Karel Čapek
Hordubal
Karel Čapek

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X

»Hafia, richte aus, ich komm' erst am Abend zurück.«

So, ein Stück Brot und Speck, und nun los, heidi in die Berge. Hordubal fühlt sich frei und fast bange wie ein Kind, das der Mutter weggerannt ist. Und er steht oberhalb des Ortes, es ist als habe sich da etwas verändert. Was ist das? das hier soll Hordubals Feld gewesen sein? Meiner Treu, es war – lauter Steine, sagt so einer, und doch hat Pjosa hier Korn geerntet, hat Kartoffeln da und eine Hufe Flachs; sieh mal, wie sich Pjosas Feld mit Hordubals verbunden hat. Aber hier weiter oben, bei diesem Wacholder – von hier ist das ganze Dorf zu sehen. Hier kann man Gottes Weisheit bewundern: Krivá heißt der Ort, und er ist wirklich so krumm, wie sein Name besagt, im Bogen gewunden, wie eine liegende Kuh. Ein Dach hinter dem andern, alle gleich, wie eine Schafherde; aber der weiße Bauernhof gehört Polana. Als ob er gar nicht hier hereinpaßte, denkt Juraj; ein rotes, neues Dach man möchte sagen, wer ist denn da zugezogen? Nun, jemand aus dem Flachland, dort gibt's solche Leute, die haben kein Holz und müssen aus Ziegeln –

Die Ebene. Von hier aus ist auch die Ebene zu sehen. Blau, eben – wie das Meer, je nun, so eine Wüste. Darum fahren die Leute dort so schnell: der Weg ist ihnen zu traurig, man geht – geht und es ist, als träte man immer auf derselben Stelle herum. Man würde nicht in die Ebene gehen, nur so, um sich umzuschauen; hingegen hier – wie am Feiertag, man braucht nur der Nase nachzugehen und findet immer wieder einen Grund, weiterzugehen; hier hinter diese Wegbiegung, hinter den Wildbach, dorthin zu jener Fichte, über die Weide dort oben, und wenn man schon da ist, in den Wald; gegen Mittag sieht der Wald, lauter Buchen, graue und lichte Stämme, als wäre hier Nebel gelagert; und hier, dort, überall blühen Alpenveilchen wie rötliche Flammen. Und da, sieh doch, was für ein blonder Steinpilz, er hebt das dürre Blattwerk hoch, ei, welch starker und weißer Fuß; und weißt du was? ich lasse dich hier, Pilz, Pilzchen, ich werde weder Kuckucksblumen noch Glockenblümchen, sondern ein Erdbeersträußchen für Hafia pflücken, drunten am Waldrand, wo sie am süßesten sind, Hordubal bleibt stehn und hält den Atem an: ein Reh; dort drüben steht ein Reh, blond und licht wie das Laub vom vorigen Jahr, steht im Farnkraut und sichert: was bist du, ein Mensch oder ein Baumstumpf. Ein Klotz bin ich, ein Baumstumpf ein schwarzer Ast, entflieh' bloß nicht; hast denn auch du Angst vor mir, wildes Getier? Nein, es hat keine Angst; es reißt ein Blättchen ab, blickt, mahlt mit dem Mund wie eine Ziege. Beck, beck, sagt es, stampft mit den Hufen auf und trabt weiter. Und Juraj ist plötzlich überglücklich, so leicht, so leicht steigt es hinan, und denkt an nichts. Er geht nur, geht, und fühlt sich wohl. Ein Reh hab' ich gesehn, wird er abends Hafia erzählen – oje, und wo? Nun, dort oben, in der Ebene gibt es keine Rehe, Hafia.

Und da ist es schon – niemand weiß, was eigentlich: ein zerfallener Bau, umherliegende Balken, aber was für Balken, Herrgott im Himmel, Glockenstühle könnte man daraus zimmern, von Nachtschatten und Himbeeren überwuchert, von wilden Lilien, Nießkraut, Farren und Storchschnabel, wahrlich, ein seltsamer und verwunschener Ort – hier wendet sich der Wald gen Mitternacht; schwarzer Wald, bemooster Wald, schwarz und feucht ist das Erdreich, ja, sogar spuken soll es hier; und weißliche, durchsichtige Pilze, wie Sülze, Hasenklee und Dunkelheit, immer diese Dunkelheit; kein Eichhörnchen hört man hier, keine Fliege, so ein schwarzer Wald ist es, ungern gehen Kinder hier durch und selbst die Männer schlagen ein Kreuz. Aber da ist schon der Waldrand, bis an die Knie watet man durch Heidelbeerbüsche und hebt die Zweige hoch, und wieviel Flechtwerk hier niederhängt, die Brombeeren halten einem die Füße fest, ach, nicht leicht entläßt einen der Wald ins freie Feld, man muß sich durch das Dickicht hindurcharbeiten wie ein Eber, und heidi! wie aus dem Wald geschossen, gleichwie vom Wald selber ausgespien, steht man auf der Alm, auf der Polonina, gelobt sei Jesus Christus, da sind wir.

Weit ist die Polonina: hin und wieder Fichten, groß und mächtig wie eine Kirche, man möchte den Hut abnehmen und laut grüßen; und das Gras glatt, glitschig, ganz kurz, weich stapft man darauf wie auf einem Teppich; lang und kahl dehnt sich die Polonina zwischen den Wäldern, wölbt sich weit und breit, den Himmel über sich, und hat die Wälder seitlich abgestreift: so wie wenn ein Mann seine Brust entblößt und daliegt, daliegt und dem lieben Gott in die Fenster guckt, – ah, ahah, wie geht da sein Atem! Und Juraj Hordubal ist auf einmal so kleinwinzig wie eine Ameise und trippelt über die Polonina, wohin, Ameislein? Nun, dorthin, hinauf zu dem Kamm, siehst du dort die kleinen roten Ameisen weiden? Dorthin strebe ich.

Weit ist die Polonina. Weit ist sie, himmlischer Vater: würdest du's glauben, eine Herde Ochsen? Diese roten Punkte? Gut hat es der Schöpfer: er blickt hernieder und sagt sich, dieser schwarze Punkt dort ist ein gewisser Hordubal, der lichte Punkt dort ist Polana; ich muß mal sehn, werden sich die beiden Punkte begegnen? oder soll ich sie mit dem Finger zueinander schieben? Und da flitzt etwas Schwarzes den Hang herunter und geradewegs hierher; es rennt, kollert den Abhang herunter, wer bist du? und du bist ein schwarzes Hündchen, zerkläffst dir dein Mäulchen, ach, geh doch, sehe ich wie ein Strauchdieb aus? Komm her, bist ein tapferer Hund; ich will mal nach dem Batscha droben sehen. Schon ist das Herdengeläute zu hören. »Hajza«, ruft der Hirte, mit großen, ruhigen Augen blicken die Ochsen auf Juraj, winken mit dem Schweif und weiden weiter; der Batscha steht unbewegt, wie ein Wacholderstrauch steht er und blickt dem Ankömmling entgegen.

»Hej«, ruft Juraj, »bist du's, Mischa? Nun, Gott zum Gruß!«

Mischa nichts, schaut nur.

»Kennst mich nicht? Bin der Hordubal.«

»So, der Hordubal«, sagt Mischa und staunt nicht; wer sollte über etwas staunen?

»Bin aus Amerika zurück.«

»Was?«

»Aus Amerika.«

»So, aus Amerika.«

»Wessen Ochsen weidest du da, Mischa?«

»Was?«

»Wessen Ochsen sind das?«

»So, wessen Ochsen. Aus Krivá.«

»So, so, aus Krivá. Schöne Tiere. Und du, Mischa, gesund? Bin gekommen, um dich zu sehen.«

»Was?«

»Nun, dich anzuschauen.«

Mischa nichts, blinzelt nur; man verlernt das Sprechen da oben. Hordubal legt sich, auf den Ellenbogen gestützt, ins Gras und nimmt einen Halm in den Mund; hier – hier eine andere Welt, man braucht nicht zu reden, 's ist nicht nötig. Vom April bis September weidet Mischa hier, sieht wochenlang keine Menschenseele –

»Nun, Mischa, warst du schon einmal dort unten, wo die Ebene ist?«

»Was?«

»Warst du in der Ebene, Mischa?«

»So, in der Ebene. Nein.«

»Und dort oben, auf dem Durny, da bist du schon gewesen?«

»Ja.«

»Und hier hinter dem Berg nicht?«

»Nein.«

Da siehst du – und ich – bis nach Amerika; und was hab' ich davon? Nicht einmal meine Frau versteh' ich –

»Dort – das sind schon die andern Weiden«, sagt Mischa.

»Hör mal«, fragt Juraj, so wie er zu fragen pflegte, als er noch ein Knabe war. »Was war einmal dieser Bau im Wald?«

»Was?«

»Dieser Bau im Wald.«

»So, der Bau.« Mischa pafft nachdenklich aus seiner Tabakspfeife. »Wer weiß es. Man sagt, die Raubritter wollten dort eine Burg bauen. Aber was wissen die Leute.«

»Und ist es wahr, daß es dort spukt?«

»So, so«, sagt Mischa unbestimmt.

Hordubal hat sich auf den Rücken gedreht. Gut ist es hier, denkt er; und was dort unten ist – das weißt du selbst nicht mehr. Dort drängen sich die Leute auf einem Hof, jeder steht dem andern im Wege, gleich werden sie wie die Hähne raufen; fast schmerzt der Mund, so heftig schließt du ihn, um nicht loszuschreien.

»Hast du ein Weib, Mischa?«

»Was?«

»Ob du ein Weib hast?«

»Nein.«

In der Ebene sind keine solchen Wolken; dort ist der Himmel leer, aber hier – wie Kühe auf der Weide; man liegt auf dem Rücken und weidet. Und sie scheinen zu segeln, und man segelt mit ihnen, man fließt gleichsam fort, seltsam, daß man so leicht ist und mit ihnen schweben kann. Wohin gehen die Wolken, wohin geraten sie am Abend? Gleich als lösten sie sich auf, aber kann sich denn etwas nur so verlieren?

Hordubal hat sich auf den Ellenbogen aufgestützt.

»Ich wollte dich etwas fragen, Mischa – kennst du keine Liebeskräuter?«

»Was?«

»Ein Liebeskraut, das Liebe weckt. Damit sich zum Beispiel ein Mädel in dich verliebt.«

»Ach«, brummt Mischa, »das will ich nicht.«

»Du nicht, aber ein anderer möchte es.«

»Und wozu«, ärgert sich Mischa. »Nicht nötig.«

»Aber du kennst solche Kräuter?«

»Kenn' ich nicht.« Mischa spuckt aus. »Bin keine Zigeunerin.«

»Aber kurieren kannst du, Mischa, nicht wahr?«

Mischa nichts, blinzelt nur.

»Und was weißt du, woran du stirbst«, sagt er auf einmal.

Hordubal hat sich klopfenden Herzens aufgesetzt.

»Glaubst du, Mischa, daß – bald?«

»Ah, Gott weiß. Wie lange lebt der Mensch?«

»Und wie alt bist du, Mischa?«

»Was?«

»Wie alt du bist.«

»Ah, weiß nicht. Wozu wissen?«

Ach ja, wozu wissen, atmet Juraj auf; wozu wissen – zum Beispiel, was Polana denkt? Dort unten quält man sich damit herum; aber hier – nun, denk' dir, was du willst, Herzchen; wenn du glücklich wärst, würdest du nicht denken. Sonderbar, wie fern das alles von hier ist, so fern, daß einem fast bange wird. Der Mensch selbst – als ob er auch sich selber aus einer solchen großen Höhe betrachtete, wie er im Hof herumrennt, wütet und nachdenkt, und dabei ist er nur so eine gereizte kleine Ameise, die nicht weiß, wohin.

Ein großer Friede senkt sich auf Juraj, so groß, daß es förmlich schmerzt. Seht ihn mal an, so ein Riesenkerl, und seufzt da, seufzt unter der Last der Stärkung. Ach, jetzt möchte ich noch nicht aufstehn und sie hinunter ins Tal tragen, ich möchte und könnte es nicht. Stille, stille liegen, damit es sich in meinem Innern senke und ordne; wohl Tage und Wochen so liegen und warten, bis es von selbst in sich versinkt; mag der Himmel sich drehen, mag ein Ochse den Kopf über ein Menschenantlitz neigen und schnauben, mag ein Murmeltier gucken, ob es ein Stein ist? Ein Stein ist es und schwupps auf ihn, Männchen machen und wittern; die Arme gebreitet liegt Hordubal auf dem Rücken, – es gibt keinen Hordubal mehr, nicht einmal Polana ist mehr – nur Himmel und Erde, Wind und Herdengeläute. Die Wolken zerrinnen und nichts bleibt von ihnen zurück, nicht so viel, als wenn man Glas anhaucht. So ein Ochs denkt, wie er sich schinden muß, und es ist nur ein Läuten aus der Ferne. Wozu wissen? Schaue. Auch Gott schaut. Welch großes Auge, ruhig wie der Blick eines Rindes. Und dieser Wind, es ist, als strömte und brauste die Zeit selber dahin: woher kommt sie und woher so viel? Und wozu es wissen?

Es wird Abend, und Juraj kehrt talwärts heim, geht über die Polonina und dringt in den Wald, geht leicht und mit langen Schritten einher; die Last des Friedens hat sich in ihm bereits geordnet, nicht nötig, drauf achtzugeben. Gut, ich werde mich nicht deinen Augen aufdrängen, der Hof ist zu klein für zwei. Es wird sich irgendwo Arbeit finden, und wenn nicht, so setze ich mich hier oben hin und warte, warte bis zum Abend. Warum nicht – wie lange lebt der Mensch? Wozu, ich bitte dich, sollen zwei Ameisen einander im Wege sein, es ist doch Platz genug da, man kann nicht mal begreifen, woher so viel davon kommt: und ich – kann auch von ferne zusehen. Gottlob, es gibt hier Hügel genug, von wo der Mensch nach Hause schauen kann. Er kann dem Schöpfer bis auf den Kragen klettern und auf sich selbst herunterschauen. So wie die Wolken steigen – und wie ein Hauch zerfließen.

Schon läuten die Herden den Abend ein und Hordubal sitzt auf dem Thymianrain mit einem Erdbeersträußchen in der Hand und schaut hinunter auf das neue rote Dach. Auch der Hof ist wie eine Handfläche zu sehen; Hafia hier heraufzunehmen und ihr zu zeigen – guck, Hafia, ist das nicht wie ein Spielzeug. Auf den Hof tritt eine winzige helle Gestalt und steht, steht. Und da, siehe, kommt auch aus dem Stall eine dunkle Gestalt heraus, geht zu ihr und bleibt gleichfalls stehen. Und sie rühren sich nicht – wie Spielzeug. Ameisen würden die Fühler bewegen und herumlaufen, die Menschen aber sind wunderlicher: sie stehen einander gegenüber und tun nichts. Wozu wissen, denkt Hordubal; aber seltsam, daß sie so lange, so regungslos stehn; es wird einem fast bange – schrecklich, daß sie so ohne Regung stehn. Und das soll der Friede gewesen sein, Juraj, den du dir von droben mitgebracht hast? Diese Schwere, die dich erfüllt? Du hast dort zu viel geschöpft von etwas, und es ist Trauer; du hast die Arme ausgebreitet, und nun trägst du ein Kreuz. Und die beiden dort unten stehen – stehen – ach Jesus, sie sollten sich schon rühren! Und da hat sich die lichte Gestalt losgerissen und ist verschwunden; die dunkle steht, rührt sich nicht, und ist, Gott sei gelobt, schon weg.

Mit einem Erdbeersträußchen kehrt Hordubal heim – er hat nichts als dieses Sträußchen, und er wird es noch auf dem Hof vergessen. Vier Menschen am abendlichen Tisch; beinahe möchte er anfangen, ich habe ein Reh gesehen, Hafia, aber er sagt es nicht, die Worte wachsen ihm im Mund wie Bissen, Polana ißt nicht, bleich, wie aus Bein geschnitzt, Stefan blickt finster in den Teller, verzieht den Mund, zerbröckelt das Brot in den Fingern, wirft plötzlich das Messer hin und rennt hinaus, wie ein Erstickender.

»Was fehlt Onkel Stefan«, haucht Hafia. Polana schweigt, sammelt die Teller, ganz bleich, ihre Zähne klappern. Und Hordubal schleicht zu den Kühen, die Kahle wendet den Kopf nach ihm, daß die Kette rasselt, was ist, Gazda, warum atmest du so laut? Ech, Kahle, wozu wissen – wozu wissen – aber es ist schwer, schwerer als eine Kette. Dort oben würden wir mit der Glocke läuten, du und ich – wieviel Platz gibt es dort, selbst Gott hat dort Raum genug; aber unter den Menschen ist es drückend; zwei – drei Menschen, Kahle, und so drückend zwischen ihnen! Hört man denn nicht ihre Ketten klirren?


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