Gilbert Keith Chesterton
Das Paradies der Diebe
Gilbert Keith Chesterton

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Das Paradies der Diebe

Der große Muscari, der originellste aller toskanischen Dichter, betrat schnellen Schrittes sein Lieblingsrestaurant, das eine herrliche Aussicht auf das Mittelländische Meer bot, mit einer Sonnenplache überdeckt und von kleinen Zitronen- und Orangenbäumen umsäumt war. Kellner in weißen Schürzen legten bereits auf weißgedeckten Tischen die Insignien eines frühzeitigen und eleganten Lunchs zurecht; und dies schien bei Muscari ein Gefühl der Befriedigung noch zu verstärken, das schon beinahe an Prahlerei grenzte. Muscari hatte eine Adlernase wie Dante, Haare und Krawatte waren schwarz und flatternd; er trug einen schwarzen Mantel und hätte beinahe eine schwarze Maske tragen können, so sehr umgab ihn die Atmosphäre eines venezianischen Melodramas. Er benahm sich, als nähme ein Troubadour immer noch eine so bestimmte soziale Stellung ein wie ein Bischof. Er ging, soweit es sein Jahrhundert zuließ, buchstäblich wie Don Juan mit Rapier und Gitarre durch die Welt.

Denn er reiste niemals ohne sein Etui mit den Degen, mittels deren er viele glänzende Duelle ausgefochten hatte, und niemals ohne sein zweites Etui mit der Mandoline, auf der er Fräulein Ethel Harrogate, der ungemein konventionellen Tochter eines Bankiers aus Yorkshire, auf einer Ferienreise wirklich und wahrhaftig Serenaden dargebracht hatte. Und doch war er weder ein Scharlatan noch ein Kind; sondern ein heißblütiger, logisch denkender Lateiner, der eine Sache liebte und für sie einstand. Seine Gedichte waren so einfach und klar wie anderer Leute Prosa. Er verlangte nach Ruhm oder Wein oder Frauenschönheit mit einer so brennenden Unmittelbarkeit, wie sie für die nebelhaften Ideale oder nebelhaften Kompromisse des Nordens beinahe unverständlich ist; für Rassen mit verschwommenerem Empfinden roch die Intensität seines Verlangens nach Gefahr, ja nach Verbrechen. Wie das Feuer oder das Meer, war er zu einfach und ursprünglich, als daß man ihm vertrauen konnte.

Der Bankier und seine schöne Tochter wohnten in dem Hotel, zu dem Muscaris Restaurant gehörte; darum war es sein Lieblingsrestaurant. Nach einem flüchtig umhergeworfenen Blick erkannte er jedoch sofort, daß die englische Gesellschaft noch nicht heruntergekommen war. Das Restaurant funkelte und glitzerte, war aber noch verhältnismäßig leer. Zwei Priester sprachen miteinander an einem Tisch in einer Ecke, doch Muscari achtete ihrer nicht mehr als eines Paares Krähen. Aber von einem noch weiter entfernten Platz, der durch ein Zwergbäumchen voll goldener Orangen halb verdeckt war, erhob sich eine Gestalt, deren Kleidung in auffallendstem Gegensatz zu der des anderen stand, und näherte sich dem Dichter.

Diese Gestalt trug einen buntkarierten Anzug, eine rosafarbene Krawatte, einen steifen Kragen mit spitzen Ecken und leuchtend gelbe Schuhe. Der Mann brachte es zuwege, auffallend und gewöhnlich zugleich auszusehen. Doch als diese Londoner Erscheinung näher kam, mußte Muscari mit Staunen bemerken, daß der Kopf sich vom Körper gar sehr unterschied. Es war ein italienischer Kopf, dunkelfarbig, kraushaarig und ungemein lebhaft, der sich plötzlich aus dem wie Pappendeckel emporstehenden Kragen und der komischen rosafarbenen Krawatte erhob. Es war tatsächlich ein Kopf, den er kannte. Er erkannte ihn, trotz der schrecklichen Aufmachung eines englischen Ferienreisenden; es war das Gesicht eines alten, doch vergessenen Freundes namens Ezza. Dieser Jüngling war auf der Schule ein Wunder gewesen; man hatte ihm, als er fünfzehn war, den Ruhm ganz Europas vorausgesagt; doch als er in der Welt erschien, versagte er erst öffentlich als Dramatiker und Demagoge und dann privat in allen darauffolgenden Jahren als Schauspieler, Reisender, Agent und Journalist. Muscari hatte ihn zuletzt hinter den Rampenlichtern gesehen; Ezza war nur zu gut vertraut mit den Reizmitteln dieses Berufes, und man glaubte, daß ihn irgendein moralisches Unheil befallen habe.

»Ezza!« rief der Dichter, stand auf und schüttelte ihm in angenehmer Überraschung die Hände. »Nun, ich habe dich in vielen Kostümen gesehen, aber ich hätte nie erwartet, dich als Engländer verkleidet zu sehen.«

»Dies«, antwortete Ezza ernst, »ist nicht das Kostüm eines Engländers, sondern das des Italieners der Zukunft.«

»In diesem Falle«, bemerkte Muscari, »muß ich gestehen, daß ich den Italiener der Vergangenheit vorziehe.«

»Das ist dein alter Fehler, Muscari«, sagte kopfschüttelnd der Mann im karierten Anzug. »Und der Fehler Italiens. Im sechzehnten Jahrhundert waren wir Toskaner der aufgehende Morgen: wir hatten den neuesten Stahl, die neuesten Schnitzereien, die neuesten Chemikalien. Warum sollten wir jetzt nicht die neuesten Fabriken haben, die neuesten Motoren, die neuesten Finanzen – und die neuesten Kleider?«

»Weil es nicht lohnt, sie zu haben«, antwortete Muscari. »Du kannst Italien nicht zu einem wirklich fortschrittlichen Land machen; die Leute sind zu klug dazu. Menschen, welche die Abkürzungswege zu einem guten Leben kennen, werden niemals jene neuen, mühevollen Straßen wandern.«

»Nun, für mich ist Marconi und nicht d'Annunzio der Stern Italiens«, sagte der andere. »Darum bin ich Futurist geworden – und Reiseführer.«

»Reiseführer!« rief Muscari lachend aus. »Ist das der letzte Beruf auf deiner Liste? Und wen führst du?«

»Oh, einen Menschen namens Harrogate mit seiner Familie, glaube ich.«

»Doch nicht etwa den Bankier, der hier im Hotel wohnt?« fragte der Dichter mit einigem Eifer.

»Ja, das ist mein Mann«, antwortete der Reiseführer.

»Ist das ein einträgliches Geschäft?« fragte der Troubadour unschuldig.

»Ich werde auf meine Kosten kommen«, rief Ezza mit sehr rätselhaftem Lächeln. »Aber ich bin ein etwas merkwürdiger Reiseführer.« Dann, als wollte er das Thema wechseln, sagte er ziemlich unvermittelt: »Er hat eine Tochter – und einen Sohn.«

»Die Tochter ist göttlich«, bestätigte Muscari, »Vater und Sohn sind, glaub' ich, nur menschlich. Aber, seinen harmlosen Charakter zugegeben, fällt es dir nicht auf, daß dieser Bankier ein wunderbares Beispiel für meine Behauptung ist? Harrogate hat Millionen in seinen Safes, und ich habe – ein Loch in meiner Tasche. Aber du wirst nicht sagen wollen – du kannst nicht sagen –, daß er klüger ist als ich, oder kühner oder auch nur rühriger. Er ist nicht klug; er hat Augen, die wie blaue Knöpfe aussehen; er ist nicht rührig, er bewegt sich von einem Stuhl zum anderen wie ein Paralytiker. Er ist ein gewissenhafter, freundlicher alter Dummkopf; aber er hat Geld erworben, einfach weil er Geld sammelt, wie ein Knabe Marken sammelt. Du bist zu geistreich, um Geschäfte zu machen, Ezza. Du würdest nicht vorwärtskommen. Um klug genug zu sein, all das Geld zusammenzukriegen, muß man dumm genug sein, es zu wünschen.«

»Dazu bin ich dumm genug«, sagte Ezza düster. »Aber ich würde vorschlagen, deine Kritik des Bankiers aufzuschieben, denn da kommt er eben.«

Herr Harrogate, der große Finanzmann, trat wirklich ein, doch niemand sah ihn an. Er war ein kräftig gebauter, ältlicher Herr mit verwaschenen blauen Augen und verblichenem, sandgrauem Schnurrbart; doch seinen schweren Schritten nach hätte er ein Oberst sein können. Er trug einige ungeöffnete Briefe in der Hand. Sein Sohn, Frank, war ein wirklich hübscher Bursche, mit lockigem Haar, sonnverbrannt und sehnig; aber auch ihn sah niemand an. Alle Augen waren, wie gewöhnlich, zumindest für den Augenblick, auf Ethel Harrogate gerichtet, deren goldener griechischer Kopf absichtlich wie die Farbe der Morgendämmerung gegen den Hintergrund der saphirfarbenen See gestellt zu sein schien, gleich dem Haupt einer Göttin. Der Dichter Muscari holte tief Atem, als tränke er etwas mit vollen Zügen, was er auch eigentlich tat. Ezza betrachtete sie mit ebenso gierigen und weit verwirrenderen Blicken.

Fräulein Harrogate war bei dieser Gelegenheit besonders strahlend und zu einer Unterhaltung bereit; auch hatte sich ihre Familie den einfacheren Gebräuchen des Kontinents angepaßt, die dem Fremdling Muscari und sogar dem Reiseführer Ezza gestatteten, an ihrem Tisch Platz zu nehmen und sich an ihrem Gespräch zu beteiligen. In Ethel Harrogate fand der Konventionalismus in einer seltenen Vollkommenheit und einem ganz eigenartigen Reiz seine Krönung. Stolz auf ihres Vaters Erfolge und voll Freude an fashionablen Vergnügungen, eine liebevolle Tochter und durchtriebene kleine Kokette, war sie alles dies zugleich, und zwar mit einer Art goldener Gutmütigkeit, die sogar ihren Stolz liebreizend und ihre weltliche Respektabilität frisch und herzlich erscheinen ließen.

Die Harrogates befanden sich in großer Aufregung wegen einer angeblichen Gefährdung des Bergpfades, den sie in derselben Woche noch zu benutzen hätten. Die Gefahr rührte nicht von Felsen und Lawinen her, sondern von etwas noch Romantischerem. Man hatte Ethel ernstlich versichert, daß Räuber, wahrhaftige Halsabschneider wie in noch heute lebendigen alten Sagen, diesen Bergrücken immer noch heimsuchten und diesen Apenninenpaß besetzt hielten.

»Man sagt«, rief sie mit der vollständigen Hingabe eines Schulmädels, »daß dieses ganze Land nicht vom König von Italien beherrscht werde, sondern von dem König der Räuber. Wer ist der König der Räuber?«

»Ein großer Mann«, erwiderte Muscari, »einer, der wert ist, mit Ihrem Robin Hood in eine Reihe gestellt zu werden, Signorina. Von Montano, dem König der Räuber, hörte man zum erstenmal vor etwa zehn Jahren in den Bergen, als die Leute sagten, daß die Räuber ausgerottet worden seien. Doch seine wilde Autorität verbreitete sich mit der Schnelligkeit einer heimlichen Revolution. Die Leute fanden seine grimmen Proklamationen in allen Bergdörfern angenagelt; seine Schildwachen, Gewehr in Hand, in jeder Bergschlucht. Sechsmal hat die italienische Regierung versucht, ihn zu vertreiben, und sie wurde in sechs richtigen Schlachten, wie von Napoleon, geschlagen.«

»Nun, so etwas«, bemerkte der Bankier mit Nachdruck, »würde in England niemals erlaubt werden; vielleicht sollten wir doch eine andere Route wählen. Doch unser Reiseführer dachte, sie wäre vollkommen sicher.«

»Sie ist vollkommen sicher«, sagte der Reiseführer verächtlich. »Ich habe sie zwanzigmal passiert. Es mag sich dort irgendein alter Zuchthäusler herumgetrieben haben zur Zeit unserer Großmütter, aber der gehört der Geschichte an, wenn nicht dem Reich der Fabel. Die Straßenräuberei ist vollkommen ausgerottet.«

»Sie kann niemals vollständig ausgerottet werden«, antwortete Muscari, »weil die gewalttätige Revolte eine dem Südländer natürliche Reaktion ist. Unsere Bauern sind wie die Berge, reich an Anmut und grüner Heiterkeit, doch brennt das Feuer in ihnen. Es gibt einen Punkt menschlicher Verzweiflung, auf dem die Armen des Nordens sich dem Trunk ergeben – und unsere Armen nach dem Degen greifen.«

»Ein Dichter hat das Privileg, solche Ansichten zu äußern«, sagte Ezza grinsend. »Wäre Signor Muscari ein Engländer, so würde er in Wandworth immer noch nach Straßenräubern ausschauen. Glauben Sie mir, es besteht in Italien nicht mehr Gefahr gefangengenommen zu werden, als in Boston skalpiert zu werden.«

»Dann schlagen Sie also vor, es zu wagen?« fragte Herr Harrogate stirnrunzelnd.

»Oh, das klingt ja beinahe gruselig«, rief das Mädchen und richtete ihre strahlenden Augen auf Muscari. »Glauben Sie wirklich, daß der Paß gefährlich sei?«

Muscari warf seine schwarze Mähne zurück. »Ich weiß, daß er gefährlich ist«, sagte er. »Ich überschreite ihn morgen.«

Der junge Harrogate blieb einen Augenblick lang allein zurück, während er sein Glas Weißwein leerte und eine Zigarette anzündete; die Schöne mit dem Bankier, der Reiseführer und der Dichter hatten sich erhoben und zogen sich zurück. In diesem Augenblick standen die beiden Priester in der Ecke auf, und der größere von den beiden, ein weißhaariger Italiener, verabschiedete sich. Der kleinere Priester wendete sich um und schritt auf den Sohn des Bankiers zu; dieser war erstaunt zu sehen, daß der Mann, obwohl römisch-katholischer Priester, ein Engländer war. Er erinnerte sich dunkel, ihm bei sozialen Versammlungen einiger katholischer Freunde begegnet zu sein. Aber der Mann sprach, ehe Harrogate sein Gedächtnis vollkommen sammeln konnte.

»Herr Frank Harrogate, glaube ich«, sagte der Priester. »Ich hatte schon einmal das Vergnügen, aber ich will mich nicht darauf berufen. Das Merkwürdige, was ich Ihnen zu sagen habe, kommt wahrscheinlich besser von einem Fremden. Herr Harrogate, ich sage nur ein Wort und will dann gehen: Geben Sie auf Ihre Schwester acht, ihr droht ein schwerer Kummer.«

Sogar für Franks wahrhaft brüderliche Gleichgültigkeit schien die strahlende und ausgelassene Heiterkeit seiner Schwester etwas Klingendes, Funkensprühendes an sich zu haben; er konnte ihr Lachen noch aus dem Hotelgarten herüberhören; und voll Verwirrung starrte er seinen düsteren Ratgeber an.

»Meinen Sie die Räuber?« fragte er, und dann, sich eines undeutlichen Angstgefühls erinnernd, das er selbst empfunden hatte, »oder denken Sie vielleicht an Muscari?«

»Man denkt nie an die wahre Ursache eines Kummers«, sagte der seltsame Priester. »Man kann nur gütig sein, wenn er sich zeigt.«

Und er verließ schnell den Raum, in dem er den anderen beinahe mit offenem Mund zurückließ.

 

Ein oder zwei Tage später kroch ein Wagen, der die Gesellschaft führte, wirklich empor und arbeitete sich in den Furchen der drohenden Bergkette hinauf. Zwischen Ezzas fröhlicher Leugnung aller Gefahren und Muscaris prahlerischer Herausforderung derselben blieb die Familie des Finanzmannes fest in ihrem ursprünglichen Entschluß, und Muscari machte die Gebirgsreise mit ihnen zusammen. Einen überraschenderen Anblick bildete an der Station der Küstenstadt das Erscheinen des kleinen Priesters aus dem Restaurant; er brachte nur vor, daß Geschäftsangelegenheiten ihn auch nach Überschreitung der Berge in das Innere des Landes führten. Doch der junge Harrogate konnte seine Gegenwart nur mit der geheimnisvollen Angst und Warnung des vergangenen Tages in Zusammenhang bringen.

Der Wagen war eine Art bequemer kleiner Waggon, ersonnen von dem modernisierenden Talent des Reiseführers, dessen wissenschaftlicher Tätigkeitsdrang und behender Geist die Expedition leitete. Die Theorie einer von Räubern drohenden Gefahr war aus den Reden und Gedanken aller verbannt, obwohl man sich der Form halber herbeigelassen hatte, einige leichte Vorsichtsmaßregeln anzuwenden. Der Reiseführer und der junge Bankier trugen geladene Revolver, und Muscari hatte, mit viel knabenhafter Freude, eine Art Hirschfänger unter seinem schwarzen Mantel umgeschnallt.

Er hatte es verstanden, seine Person in sprungbereiter Nähe der lieblichen Engländerin zu halten; an ihrer anderen Seite saß der Priester, der Brown hieß und glücklicherweise ein stiller Mensch war; der Reiseführer, der Vater und der Sohn saßen auf dem Rücksitz. Muscari befand sich in gehobener Stimmung, denn er glaubte ernstlich an die Gefahr, und dem Gespräch nach, das er mit Ethel führte, hätte sie leicht auf den Gedanken kommen können, er leide an Manie. Aber in diesem waghalsigen und überwältigenden Aufstieg zwischen felsigen Gipfeln, an deren Hängen sich Wälder von Obstbäumen hinzogen, lag etwas, das den Geist des Mädchens mit dem des Dichters in den Purpur übernatürlicher Himmelsregionen von kreisenden Sonnen emporhob. Die weiße Straße kletterte wie eine weiße Katze hinauf; sie überbrückte düstere Abgründe wie ein gespanntes Seil; sie lag über weite Landstrecken geworfen wie ein Lasso.

Und wie hoch sie auch kamen, überall blühte das verlassene Land wie eine Rose. Die Felder waren von Wind und Sonne gebräunt und Hunderte von Blumen leuchteten in den prächtigen Farben wie Eisvögel, Papageien und Kolibris. Es gibt keine lieblicheren Wiesen und Wälder als die englischen; keine erhabeneren Hänge und Abgründe als Snowdon und Glencoe. Doch Ethel Harrogate hatte nie zuvor die südlichen Gärten zu Füßen der zerklüfteten Bergspitzen des Nordens, die Schluchten Glencoes mit den Früchten Kents beladen gesehen. Es war hier nichts von der Öde und Verlassenheit, die man in Britannien mit dem Gedanken hoher und wilder Szenerie verbindet. Es war eher wie ein vom Erdbeben zertrümmertes Mosaikschloß; oder wie ein holländischer Tulpengarten, mit Dynamit bis zu den Sternen gesprengt.

»Es ist wie Kew Gardens auf Beachy Head«, sagte Ethel.

»Es ist unser Geheimnis«, antwortete Muscari, »das Geheimnis des Vulkans; das ist auch das Geheimnis der Revolution – daß etwas gewalttätig und doch fruchtbar sein kann.«

»Sie sind selbst ein bißchen gewalttätig«, und sie lächelte ihm zu.

»Und doch ein wenig unfruchtbar«, gab er zu; »wenn ich heute nacht sterbe, so sterbe ich unverheiratet und als Narr.«

»Es ist nicht meine Schuld, daß Sie mitgekommen sind«, sagte sie nach einem peinlichen Schweigen.

»Es ist niemals Eure Schuld«, antwortete Muscari; »es war nicht Eure Schuld, daß Troja fiel.«

Während er sprach, fuhren sie unter überhängenden Felswänden vorbei, die sich beinahe wie Flügel über eine besonders gefahrvolle Wegbiegung breiteten. Stutzig gemacht von dem großen Schatten auf der schmalen, simsartig vorspringenden Straße, scheuten die Pferde ängstlich zurück. Der Kutscher sprang ab, um sie bei den Zügeln zu fassen, doch er verlor die Gewalt über sie. Eines der Pferde bäumte sich in seiner vollen Größe auf – zu der titanischen und erschreckenden Größe eines Pferdes, wenn es zu einem Zweifüßler wird. Es war eben genug, um das Gleichgewicht zu stören; der ganze Wagen kippte Hals über Kopf um wie ein Boot und fiel krachend durch das Buschwerk am Rande der Felswand. Muscari schlang seinen Arm um Ethel, die sich an ihn klammerte und laut aufschrie. Um solcher Augenblicke willen lebte er!

In diesem Augenblick, als die ungeheuerlichen Bergwände sich um den Kopf des Dichters wie Windmühlenflügel drehten, geschah etwas, das zumindest noch erstaunlicher war. Der ältliche und lethargische Bankier sprang aufrecht im Wagen in die Höhe und in den Abgrund, ehe das umgekippte Vehikel ihn dahin bringen konnte. Im ersten Augenblick sah es wie wilder Selbstmord aus; aber im zweiten erwies es sich als so klug wie eine sichere Kapitalsanlage. Der Mann aus Yorkshire verfügte augenscheinlich über mehr Schlauheit und schnelle Entschlußfähigkeit, als Muscari ihm zugetraut hätte. Denn er landete auf einem Fleckchen, das absichtlich mit weichem Gras und Klee ausgepolstert worden zu sein schien, um ihn zu empfangen. Es geschah tatsächlich so, daß die ganze Gesellschaft ebenso glücklich, wenn auch äußerlich nicht ganz so würdevoll, dort abgesetzt wurde. Unmittelbar unterhalb dieser plötzlichen Straßenbiegung befand sich eine gras- und blumenbewachsene Mulde, einer versunkenen Wiese gleich, eine Art grüner Samttasche in dem langen, grünen Schleppgewand der Hügel. Da hinein wurden sie alle mit geringem Schaden ausgeleert oder umgekippt, nur ihr kleines Gepäck und sogar der Inhalt ihrer Taschen lagen rings im Gras verstreut. Der zerbrochene Wagen hing noch oben im dichten Gebüsch, während die Pferde mühsam den Abhang herunterglitten. Der kleine Priester war der erste, der sich wieder aufsetzte und sich mit einem närrisch erstaunten Gesicht den Kopf kratzte; Frank Harrogate hörte, wie er zu sich selbst sagte: »Jetzt möchte ich wissen, wieso wir ausgerechnet hierher gefallen sind!«

Er sah sich rings unter den verstreuten Dingen um und entdeckte seinen ungewöhnlich plumpen Schirm. Dahinter lag der breitkrempige Hut Muscaris und daneben ein versiegelter Geschäftsbrief, den er nach einem flüchtig darauf geworfenen Blick dem älteren Harrogate überreichte. Auf der andern Seite lag Fräulein Ethels Sonnenhut, halb vom Gras verdeckt, und unmittelbar daneben ein merkwürdiges kleines Glasfläschchen, kaum zwei Zoll lang. Der Priester hob es auf, öffnete den Stöpsel mit einer schnellen, unauffälligen Bewegung und schnüffelte daran; sein ausdrucksloses Gesicht wurde aschfahl.

»Gott steh uns bei!« murmelte er, »es kann doch wohl nicht ihr gehören?« Er ließ das Fläschchen in seine Westentasche gleiten. »Ich glaube dazu berechtigt zu sein«, sagte er zu sich, »bis ich ein wenig mehr erfahren habe.«

Er guckte verstohlen mit schmerzvollen Blicken nach dem Mädchen, das in diesem Augenblick von Muscari aus den Blumen gehoben wurde, und zwar mit den Worten: »Wir sind in den Himmel gefallen; es ist ein Zeichen. Sterbliche klettern aufwärts und fallen abwärts; nur Göttern und Göttinnen ist es vergönnt, aufwärts zu fallen.«

Und wirklich erhob sie sich aus diesem Meer von Farben so schön und glücklich – eine Vision, die des Priesters Verdacht aus seinem Kopf vertreiben und vertilgen zu wollen schien. »Schließlich gehört das Gift vielleicht doch nicht ihr«, dachte er; »vielleicht ist es nur einer von Muscaris melodramatischen Tricks.«

Muscari stellte die Dame leicht auf die Beine, machte eine närrisch-theatralische Verbeugung vor ihr und hackte dann sofort mit dem gezogenen Hirschfänger aus aller Kraft auf die verwickelten Geschirre der Pferde los, bis sie auf die Beine kriechen konnten und zitternd auf der Wiese standen. Nachdem Muscari dies getan hatte, geschah etwas sehr Merkwürdiges. Ein sehr stiller Mann, sehr ärmlich gekleidet und ungemein sonnverbrannt, trat aus dem Gebüsch und faßte die Pferde an den Zügeln. Er trug ein seltsam geformtes, sehr breites, gebogenes Messer am Gürtel. Sonst war nichts Merkwürdiges an ihm, nur eben dieses plötzliche und stille Auftreten. Der Dichter fragte ihn, wer er sei, und er antwortete nicht.

Als sich Muscari rings unter den verwirrten und erstaunten Leuten in der Mulde umsah, bemerkte er, daß ein zweiter gebräunter und zerlumpter Mann, mit einem Karabiner unterm Arm, die Ellbogen aufs Gras gestützt, vom unteren Rande der Wiese aus zu ihnen heraufsah. Dann blickte Muscari zur Straße hinauf, von der sie heruntergefallen waren, und sah die Mündungen von vier weiteren Karabinern und vier weitere braune Gesichter mit weit offenen, aber vollkommen unbeweglichen Augen auf sich herabblicken.

»Die Räuber!« schrie Muscari mit einem gewissen ungeheuerlichen Frohlocken. »Das war eine Falle. Ezza, wenn du die Freundlichkeit haben wolltest, zuerst den Kutscher zu erschießen, so können wir noch durchkommen. Sie sind ihrer nur sechs.«

»Der Kutscher«, sagte Ezza, der grimmig, die Hände in den Taschen, dastand, »ist zufällig ein Diener des Herrn Harrogate.«

»Dann erschieß ihn um so mehr«, rief der Dichter ungeduldig; »er ist bestochen worden, seinen Herrn umzuwerfen. Dann wollen wir die Dame in die Mitte nehmen und die Schlachtreihe dort oben durchbrechen – in einem schnellen Ansturm.«

Und durch das dichte, blumenübersäte Gras watend, näherte er sich furchtlos den vier Karabinern; doch als er bemerkte, daß ihm niemand folgte, mit Ausnahme des jungen Harrogate, drehte er sich um und schwenkte den Hirschfänger, um die anderen herbeizuwinken. Er sah den Reiseführer, immer noch etwas abseits inmitten des Wiesenrundes, die Hände in den Taschen, dastehen, indes sein schmales, ironisches, italienisches Gesicht im Abendlicht immer länger und länger zu werden schien.

»Du glaubtest, Muscari, ich sei der Mißratene unter den Schulkameraden«, sagte er, »und dich hieltest du für den Erfolgreichen. Aber ich habe doch den größeren Erfolg erzielt und werde in der Geschichte den wichtigeren Platz einnehmen. Ich habe Epen geschaffen, während du sie geschrieben hast.«

»Komm vorwärts!« donnerte Muscari von oben. »Willst du dort stehenbleiben und Unsinn schwätzen, wenn du eine Dame zu retten hast und drei starke Männer dir helfen wollen? Wie, glaubst du, wird man dich da nennen?«

»Man nennt mich Montano«, rief der seltsame Reiseführer mit ebenso lauter und volltönender Stimme. »Ich bin der König der Räuber, und ich heiße euch alle in meiner Sommerresidenz willkommen.«

Und während er sprach, traten noch fünf weitere stille Männer mit bereitgehaltenen Waffen aus dem Gebüsch hervor und blickten ihn an, als erwarteten sie seine Befehle. Einer von ihnen hielt ein großes Papier in der Hand.

»Dieses hübsche kleine Nest, in dem wir hier alle ein Picknick feiern«, fuhr der räuberische Reiseführer mit demselben spöttischen, doch düsteren Lächeln fort, »ist zusammen mit einigen unterirdischen Höhlen unter dem Namen ›Paradies der Diebe‹ bekannt. Es ist meine stärkste Befestigung auf diesen Hügeln; denn wie Sie bemerkt haben dürften, ist der Horst sowohl von der oben führenden Straße wie auch von dem darunter liegenden Tal aus unsichtbar. Er ist noch etwas Besseres als uneinnehmbar; er ist unauffindbar. Hier lebe ich zumeist, und hier werde ich sicherlich sterben, falls mich die Gendarmen hier jemals aufspüren sollten. Ich gehöre nicht zu jener Art von Verbrechern, die ihre ›Verteidigung in der Reserve halten‹, sondern zu der besseren Art, die ihre letzte Kugel in Reserve halten.«

Alle starrten ihn wie vom Donner gerührt schweigend an, mit Ausnahme Pater Browns, der einen tiefen Seufzer der Erleichterung ausstieß und die kleine Phiole in seiner Tasche befingerte. »Gott sei Dank!« murmelte er, »das ist weitaus wahrscheinlicher. Das Gift gehört natürlich diesem Räuberhauptmann. Er trägt es wie Cato bei sich, damit er niemals gefangengenommen werden kann.«

Der Räuberkönig fuhr jedoch fort, seine Ansprache mit derselben gefährlichen Höflichkeit vorzubringen. »Es bleibt mir nur noch übrig«, sagte er, »meinen Gästen die gesellschaftlichen Bedingungen mitzuteilen, unter denen ich das Vergnügen habe, sie zu bewirten. Ich brauche wohl nicht erst die althergebrachte Tradition des Lösegeldes zu erklären, das einzuheben meine Pflicht ist; auch trifft dies nur einen Teil der Gesellschaft. Den hochwürdigen Pater Brown und den berühmten Signor Muscari werde ich im kommenden Morgengrauen freigeben und bis zu meinen äußeren Wachtposten eskortieren lassen. Poeten und Priester haben, wenn Sie meine einfache Rede freundlichst entschuldigen wollen, niemals Geld. Und darum – da es unmöglich ist, etwas aus ihnen herauszuholen – wollen wir die Gelegenheit ergreifen, unsere Bewunderung für klassische Literatur und unsere Verehrung für die heilige Kirche zu beweisen.«

Er hielt mit einem unangenehmen Lächeln inne; Pater Brown blinzelte wiederholt nach ihm hin und schien plötzlich mit großer Aufmerksamkeit zuzuhören. Der Räuberhauptmann nahm das große Papier von dem wartenden Räuber und, es flüchtig mit einem Blick streifend, fuhr er fort:

»Meine übrigen Absichten sind klar auseinandergesetzt in diesem öffentlichen Dokument hier, das ich sofort herumreichen lassen werde, und das nachher an einem Baum bei jedem Dorf und an jeder Wegkreuzung in den Bergen angeschlagen werden soll. Ich will euch mit Fachausdrücken nicht langweilen, das werdet ihr dann ohnehin allein herausfinden. Das Wesentliche meiner Proklamation ist folgendes: Ich kündige zuerst an, daß ich den englischen Millionär, den Finanzkoloß Herrn Samuel Harrogate, gefangen habe. Ich kündige weiter an, daß ich bei ihm zweitausend Pfund in Noten und Wertpapieren gefunden habe, die er mir übergeben hat. Da es nun wahrhaftig unmoralisch wäre, etwas Derartiges dem gläubigen Publikum anzukündigen, wenn es nicht auch tatsächlich stattgehabt hat, so schlage ich vor, daß es ohne jede weitere Verzögerung statthabe. Ich schlage vor, daß Herr Harrogate senior mir die zweitausend Pfund, die er in der Tasche trägt, übergebe.«

Der Bankier sah ihn stirnrunzelnd an, mit rotem Gesicht und mürrischem Ausdruck, aber anscheinend eingeschüchtert. Jener Sprung aus dem stürzenden Wagen schien den Rest seiner männlichen Kraft aufgebraucht zu haben. Er war mit einer Armesündermiene zurückgeblieben, als sein Sohn und Muscari den kühnen Versuch machen wollten, aus der Räuberfalle auszubrechen.

Und jetzt fuhr seine rote, zitternde Hand widerwillig in die Brusttasche, und er überreichte dem Räuber ein Bündel Papiere und Briefumschläge.

»Ausgezeichnet!« rief der Bandit frohlockend, »so weit geht alles ganz gemütlich. Ich fahre also in der Aufzählung der Punkte meiner Proklamation fort, die bald in ganz Italien bekanntgegeben werden soll. Das Dritte ist die Frage des Lösegeldes. Ich verlange von den Freunden der Familie Harrogate ein Lösegeld von dreitausend Pfund, welche Forderung – davon bin ich überzeugt – für diese Familie beinahe beleidigend ist durch die bescheidene Einschätzung ihrer Bedeutung. Wer würde nicht eine dreimal so große Summe bezahlen, um noch einen Tag länger in diesem häuslichen Kreise verbringen zu dürfen? Ich will euch nicht verbergen, daß das Dokument mit gewissen gesetzmäßig klingenden Phrasen endet, über die unangenehmen Dinge, die passieren könnten, falls das Geld nicht bezahlt wird; doch inzwischen, meine Herren und Damen, lassen Sie mich Ihnen versichern, daß es mir hier an Bequemlichkeit, Wein und Zigarren nicht mangelt und ich Ihnen einstweilen meinen sportsmännischen Willkommensgruß entbiete zu allen Freuden und Genüssen des Paradieses der Räuber!«

Während der ganzen Zeit, da er sprach, hatten sich die zweifelhaft aussehenden Männer mit Karabinern und schmutzigen Filzhüten schweigend in so zunehmender Zahl versammelt, daß sogar Muscari einsehen mußte, wie geringe Hoffnungen ein Ausfall mit dem Schwert haben mochte. Er blickte um sich; doch das Mädchen war bereits hinübergegangen, um ihren Vater zu trösten und zu beruhigen, denn ihre natürliche Zuneigung zu ihm war ebenso stark oder vielleicht noch stärker als ihr etwas snobistischer Stolz auf seinen Erfolg. Muscari, mit der mangelhaften Logik jedes Liebhabers, bewunderte diese töchterliche Ergebenheit und fühlte sich doch zugleich durch sie unangenehm berührt. Er steckte den Dolch wieder in die Scheide und zog sich zurück, um sich ein wenig schmollend auf eine der Rasenbänke zu werfen. Der Priester setzte sich ein oder zwei Ellen weit davon entfernt nieder, und Muscari wendete ihm in einer augenblicklich aufsteigenden Erregung seine Adlernase zu, während er ihn mit Adlerblicken durchbohrte.

»Nun«, sagte der Dichter herb, »halten mich die Leute immer noch für zu romantisch? Ich bin neugierig, ob es in den Bergen noch Räuber gibt oder nicht!«

»Mag schon vorkommen«, sagte Pater Brown.

»Was meinen Sie?« fragte der andere scharf.

»Ich meine, daß ich verwirrt bin«, erwiderte der Priester. »Ich bin verwirrt durch diesen Ezza oder Montano oder wie immer sonst er heißen mag. Er kommt mir als Räuber noch weit unverständlicher vor denn als Reiseführer.«

»Aber wieso?« fragte sein Gefährte beharrlich. »Santa Maria! Ich will doch meinen, der Räuber ist klar genug.«

»Ich finde drei seltsame Schwierigkeiten«, sagte der Priester mit ruhiger Stimme. »Ich würde gerne Ihre Meinung darüber hören. Vor allem muß ich Ihnen sagen, daß ich in jenem Restaurant am Meeresufer zugleich mit Ihnen gespeist habe. Als vier von Ihnen das Lokal verließen, gingen Sie und Fräulein Harrogate lachend und plaudernd voran; der Bankier und der Reiseführer folgten Ihnen und sprachen wenig und ziemlich leise. Aber ich konnte nicht umhin, Ezza die Worte sprechen zu hören: ›Nun, mag sie ihren kleinen Spaß haben; Sie wissen, der Schlag kann sie jeden Augenblick treffen.‹ Herr Harrogate antwortete nichts; darum müssen die Worte eine bestimmte Bedeutung gehabt haben. Einem Impuls des Augenblicks folgend, warnte ich den Bruder und sagte ihm, daß seine Schwester vielleicht in Gefahr schwebe; ich erwähnte nichts von der Art der Gefahr, da ich nichts Näheres darüber wußte. Doch sollte es diese Gefangennahme in den Bergen bedeuten, so wäre es ein Unsinn. Wozu sollte der räuberische Reiseführer seinen Auftraggeber warnen, wenn auch nur durch einen Wink, da sein einziger Zweck doch war, ihn in die Bergmausefalle zu locken? Es konnte nicht das bedeutet haben. Wenn aber nicht, was sollte dieses andere Unglück sein, das sowohl dem Reiseführer wie dem Bankier bekannt ist, und das über dem Haupte von Fräulein Harrogate schwebt?«

»Ein Unglück über dem Haupte Fräulein Harrogates?« rief der Dichter aus und richtete sich mit einiger Wildheit auf. »Erklären Sie sich näher; fahren Sie fort!«

»Alle meine Rätsel drehen sich jedoch um unseren Räuberhauptmann«, nahm der Priester nachdenklich seine Betrachtungen wieder auf. »Hier ist das zweite: Wozu sollte er in seiner Lösegeldforderung die Tatsache, daß er seinem Opfer zweitausend Pfund auf der Stelle abgenommen hat, so besonders betonen? Das fördert die Einbringung des Lösegeldes nicht im geringsten. Ganz im Gegenteil. Harrogates Freunde müßten weit mehr um sein Schicksal besorgt sein, wenn sie glaubten, daß die Räuber arm und verzweifelt seien. Und doch ist die Plünderung an Ort und Stelle ausdrücklich hervorgehoben und an die Spitze der Forderung gestellt worden. Warum sollte Ezza Montano so viel Wert darauf legen, Europa wissen zu lassen, daß er den Leuten die Taschen ausplünderte, ehe er die Erpressung vornahm?«

»Ich habe keine Ahnung«, sagte Muscari und strich sein schwarzes Haar zurück, diesmal ohne affektierte Geste. »Sie glauben vielleicht, mich aufzuklären, aber Sie führen mich nur tiefer ins Dunkel. Was mag wohl der dritte Einwand gegen den Räuberkönig sein?«

»Der dritte Einwand«, sagte Pater Brown, noch immer in Nachdenken versunken, »ist diese Bank, auf der wir sitzen. Warum nennt unser räuberischer Reiseführer dies seine Hauptfestung und das Paradies der Räuber? Es ist sicherlich ein sanfter Fleck Erde, um darauf niederzufallen, und ein lieblicher Fleck Erde, um ihn anzusehen. Es ist auch ganz richtig, daß er, wie Ezza sagt, vom Tal und von der Höhe aus unsichtbar ist und darum ein Versteck bildet. Aber es ist keine Festung. Ich glaube, es wäre die schlechteste Festung der ganzen Welt. Denn sie wird tatsächlich von oben durch die allgemeine Hochstraße über die Berge beherrscht – gerade von dem Orte aus, den die Polizei voraussichtlich passieren würde. Ja, fünf schäbige kleine Gewehre haben uns vor einer halben Stunde hilflos hier festgehalten. Eine viertel Kompanie irgendwelcher Soldaten hätte uns über den Abhang feuern können. Was soll also dieser seltsame Schlupfwinkel von Gras und Blumen bedeuten? Es ist keine verschanzte Stellung. Es ist etwas anderes; es hat irgendeine andere seltsame Bedeutung; irgendeinen Vorzug, den ich nicht verstehe. Es gleicht eher einem zufälligen Theater oder einem natürlichen Rasenplatz; es ist wie die Szenerie einer romantischen Komödie; es ist wie . . .«

Als die Worte des kleinen Priesters sich in die Länge zogen und sich endlich ganz in unverständliche und träumerische Erwägungen verloren, hörte Muscari, dessen animalische Sinne wach und scharf waren, ein neues Geräusch, das aus den Bergen drang. Sogar für ihn war der Ton nur ganz schwach und leise vernehmbar; doch er hätte schwören können, daß die Abendbrise etwas wie das Getrappel von Pferdehufen und ferne Rufe mit sich getragen habe.

Im selben Augenblick und noch lange, ehe die Vibration die weniger empfindsamen Ohren der Engländer erreicht hatte, lief Montano, der Räuber, zu der Höhe hinauf und spähte, in dem niedergebrochenen Buschwerk gegen einen Baum gestützt, die Straße hinunter. Er war eine merkwürdige Gestalt, wie er so dort lehnte; denn er hatte sich in seiner Eigenschaft als Banditenkönig einen phantastischen Schlapphut beigelegt und einen an Gürtel und Gehenke schleppenden Degen, doch der leuchtend karierte prosaische Anzug des Reiseführers schimmerte in hellen Flecken rings durch das Gebüsch.

Im nächsten Augenblick wendete er sein olivfarbenes, grinsendes Gesicht um und machte eine Bewegung mit der Hand. Die Räuber verstreuten sich auf das Zeichen hin, nicht in Verwirrung, sondern, wie es schien, in einer Art kriegerischer Ordnung. Statt wie bisher die Straße selbst besetzt zu halten, verteilten sie sich längs derselben hinter den Bäumen und Gebüschen, als erwarteten sie im Hinterhalt einen Feind. Der ferne Lärm wurde lauter und fing an, die Bergstraße erbeben zu machen; man konnte deutlich eine Stimme hören, die Befehle erteilte. Die Räuber duckten sich und kauerten sich zusammen, fluchten und flüsterten, und die Abendluft war erfüllt von tausend kleinen metallischen Klängen, vom Laden der Pistolen, vom Herausziehen der Messer und vom Anschlagen der Säbel gegen Steine und Wurzeln. Dann schien sich der Lärm von beiden Seiten oben auf der Straße zu vereinen; Zweige wurden geknickt, Pferde wieherten, und Männer schrien.

»Hilfstruppen!« rief Muscari, sprang auf die Beine und schwenkte seinen Hut. »Gendarmen kommen über sie! Jetzt laßt uns für die Freiheit kämpfen! Rebellen gegen Räuber! Kommt, wir wollen nicht alles der Polizei überlassen; das ist so schrecklich modern. Wir wollen diesen Schurken in den Rücken fallen. Die Gendarmen sind uns zu Hilfe gekommen; hört, Freunde, wir wollen den Gendarmen zu Hilfe kommen!«

Er warf seinen Hut hoch über die Bäume, zog nochmals sein kurzes Schwert und begann den Abhang hinaufzustürmen, der Straße zu. Frank Harrogate sprang auf und lief, den Revolver in der Hand, hinüber, um ihm zu helfen, hielt jedoch erstaunt inne, als er sich von der rauhen Stimme seines Vaters, der in großer Aufregung zu sein schien, höchst energisch und bestimmt zurückgerufen hörte.

»Ich will es nicht«, sagte der Bankier mit keuchender Stimme, »ich will nicht, daß du dich einmischst.«

»Aber Vater«, sagte Frank herzlich, »ein Italiener geht voran. Du wirst doch nicht wollen, daß ein Engländer zurückbleibt?«

»Es ist zwecklos«, sagte der ältere Mann heftig zitternd, »es ist zwecklos. Wir müssen uns in unser Los fügen.«

Pater Brown sah den Bankier an; dann legte er seine Hand instinktiv an die Brust, als griffe er nach seinem Herzen, doch in Wirklichkeit tastete er nach dem Fläschchen mit dem Gift; dann glitt ein Leuchten über sein Gesicht, die Erleuchtung der Offenbarung des Todes.

Muscari hatte inzwischen, ohne auf Unterstützung zu warten, die Höhe der Straße erklommen und den Räuberkönig heftig auf die Schulter geschlagen, so daß dieser schwankte und herumfuhr. Auch Montano hatte sein Schwert aus der Scheide gezogen, und Muscari, ohne ein Wort zu verlieren, führte einen Stoß gegen Montanos Kopf, den dieser parieren und auffangen mußte. Aber noch während die beiden kurzen Schwerter gekreuzt waren und gegeneinander schlugen, ließ der König der Räuber absichtlich seine Klinge sinken und lachte.

»Wozu, alter Freund?« sagte er in munterem italienischem Dialekt; »diese verdammte Komödie wird bald vorüber sein.«

»Was meinst du mit deinen Ausflüchten?« keuchte der feuerspeiende Dichter. »Ist dein Mut nur Schein, ebenso wie deine Ehrlichkeit?«

»Alles an mir ist nur Schein«, erwiderte der Ex-Reiseführer jetzt in vollkommen heiterer Laune. »Ich bin ein Schauspieler; und wenn ich jemals einen Privatcharakter besessen habe, so kann ich mich seiner längst nicht mehr entsinnen. Ich bin ebensowenig ein echter Räuber, wie ich ein echter Reiseführer bin. Ich bin nur ein Bündel von Masken, und damit kannst du dich nicht schlagen.« Und er lachte in knabenhafter Ausgelassenheit und verfiel wieder in seine gewohnte breitbeinige Stellung, den Rücken dem Scharmützel auf der Straße zugewandt.

Die Dunkelheit fiel unter den hohen Bergwänden ein, und es war nicht leicht, viel von dem Fortgang des Kampfes zu erkennen, ausgenommen, daß große Männer die Köpfe ihrer Pferde durch eine dichte Menge von Räubern durchzuzwängen trachteten, die eigentlich mehr geneigt schienen, die Eindringlinge zu belästigen und zu bedrängen, als sie zu töten. Das Ganze glich einer Menschenansammlung in einer Stadt, bei welcher die Polizei gehindert werden soll, durchzukommen, als irgendeinem Bild, das sich der Dichter vom letzten Standhalten verurteilter und geächteter Mörder und Räuber vorgestellt hätte. Eben als er voll Verwunderung die Augen rollte, fühlte er sich am Ellbogen berührt und sah den merkwürdigen kleinen Priester, wie einen kleinen Noah mit einem großen Hut, dort stehen und ihn um die Freundlichkeit bitten, ein paar Worte mit ihm wechseln zu dürfen.

»Signor Muscari«, sagte der Priester, »in dieser seltsamen Situation werden Sie es mir nicht übelnehmen, wenn ich ein wenig persönlich werde. Ich kann Ihnen vielleicht, ohne Ihnen nahetreten zu wollen, sagen, in welcher Weise Sie mehr helfen könnten, als wenn Sie den Gendarmen beistehen, die auf jeden Fall hier durchbrechen müssen. Sie werden mir die unverschämte Intimität verzeihen; aber liegt Ihnen etwas an diesem Mädchen? Ich meine, liegt Ihnen so viel an ihr, daß Sie sie heiraten und ihr ein guter Gatte sein wollen?«

»Ja«, sagte der Dichter ganz schlicht.

»Liegt ihr etwas an Ihnen?«

»Ich glaube, ja«, lautete die ebenso ernste Antwort.

»Dann gehen Sie hin, und halten Sie um ihre Hand an«, sagte der Priester; »bieten Sie ihr alles an, was Sie anbieten können; Himmel und Erde, wenn Sie sie besitzen. Die Zeit ist knapp.«

»Warum?« fragte der erstaunte Mann der Feder.

»Weil«, sagte Pater Brown, »ihr Schicksal die Straße dort heraufkommt.«

»Nichts kommt die Straße herauf«, erwiderte Muscari, »nur die Hilfstruppen.«

»Nun, so gehen Sie hinüber und helfen Sie ihr, den Hilfstruppen zu entrinnen.«

Beinahe noch während er sprach, wurde das Gebüsch über den ganzen Kamm hin von dem Ansturm der fliehenden Räuber niedergetreten. Sie tauchten in Buschwerk und dichtem Gras unter wie verfolgte, geschlagene Leute; und die großen, federgeschmückten Hüte der berittenen Gendarmen glitten bald oben längs der niedergetretenen Hecke vorbei. Ein anderer Befehl wurde erteilt; man hörte das Geräusch des Absitzens von den Pferden, und ein großer Offizier, mit federgeschmücktem Hut, einem grauen Spitzbart und einem Blatt Papier in der Hand, erschien in der Öffnung, welche das Tor zum Paradies der Diebe bildete. Die augenblicklich eingetretene Stille wurde in auffallender Weise von dem Bankier unterbrochen, der mit heiserer und erstickter Stimme ausrief: »Ausgeraubt, geplündert! Man hat mich beraubt!«

»Ja, das geschah doch schon vor Stunden«, rief sein Sohn erstaunt, »daß man dir die zweitausend Pfund geraubt hat.«

»Nicht die zweitausend Pfund«, sagte der Finanzmann, plötzlich erschreckend gefaßt, »sondern nur ein kleines Fläschchen.«

Der Polizeioffizier mit dem grauen Spitzbart schritt über den grünen Rasen der Mulde hin. Als er an dem König der Räuber vorbeikam, schlug er ihm auf die Schulter, mit einer Bewegung, die zwischen einer Liebkosung und einem Schlag die Mitte hielt, und versetzte ihm einen Stoß, der ihn weit forttaumeln ließ. »Sie werden auch Unbequemlichkeiten haben«, sagte er, »wenn Sie solche Streiche spielen.«

Wieder erschien es dem Künstlerauge Muscaris nicht ganz so wie die Gefangennahme eines großen Verbrechers, dem jeder Ausweg abgeschnitten ist. Der Offizier schritt weiter und machte vor den nebeneinanderstehenden Mitgliedern der Familie Harrogate halt: »Samuel Harrogate, ich verhafte Sie im Namen des Gesetzes wegen Veruntreuung der Gelder der Hull- und Huddersfield-Bank.«

Der große Bankier nickte mit der merkwürdigen Miene eines Geschäftsmannes, der sein Einverständnis bezeugt, schien noch einen Augenblick zu überlegen, und ehe es jemand verhindern konnte, gelangte er durch eine halbe Drehung und einige Schritte an den Rand des Abhangs der außenliegenden Bergwand. Dann, die Arme in die Höhe werfend, sprang er genauso, wie er aus dem Wagen gesprungen war. Aber diesmal fiel er nicht auf eine kleine Wiese, die gerade unterhalb lag; er fiel tausend Fuß tief, um mit zerschmetterten Gliedern im Abgrund liegenzubleiben.

Der Zorn, dem der italienische Polizeioffizier, zu Pater Brown gewendet, wortreichen Ausdruck gab, war nicht wenig mit Bewunderung vermengt. »Das sieht ihm wieder ähnlich, uns zum Schluß noch zu entwischen«, sagte er. »Er war ein großer Räuber, wenn Sie wollen. Dieser letzte Streich, den er uns spielte, ist, glaube ich, absolut einzig dastehend in der Geschichte. Er floh mit den Geldern der Gesellschaft nach Italien und ließ sich tatsächlich von Scheinräubern fangen, die er selbst bezahlte, um auf diese Weise beides, sein eigenes Verschwinden und das des Geldes, zu erklären. Jene Lösegeldforderung ist tatsächlich von der Polizei ernstgenommen worden. Aber er hat seit Jahren ganz ebenso gute Ideen gehabt und ausgeführt. Es wird für seine Familie ein wirklicher Verlust sein.«

Muscari führte die unglückliche Tochter fort, die sich fest an ihn klammerte, wie sie es nachher noch viele Jahre hindurch tat. Aber sogar in dieser tragischen Situation konnte Muscari nicht umhin, dem unangreifbaren Ezza Montano ein Lächeln und eine Handbewegung halbironischer Freundschaft zu schenken. »Und wohin gehst du jetzt?« fragte er über die Schulter hin.

»Birmingham«, antwortete der Schauspieler, an einer Zigarette paffend. »Hab ich dir nicht gesagt, daß ich Futurist bin? Ich glaube wirklich an diese Dinge, wenn ich überhaupt an etwas glaube. Veränderungen, Bewegung und neue Dinge jeden Tag. Ich gehe nach Manchester, Liverpool, Leeds, Hull, Huddersfield, Glasgow, Chicago – kurz, zu aufgeklärten, energischen, zivilisierten Leuten!«

»Kurz«, sagte Muscari, »in das wahre Paradies der Diebe.«

 


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