopf, daß er zwar des Kummers dieser beiden Männer gewiß sei, nicht aber ihrer Unschuld.

»Wir gehen nun wohl am besten alle«, sagte Seymour schwermütig; »wir haben alles getan, was in unserer Macht stand, um zu helfen.«

»Werden Sie meine Motive richtig verstehen«, fragte Pater Brown ruhig, »wenn ich sage, daß Sie alles getan haben, was in Ihrer Macht stand, um zu schaden?«

Beide fuhren wie schuldbewußt zurück, und Cutler fragte scharf: »Um wem zu schaden?«

»Um sich selbst zu schaden«, antwortete der Priester. »Ich möchte Ihren Kummer nicht noch vermehren, wenn es nicht allgemeine Menschenpflicht wäre, Sie zu warnen. Sie haben beinahe alles getan, was in Ihrer Macht stand, um sich an den Galgen zu bringen, wenn dieser Schauspieler freigesprochen werden sollte. Man wird mich sicherlich vorladen und verhören; ich werde gezwungen sein, auszusagen, daß, nachdem man den Schrei gehört hatte, Sie beide im Zustand höchster Aufregung ins Zimmer stürzten und einen Streit anfingen wegen jenes Dolches. Soviel ich unter Eid aussagen kann, könnte jeder von Ihnen es getan haben. Damit haben Sie sich geschadet; und dann hat Kapitän Cutler noch obendrein an jenem Dolch Schaden nehmen müssen!«

»Schaden nehmen!« rief der Kapitän verächtlich aus. »Ein dummer kleiner Kratzer.«

»Der Blut fließen machte«, erwiderte der Priester kopfnickend. »Wir wissen, daß jetzt auf der Klinge Blutspuren zu finden sind. Und darum werden wir niemals erfahren, ob vorher Blut daran war.«

Es entstand eine Stille; dann sagte Seymour mit einem Nachdruck, der seiner gewöhnlichen Art zu reden ganz fremd war: »Aber ich habe einen Mann in der Passage gesehen.«

»Das weiß ich«, antwortete der Kleriker mit einem wie aus Holz geschnittenen Gesicht, »auch Kapitän Cutler hat einen Mann dort gesehen. Das ist es, was so unwahrscheinlich scheint.«

Bevor sich einer darüber so weit klarwerden konnte, um auch nur zu antworten, hatte sich Pater Brown höflich entschuldigt und war mit seinem Stumpf von einem Regenschirm stapfend die Straße hinaufgegangen.

Bei modernen Zeitungen ist heute die wichtigste und sorgfältigst geführte Rubrik die Gerichtsrubrik. Wenn es wahr ist, daß im zwanzigsten Jahrhundert für Morde mehr Raum bleibt als für Politik, so hat das den einleuchtenden Grund, daß ein Mord eben eine ernstere Sache ist. Aber sogar dies würde die überwältigende Aufmachung kaum erklären können, in welcher der »Fall Bruno« oder »Das Geheimnis der Passage« in der Londoner Presse wie in allen Provinzblättern überall mit ausführlichen Details besprochen wurde. Die Aufregung war so groß, daß die Presse tatsächlich wochenlang die Wahrheit brachte; und die Berichte über die Verhöre und Kreuzverhöre sind, wenn auch endlos, ja sogar unerträglich, doch zumindest verläßlich. Der wahre Grund war natürlich das Interesse an den beteiligten Personen. Das Opfer war eine allgemein bekannte Schauspielerin; der Angeklagte war ein allgemein bekannter Schauspieler; und der Angeklagte war, wie die Dinge nun einmal standen, auf frischer Tat festgenommen worden von dem allgemein bekannten Offizier der patriotischen Saison. Durch diese ungewöhnlichen Umstände wurden die Zeitungen dermaßen in Aufregung versetzt, daß sie sich zu Aufrichtigkeit und Genauigkeit bestimmen ließen; daher kann der Rest dieser eigenartigen Geschichte tatsächlich aus den Berichten des Prozesses Bruno wiedergegeben werden.

Der Vorsitzende in diesem Prozeß war der Richter Monkhouse, einer von jenen, die man im allgemeinen als »witzige Richter« verhöhnt, die aber meist ernster sind, als die ernsten Richter; denn ihre heitere Ungezwungenheit entspringt einem lebendigen Unwillen gegen alle professionelle Feierlichkeit, während der ernste Richter eigentlich von Frivolität erfüllt ist, weil er von Eitelkeit erfüllt ist. Da alle Hauptbeteiligten gesellschaftlich bekannte Persönlichkeiten waren, hatte man die Gerichtsfunktionäre sorgfältig gewählt; der Staatsanwalt war Sir Walter Cowdray, ein schwerfälliger, doch gewichtiger Beamter von jener Art, die es versteht, englisch und vertrauenerweckend zu wirken und gleichsam nur mit Widerstreben rhetorisch zu sein. Der Angeklagte wurde von Herrn Patrick Butler verteidigt. Dieser Mann wurde von Leuten, die den irischen Charakter mißverstanden, und von jenen, die noch nicht von ihm verhört worden waren, fälschlich für einen bloßen »Flaneur« gehalten. Die medizinischen Untersuchungen ergaben keine Widersprüche, da der Arzt, den Sir Seymour an Ort und Stelle gerufen hatte, mit dem hervorragenden medizinischen Fachmann, der später die Leiche untersucht hatte, vollkommen übereinstimmte. Aurora Rome war mit irgendeinem scharfen Instrument erstochen worden, von der Art eines Messers oder Dolches; jedenfalls war es ein Instrument mit kurzer Spitze; die Wunde befand sich gerade oberhalb des Herzens, und der Tod war augenblicklich eingetreten. Als der erste Arzt sie sah, konnte sie kaum zwanzig Minuten tot gewesen sein. Daher mochten, als Pater Brown sie gefunden hatte, kaum drei Minuten nach Eintritt des Todes vergangen sein.

Dann folgte der Bericht irgendeines amtlichen Detektivs, der sich hauptsächlich mit dem Beweis oder dem Mangel eines Beweises für irgendein Anzeichen eines Kampfes beschäftigte; der einzige Hinweis darauf war, daß das Kleid an der Schulter aufgerissen war, und dies schien nicht besonders mit der Stelle des endgültigen Stoßes übereinzustimmen. Nachdem diese Details vorgebracht worden waren, obwohl sie unaufgeklärt blieben, wurde der erste Kronzeuge aufgerufen.

Sir Wilson Seymour machte seine Aussage so wie alles andere, was er überhaupt machte, das heißt nicht nur gut, sondern in geradezu vollendeter Weise. Obgleich selbst weit mehr ein Mann der Öffentlichkeit als der Richter, verstand er genau, die feine Nuance zu finden, durch die er dem königlichen Richter gegenüber in den Hintergrund trat; und obgleich er ein Ansehen genoß wie etwa der Premierminister oder der Erzbischof von Canterbury, so konnte man doch nichts anderes sagen, als daß seine Stellungnahme zu dieser Sache die irgendeines Privatmannes von gutem Namen sei. Er war in seinen Aussagen ebenso erfrischend klar und deutlich, wie er es in allen Komiteesitzungen war. Er hatte Fräulein Rome im Theater besucht; er war dort Kapitän Cutler begegnet; eine Zeitlang hatte sich ihnen auch der Angeklagte zugesellt, war dann jedoch in seine eigene Garderobe zurückgekehrt; dann war auch noch ein katholischer Priester hinzugekommen, der nach der Dame gefragt und sich mit dem Namen Brown vorgestellt hatte. Später war Fräulein Rome ein wenig aus dem Theatergebäude hinausgetreten, bis zum Eingang der Passage, um Kapitän Cutler einen Blumenladen zu zeigen, in dem er ihr einige Blumen kaufen sollte; der Zeuge war im Zimmer geblieben und hatte einige Worte mit dem Priester gewechselt. Er hatte dann deutlich gehört, wie die Verstorbene, nachdem sie den Kapitän fortgeschickt hatte, sich lachend umgedreht hatte und die Passage hinuntergelaufen war nach dem anderen Ende zu, an dem sich die Garderobe des Angeklagten befand. In bloßer Neugierde ob dieser schnellen Bewegung seiner Freundin war er selbst auf die Passage hinausgetreten und hatte in der Richtung der Türe des Angeklagten hinuntergesehen. Ob er etwas in der Passage gesehen habe? Ja, er habe etwas in der Passage gesehen.

Sir Walter Cowdray machte eine eindrucksvolle Pause, während welcher er zu Boden blickte und noch blässer als gewöhnlich erschien. Dann fragte der Vertreter des Rechts mit leiser Stimme, die anteilnehmend klang und zugleich doch etwas Schleichendes an sich hatte: »Haben Sie es deutlich gesehen?«

So erregt Sir Wilson Seymour auch war, blieben seine Gedanken doch vollkommen klar. »Ganz genau, was die Konturen anbelangt, doch ganz undeutlich, das heißt überhaupt nicht, was die Details innerhalb der Konturen anbelangt. Die Passage ist so lang, daß jeder, der sich in der Mitte befindet, ganz schwarz erscheint gegen das Licht am anderen Ende.« Der Zeuge senkte abermals seine Blicke und fügte hinzu: »Ich hatte diese Tatsache schon vorher bemerkt, als Kapitän Cutler zum erstenmal eintrat.« Es entstand wieder ein Schweigen, und der Richter beugte sich vor, um etwas zu notieren.

»Nun«, fragte Sir Walter geduldig, »wonach sahen die Konturen aus? Glichen sie zum Beispiel der Gestalt der ermordeten Frau?«

»Nicht im geringsten«, antwortete Seymour ruhig.

»Wonach denn schienen sie Ihnen auszusehen?«

»Es schien mir, als wäre es ein großer Mann gewesen«, erwiderte der Zeuge.

Jedermann im Saal bemühte sich, die Blicke auf seine Feder oder seinen Schirmgriff zu richten, oder auf seine Schuhe oder sein Buch oder auf was immer er nur zufällig schauen konnte. Man schien gewaltsam die Blicke vom Angeklagten abzuwenden, aber man war sich seiner Gestalt auf der Anklagebank bewußt, und war sich ihrer als riesig groß bewußt. So groß Bruno dem Auge auch erscheinen mochte, schien er jetzt immer größer und größer anzuschwellen, als alle Blicke von ihm abgewendet wurden.

Cowdray lehnte sich mit feierlichem Gesicht in seinen Stuhl zurück und glättete sein schwarzes, seidenes Gewand und seinen weißen seidenen Backenbart. Sir Wilson war, nachdem er zum Schluß noch einige Einzelheiten angegeben hatte, welche auch viele andere Leute bezeugen konnten, gerade im Begriff, die Zeugenbank zu verlassen, als der Verteidiger aufsprang und ihn zurückhielt.

»Ich möchte Sie nur noch einen Augenblick aufhalten«, sagte Herr Butler, ein bäuerlich aussehender Mann mit roten Augenbrauen, der einen etwas verschlafenen Eindruck machte. »Wollen Sie bitte dem hohen Gerichtshof sagen, woher Sie wußten, daß es ein Mann war?«

Ein schwaches, vornehmes Lächeln glitt über Seymours Züge. »Ich fürchte, ich urteilte nach dem gewöhnlichen Merkmal der Hosen«, sagte er. »Als ich das helle Tageslicht zwischen den langen Beinen sah, war ich schließlich davon überzeugt, daß es ein Mann war.«

Butlers schläfrige Augen öffneten sich mit der Plötzlichkeit einer stillen Explosion. »Schließlich!« wiederholte er langsam. »So haben Sie also anfangs geglaubt, es wäre eine Frau?«

Seymour sah zum erstenmal etwas bekümmert drein. »Es ist zwar kaum ein Tatsachenbeweis«, sagte er, »aber wenn es der hohe Gerichtshof wünscht, so werde ich natürlich über meinen Eindruck berichten. Es lag etwas in der Erscheinung, das zwar nicht ganz einer Frau glich und doch wieder nicht männlich wirkte; die Linien waren irgendwie anders. Und die Gestalt hatte etwas, das wie langes Haar aussah.«

»Danke«, sagte Herr Butler und setzte sich plötzlich nieder, als hätte er das bekommen, was er wollte.

Kapitän Cutler war ein weit weniger glaubwürdiger und gefaßter Zeuge als Sir Wilson, doch sein Bericht über die einleitenden Ereignisse war im wesentlichen derselbe. Er beschrieb, wie Bruno in seine Garderobe zurückkehrte, wie er selbst fortgeschickt wurde, um einen Strauß Maiglöckchen zu kaufen, wie er zu dem oberen Ende der Passage zurückkam, was er in der Passage gesehen hatte, wie er Seymour verdächtigt und dann mit Bruno gekämpft hatte. Doch konnte er nur wenig künstlerische Ausschmückungen hinzufügen bezüglich der schwarzen Gestalt, die er und Seymour gesehen hatten. Nach ihren Umrissen befragt, äußerte er – mit einem etwas zu offensichtlichen Grinsen gegen Seymour hin –, er sei kein Kunstkritiker. Darüber befragt, ob es eine Frau oder ein Mann war, sagte er – mit einem etwas zu offensichtlichen Knurren gegen den Angeklagten hin –, daß die Gestalt eher wie ein Tier ausgesehen hätte. Doch der Mann schien von aufrichtigem Zorn und Kummer so sehr bedrückt, daß Cowdray ihn schnell der Verpflichtung enthob, Tatsachen zu bestätigen, die schon ziemlich klar waren.

Auch der Verteidiger faßte sich kurz in seinem Kreuzverhör, obwohl er seiner Gewohnheit nach, sogar wenn er sich kurz faßte, ziemlich lange zu brauchen schien. »Sie haben einen eigentümlichen Ausdruck gebraucht«, sagte er, während er Cutler schläfrig betrachtete. »Was meinen Sie damit, daß die Gestalt eher wie ein Tier als wie ein Mann oder eine Frau aussah?«

Cutler schien ernstlich aufgeregt. »Vielleicht hätte ich das nicht sagen sollen«, erwiderte er, »doch wenn das Vieh riesige, buckelige Schultern hat wie ein Schimpanse und Borsten, die ihm vom Kopf abstehen, wie einem Schwein . . .«

Herr Butler fiel ihm mit seltsamer Ungeduld in die Rede. »Lassen Sie das, ob das Haar Schweinsborsten glich oder nicht«, sagte er. »Glich es Frauenhaar?«

»Frauenhaar?« schrie der Offizier. »Du lieber Gott, nein!«

»Der vorige Zeuge hat es behauptet«, erklärte der Verteidiger mit unbedenklicher Schnelligkeit. »Und hatte die Gestalt derlei geschwungene und halbweibliche Linien, wie dies in so beredsamer Weise angedeutet wurde? Nein? Keine weiblichen Linien? Die Gestalt war, wenn ich Sie richtig verstehe, eher schwerfällig und eckig?«

»Er mag sich vielleicht vorgebeugt haben«, sagte Cutler mit heiserer und etwas schwacher Stimme.

»Oder auch nicht«, sagte Herr Butler und setzte sich plötzlich zum zweitenmal nieder.

Der dritte Zeuge, der von Sir Walter Cowdray aufgerufen wurde, war der kleine katholische Geistliche, so klein im Vergleich zu den anderen, daß sein Kopf kaum über den Rand der Balustrade emporzureichen schien und es den Eindruck erweckte, als würde ein Kind verhört. Doch unglücklicherweise hatte es sich Sir Walter anscheinend irgendwie in den Kopf gesetzt, daß Pater Brown auf Seiten des Angeklagten stände, weil der Angeklagte ein böser Mensch und ein Ausländer war und sogar zum Teil schwarzes Blut in sich hatte. Darum fuhr er Pater Brown scharf an, sooft dieser stolze Pontifex versuchen wollte, etwas zu erklären, und er hieß ihn mit »Ja« oder »Nein« antworten und einfache Tatsachen berichten ohne jesuitische Auslegungen. Als Pater Brown in aller Schlichtheit zu sagen anfing, wer, seiner Meinung nach, der Mann in der Passage war, erklärte ihm der Vorsitzende, daß er seine Theorien nicht brauche.

»Eine schwarze Gestalt wurde in der Passage gesehen. Und Sie sagen, daß Sie diese schwarze Gestalt gesehen habe. Nun, wie war sie?«

Pater Brown blinzelte wie unter einem Tadel, aber er hatte seit langem den wörtlichen Sinn des Gehorsams kennengelernt. »Die Gestalt«, sagte er, »war kurz und dick und hatte zwei vorstehende, aufgebogene Hörner an jeder Seite des Kopfes, und . . .«

»Oh! Wahrscheinlich der Teufel mit seinen Hörnern«, rief Cowdray aus und lehnte sich in triumphierender Heiterkeit zurück. »Es war wohl der Teufel, der gekommen war, die Protestanten zu fressen.«

»Nein«, sagte der Priester, »ich weiß, wer es war.«

Die Leute im Saal waren zu dem unvernünftigen, doch entschiedenen Gefühl der Erwartung von etwas Monströsem aufgestachelt worden. Sie hatten die Gestalt auf der Anklagebank vergessen und dachten nur an die Gestalt in der Passage. Und die Gestalt in der Passage, die von den drei tüchtigen und ehrenwerten Männern nach dem eigenen Augenschein beschrieben wurde, war wie ein dahinschleichender Nachtmahr; der eine nannte sie eine Frau, der andere ein Tier und der dritte einen Teufel . . .

Der Richter sah Pater Brown mit halbgeschlossenen Augen und durchdringenden Blicken an. »Sie sind ein sehr merkwürdiger Zeuge«, sagte er, »aber Sie haben etwas an sich, das mich glauben macht, Sie wollen die Wahrheit sagen. Nun, wer war der Mann, den Sie in der Passage gesehen haben?«

»Ich war es selbst«, sagte Pater Brown.

Butler sprang in der herrschenden ungewöhnlichen Stille auf die Beine und sagte ganz ruhig: »Der hohe Gerichtshof wird mir ein kurzes Kreuzverhör gestatten«, und dann, ohne innezuhalten, warf er Brown die anscheinend zusammenhanglose Frage hin: »Sie haben von diesem Dolch gehört; Sie wissen, daß die Sachverständigen sagen, das Verbrechen sei mit einer kurzen Klinge verübt worden?«

»Ja, eine kurze Klinge«, stimmte Brown zu und nickte feierlich wie eine Eule, »aber mit einem sehr langen Griff.«

Bevor noch die Zuhörerschaft sich ganz von der Vorstellung befreien konnte, daß der Priester sich selbst gesehen hatte, wie er mit einer kurzen Klinge mit langem Griff, was die Sache irgendwie noch schrecklicher erscheinen ließ, einen Mord beging, beeilte er sich selbst, eine Erklärung zu geben.

»Ich meine, nicht nur Dolche haben kurze Klingen. Auch Speere haben kurze Klingen. Und auch Speere treffen mit der Spitze, geradeso wie Dolche, selbst wenn es sich um jene Spielereispeere handelt, die man im Theater verwendet. So wie der Speer, mit dem der alte Parkinson seine Frau tötete, eben als sie nach mir geschickt hatte, um ihre Familienangelegenheiten zu ordnen – und ich bin gerade zu spät gekommen, Gott verzeih mir! Aber er ist in Reue gestorben – er starb eigentlich aus Reue. Er konnte es nicht ertragen, was er getan hatte.«

Der allgemeine Eindruck der Leute war, daß der kleine Priester, der drauflosschwatzte, tatsächlich auf der Zeugenbank verrückt geworden war. Doch der Richter sah ihn immer noch mit weit offenen und gespannten Augen an; und der Verteidiger fuhr unbeirrt mit seinen Fragen fort.

»Wenn Parkinson es mit jenem Theaterspeer getan hat«, fragte Butler, »muß er ihn aus einer Entfernung von etwa vier Ellen geschleudert haben. Wie können Sie die Anzeichen eines Kampfes erklären, wie das von der Schulter gerissene Gewand?« Er war dazu übergegangen, diesen Mann, der hier bloß als Zeuge stand, wie einen Experten zu behandeln; aber niemand bemerkte dies im Augenblick.

»Das Gewand der armen Dame«, sagte der Zeuge, »war zerrissen, weil es sich in einem aus der Vertäfelung herausschiebbaren Rahmen verfangen hatte, der gerade hinter ihr herausgestoßen worden war. Sie bemühte sich loszukommen, und während sie damit beschäftigt war, kam Parkinson aus dem Zimmer des Angeklagten und schleuderte den Speer.«

»Ein verschiebbarer Rahmen?« wiederholte der Rechtsgelehrte mit seltsamer Stimme.

»Von der anderen Seite war es ein Spiegel«, erklärte Pater Brown. »Als ich in der Garderobe saß, bemerkte ich, daß einige dieser Spiegel vermutlich in die Passage hinausgeschoben werden können.«

Wieder trat ein langes, unnatürliches Schweigen ein, und diesmal war es der Richter, der endlich sprach. »Sie meinen also wirklich, daß Sie selbst der Mann waren, den Sie sahen, als Sie die Passage hinunterblickten – im Spiegel?«

»Jawohl; das wollte ich sagen«, erwiderte Brown, »aber man fragte mich nach den Umrissen der Gestalt; und unsere Hüte haben Ecken, die wie Hörner aussehen, und darum . . .«

Der Richter beugte sich vor, und seine alten Augen leuchteten noch mehr, und er sagte in ungemein deutlichem Tone: »Wollen Sie also wirklich sagen, daß dieses wilde, undefinierbare Etwas mit Linien und Frauenhaar und Männerhosen, das Sir Wilson Seymour gesehen hatte, Sir Wilson Seymour selber war?«

»Jawohl«, erwiderte Pater Brown.

»Und Sie wollen sagen, daß Kapitän Cutler, als er den Schimpansen mit den buckligen Schultern und Schweinsborsten sah, einfach nur sich selbst sah?«

»Jawohl.«

Der Richter lehnte sich mit einem Behagen zurück, in dem sich Zynismus oder Bewunderung ausdrückte. »Und können Sie uns sagen«, fragte er, »wieso gerade Sie Ihr eigenes Bild im Spiegel erkannt haben, wenn so erlauchte Männer dazu nicht imstande sind?«

Pater Brown blinzelte, noch peinlicher berührt als zuvor; dann stammelte er: »Wirklich, ich weiß es nicht . . . wenn es nicht darum ist, weil ich weniger oft hineinschaue.«

 


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