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X.

Wer klopfte da an das Fenster wie ein halberfrorener verirrter Vogel, der in der Sturmnacht gegen die Scheiben fliegt und an dem Wüten der Elemente bei seinen Feinden, den Menschen, Schutz und Unterkunft sucht? Wem konnte sie ein Obdach gewähren, die selbst heimatlos, ohne Freund und Hilfe in der Welt stand?

Eine geraume Weile war vergangen, seit Hilda in halber Bewußtlosigkeit, die sich auf ihr schmerzlich klardenkendes Gehirn wohlthätig herabgesenkt hatte, auf dem Sofa lag. Durch den Spalt der offengebliebenen Thüre hatte sich Bußbuß hereingeschlichen, der verscheuchte Liebling strich zuerst leise an der Herrin hin, dann erst, als er sich auf dem in letzter Zeit so gefährlich gewordenen Gebiete von keinerlei Angriff bedroht sah, war er zu ihr hinaufgesprungen und hatte es sich wohl gefallen lassen, daß sich ihr müder Kopf in sein weiches zusammengerolltes Fell drückte. Das leise Geräusch störte zuletzt dies Stillleben und beide richteten sich horchend auf.

Hilda erkannte Trine. Die Alte drückte ihr runzeliges Gesicht an die Glasthüre und hielt so vorsichtig Umschau in dem Raume, ehe sie eintrat, auch jetzt zögerte sie noch damit und winkte Hilda, die vielleicht doch nicht allein war, verstohlen hinaus.

Erschrocken fuhr Hilda auf. Die an lebhaftere Eindrücke in den Hintergrund gedrängte Erinnerung stellte sich wieder ein. Sie hatte eine Zusage einzulösen und da stand auch schon der Bote, der sie daran mahnte. Doch in dieser Hinsicht wenigstens war ja nun wohl alles Bangen zu Ende. Sie griff nach dem Pakete und steckte es rasch zu sich.

»Er läßt sagen, er wolle nicht mehr warten,« richtete Trine ihren Auftrag aus und dann setzte sie aus Eigenem noch die Bemerkung hinzu: »Der muß es auch eilig haben. Wird wohl Zeit sein, daß er fortkommt; aber auch der junge Herr ist ganz ungeduldig, er will mit und thut recht verwunderlich. Es ist gut, wenn das gnädige Fräulein hinauskommen.«

»Ich bin im Augenblicke bereit.«

Nur noch Hut und Plaid holte Hilda vom Ständer im Vorhause, während Trine im Garten draußen wartete, und dann machten sich beide auf den Weg, den sie in der gewohnten Weise über die Baumhalde hin abkürzten.

Der Nebel hatte sich nicht ganz gehoben, aber er war dünner geworden und das gab der Natur einen eigenartigen melancholischen Reiz, der jedoch für die eilig Dahinschreitenden gänzlich verloren war. Hilda achtete ebensowenig auf das feuchte Gras, das ihre Schuhe streifte, und das Wassergeriesel, welches im Walde ihren Pfad stellenweise fast ungangbar machte. Ihre Gedanken waren wieder zu Meinhard zurückgekehrt, sie suchten mit peinlicher Schärfe jeden Zug in dem Wesen des Mannes hervor, der ihr sein Angedenken noch teurer, seinen Verlust noch schmerzlicher machen mußte.

Es hatte so klärend, so veredelnd auf sie gewirkt; jetzt erst erkannte sie, was sie ihm zu verdanken hatte. Wie sollte es denn werden, wenn sie ihn nicht mehr sehen, ihm ihre großen und kleinen Sorgen nicht mehr anvertrauen, nicht mehr über dies und jenes, über Menschen und Dinge sich besprechen, über Bücher, Kunstwerke, Zeitereignisse und Gedanken Erklärung empfangen und ihre Anschauungen berichtigen lassen konnte? Unentbehrlich war er ihr und nun, wo sie es in vollster Macht empfand, mußte sie ihn entbehren lernen! –

»Endlich, endlich! Ich habe dich so sehnlich erwartet, wie einen Engel vom Himmel!« tönte es ihr entgegen.

Ueberrascht sah sie auf. Das Ziel, an das sie schon gar nicht mehr gedacht, war erreicht.

Sie traute ihren Augen kaum, welch günstige Veränderung mit ihrem Bruder über Nacht vor sich gegangen schien. So hatte doch der Besuch des Arztes wohlthätig gewirkt. Gestern hatte sie Wilhelm apathisch und in bedenklicher Schwäche gefunden, heute stand er vollkommen angekleidet unter der Thüre des Jägerhauses, wo er seine Zigarre rauchte und nach der Erwarteten Ausschau hielt. Dem Anschein nach war er ganz wohlauf, ja sogar heiter, wie sein Anruf bewies. Er streckte der Schwester die Arme entgegen und zog sie eilfertig ins Haus.

»Da sind wir,« sagte er, die Stubenthür aufstoßend. »Hoffentlich ist alles in Ordnung.«

»Ja, ich bringe das Geld.«

»Siehst du, ich wußte es ja, gerade ihr Ausbleiben war ein gutes Zeichen.«

Mit diesem Zuruf hatte er sich an Schöpf gewendet, der mit Halder bei Zigarren, Wein und Karten saß. Der Jäger, den der alte Schlaukopf im Laufe der letzten Tage ganz für sich gewonnen, lachte noch vor Ergötzen über das leichte Kunststück, das sich der Meister hatte absehen lassen. Hildas Eintritt machte der lauten Unterhaltung ein Ende. Beide erhoben sich und Schöpf ließ mit einer graziösen Taschenspielerbewegung, während er grüßte, die Karten verschwinden.

»Ach, das laß ich mir gefallen,« sagte er mit widerlich freundlichem Grinsen. »Sehen Sie, mein Fräulein, es geht alles. Man muß nur die Daumschraube richtig ansetzen. Die alte peinliche Gerichtsordnung war ganz klug, daß sie nicht alles dem Ehrgefühl des Herrn Inkulpaten oder dem untrüglichen Scharfsinn der hohen Geschwornenbank anheimstellte, wie heutzutage. Unter den Daumschrauben macht man nicht so leicht einen Hokuspokus. Ich bin für die Daumschrauben.«

»Auch ich – wenigstens für die, welche man dir anlegen würde,« fügte Wilhelm hinzu.

»Die würden merkwürdigerweise dich, mein Söhnchen, am meisten drücken,« entgegnete Schöpf, und sich zu Hilda wendend fügte er hinzu: »Wir lieben heute unsre kleinen Scherze! Bill ist wieder bei Laune und recht gesprächig. Er hatte offenbar Witterung, – ein gutes Zeichen, daß sich der alte Instinkt wieder regt.«

»Du fühlst dich besser?« fragte Hilda ihren Bruder teilnehmend.

»Besser? Ganz gut. Ein bißchen Müdigkeit noch, aber das ist alles, und ich wäre schon davongegangen, ohne meinen Kerkermeister hier. Hoffentlich werden wir nicht zeitlebens wie Galeerensklaven aneinandergekettet sein. Man sagt, niemand hasse sich tiefer als die beiden, die zu einem zusammengeschmiedeten Paare gehören, und ich glaube daran. Ich fühle etwas davon.«

»O, sehr schmeichelhaft!« ließ Schöps, sich verbeugend, einfließen.

»Kein Kompliment – nur die reine Wahrheit. O, daß ich schon fort wäre! Du glaubst nicht, Hilda, wie sehr ich mich sehne, irgendwo von A anzufangen. Ich habe mir schon etwas ausgedacht. Ich gehe zuerst. – Aber nein!« unterbrach er sich und warf seinem Schwiegervater einen mißtrauischen Blick zu. »Es braucht nicht jedermann zu wissen, wo ich gelegentlich bequem zu finden wäre. Ich werde dir schreiben, Schwester, alles ausführlich. Ja, ich fühle wieder neue Lebenskraft in mir, wie wenn der alte Schöller an mir ein Wunder gewirkt hätte, mit der Mixtur, die er hierließ. Ich habe sie gar nicht genommen und bin doch gesund. Hätte ich das Zeug getrunken, schriebe man's der ärztlichen Weisheit zu. Der alte gute Mann wird staunen. Was er für ein bedenkliches Gesicht schnitt, wie erschrocken er war, mich gern über die Berge gehabt hätte und dann doch wieder nur von Vorsicht und großer Schonung sprach. Ich glaube, wenn das ein Rezept für mich wäre, er hätte mich trotz des Herbstes noch in ein Modebad geschickt. Es war eigentlich recht überflüssig, daß wir ihn ins Vertrauen zogen.«

»Das meine ich auch,« äußerte Schöpf mürrisch. »Man weiß nie, bei welchem Kamine es hineinraucht.«

»Nein, Verrat droht uns von dieser Seite nicht. Höchstens, daß es ihm selbst ein kaltes Fieber zuzieht. Der arme Doktor!«

»Der Henker hole ihn! Schleicht ohnehin so allerlei spürnasiges Gesindel hier umher – Was ist das?« rief Schöpf sich plötzlich unterbrechend mit gedämpfter Stimme und Halder am Arme fassend: »Ist das nicht Ihr Köter, der bellt?«

»Meiner Treu! Ich dachte, Sie machten es selber zum Spaß.«

»Teufel auch! Gehen Sie doch hinaus und passen Sie ein wenig auf.«

Der Jäger gehorchte der Aufforderung und trat vors Haus. Mit den Zeichen heftigster Angst folgte ihm Schöpf bis in den Flur und horchte dort zwischen den beiden offenen Thüren.

»Wer da!« rief Halder barsch in den Wald hinaus, da aber keine Antwort kam, pfiff er seinem Dachse, der dann auch bald wieder zurückgaloppiert kam.

»Sind's Gendarmen?« fragte Schöpf leise.

»Die würden anders auftreten. Man sieht nichts in dem Nebel.«

Trine wußte nun auch anzugeben, daß es ihr auf dem ganzen Wege schon so gewesen sei, als folge ihnen jemand.

»Ach, was wird's gewesen sein!« meinte Halder achselzuckend. »Ein paar Kinder oder ein altes Weib – Holzdiebe. Jetzt geht's auch dem Winter zu. Oder Leute, die sich einen Sack voll Laub holen. War ein leichter Schritt von einem Kinderfuß, hätt' es sonst knicken hören. Komm, Dächsel!«

Er wollte wieder ins Haus, das war aber keineswegs nach Schöpfs Sinn. Seine Furcht war einmal rege. Der Jäger hatte ihm selbst berichtet, daß in der Großdorfer Schenke nach ihm so eigentümlich gefragt worden sei. Für alle Fälle konnte ein Wachposten nicht schaden, brauchte ja doch auch kein Zeuge dabei zu sein, wenn er das Geld in Empfang nahm. Er beredete Halder deshalb, sich's für eine Weile draußen bequem zu machen. Auch Trine hatte von Hilda einen Wink erhalten, in der Küche zu bleiben.

Der kleine Zwischenfall hatte Wilhelm weniger aufgeregt, als seine Schwester. Während sie sich zitternd am Tische hielt, konnte er scherzen.

»Es scheint, daß du ja ein recht ruhiges Gewissen zum Schlummerkissen hast,« verspottete er Schöpf.

»Mir ist doch nur um dich bange.«

»Wirklich? Sag' dann doch wenigstens um das Geld, das ich dir wert bin. Auch in dieser Variation behält die zarte Besorgnis noch hinreichend Rührendes.

»Ich denke, es wäre genug geschwätzt,« fiel Schöpf, der sich aus den Sarkasmen ungefähr soviel wie aus dem Summen einer Fliege machte, dem Spötter ins Wort. »Wenn es gefällig ist, mein Fräulein, so erledigen wir jetzt unsere Geschäfte. Je rascher, desto besser.«

Hilda zog das Paket hervor, das noch im selben Zustande war, wie sie es erhalten. Sie legte es, ohne ein Wort zu sprechen, auf den Tisch. Wie ein Geier wollte Schöpf darüber herfallen, doch Wilhelms Hand kam ihm zuvor und legte sich schützend auf das Päckchen.

»Halt!« sagte er kaustisch. » Un, deux, trois! Allez, passez! Taschenspielerfinger eignen sich nicht besonders zum Kontrollieren.«

Er nahm das Messer, das in dem neben der Weinflasche liegenden Brotleibe stak, und durchschnitt den Bindfaden. Das oberste Blatt, nachdem der Umschlag auseinanderfiel, war eine summarische Abrechnung mit Meinhards Unterschrift. Auf diese traf zuerst sein Blick und erbleichend trat er zurück.

»Hilda! – Du hast doch nicht …« stieß er bestürzt hervor. »Du hast doch Meinhard nicht gesagt –«

»Wie kannst du denken!« beruhigte ihn die Schwester. »Ich mußte das Geld von ihm verlangen, aber ich verriet das Geheimnis mit keinem Worte. Uebrigens hättest du vielleicht auch dann nichts von ihm zu befürchten, er hat die Stelle hier übergeben und reist noch heute ab.«

Traurig hatte sie die letzten Worte hinzugefügt, aber es blieb ihr nicht Zeit, ihren eigenen Gefühlen nachzuhängen, denn ihr Bruder klagte plötzlich über die zurückkehrende Müdigkeit und mußte sich setzen.

»Reich' mir ein Glas Wein,« bat er. »Nein, nein, kein Wasser! Der Wein stärkt mich mehr, ich fühle es und heute habe ich ihm auch wieder Geschmack abgewonnen. Gib nur!«

»Das sind ja bloß sechstausend!« ließ sich im gleichen Augenblick auch Schöpf vernehmen. Er hatte nicht gewartet und die Zeit zum Durchzählen verwendet.

»Ich habe nicht mehr herbeischaffen können,« entschuldigte sich Hilda.

»Und obendrein in Papieren, die auf den Namen geschrieben find. Hollah! das ist wider die Abrede.

An den zweiten Punkt hatte Hilda gar nicht gedacht. Sie war zu wenig in finanzielle Geschäfte eingeweiht, um eine Ahnung davon zu haben, welche Formalität zur Uebertragung solcher Obligationen notwendig sei.

»Ganz schön,« unterbrach Schöpf ihre Ausführungen; »daß Sie mir eine Falle legen wollten, erscheint mir selber nicht recht glaublich, aber dadurch wird die Sache doch nicht anders. Und daß mehr Geld nicht aufzutreiben wäre, das lasse ich mir nicht weismachen. Wo sechstausend liegen, finden sich auch noch weitere vier.«

»Ich habe aber gewiß nicht mehr zur augenblicklichen Verfügung!«

»Bah, suchen Sie nur!«

»Ich meine, Sie könnten sich auch mit dieser Summe begnügen. Sie ist groß genug und ich weiß nicht, wie ich noch eine weitere beschaffen soll, ohne die Aufmerksamkeit zu erregen und auf – uns zu lenken.«

»Du hörst es ja – Vampyr! Gib dich zufrieden!« mahnte auch Wilhelm, aber vergeblich wie Hildas Beteurungen blieben auch seine Worte.

In den weiter geführten Verhandlungen fand es Schöpf nur zweckmäßig, aus der angesichts des Geldes angenommenen kriechenden Höflichkeit gegen Hilda wieder in den Ton brutaler Drohung zurückzuverfallen.

»Alles oder nichts!« entschied er. »Ich bleibe auf diesem Flecke bis heute abend sieben Uhr. Ist um diese Stunde nicht die volle Summe in meinen Händen, so sind die Unterhandlungen abgebrochen! und ich thue meine Schritte.«

»Dann mußt du ja die Mäusefalle aufthun und dürftest bei deiner Zurückkunft mit Gefolge dieselbe wahrscheinlich leer finden.«

Ein tückischer Blick aus Schöpfs kleinen Augen traf Wilhelm.

»Die Grenze ist nicht so rasch erreicht, und sind die Hunde auf die Fährte des Hasen gehetzt, fangen sie ihn auch ein. Man hat dafür ganz praktische elektrische Einrichtungen mit Drahtschlingen. Haha! Uebrigens werde ich mich hüten, meinen werten Freund und Schwiegersohn allzusehr aus den Augen zu lassen. Es geht manch Bäuerlein hier vorüber, das eine kleine Botschaft für den Anzeigelohn gerne übernimmt. Dem Manne kann geholfen werden.«

»Und wie dann, wenn nun wir den Spieß umkehrten?« erwiderte Wilhelm scharf und höhnisch. »Die Mäusefalle schlüge zu und hielte den fest, der andere damit zu fangen meint. Ich denke, Hilda würde mir wohl den Gefallen thun und so lange Wache stehen, bis die bissige Ratte nicht mehr schaden kann.«

Mit einem Satze war Schöpf an der Thüre, sein funkelnder Blick hing lauernd an Wilhelm, der indes keine Bewegung machte.

»Ich protestiere! Einschränkung der persönlichen Freiheit! Ein neues Verbrechen. Versuchen Sie es doch nur, und meine Hilferufe werden die Entdeckung nur beschleunigen.«

»Es gibt Knebel auf der Welt, und man kann Ratten auch ersäufen,« entgegnete Wilhelm, der an seines Quälgeistes Schreck und Angst Gefallen fand.

»Scherze nicht so furchtbar, Wilhelm,« mengte sich nun seine Schwester ein. »Es handelt sich ja um kein verzweifeltes Spiel, und Sie, Herr Schöpf, werden einsehen, daß wir an solche Gewaltmaßregeln gar nicht denken.«

»Ich weiß doch nicht –«

»Habe ich Ihnen denn nicht schon bewiesen, daß es mir Ernst damit ist, Ihre Forderungen zu erfüllen? Wollen Sie die Papiere? hier sind sie. Geben Sie mir eine Art an, wie der Rest in Ihre Hände gelangen kann, und Sie werden ihn erhalten, aber nehmen Sie selbst Ihre Drohungen zurück und geben Sie meinen Bruder frei.«

»Nichts da! Ich wäre ein Narr! Alles oder nichts! Bis heute abend sieben Uhr.«

»Das System der Daumenschrauben,« spottete Wilhelm.

»Ja, ich bin einmal dafür. Ist das Sicherste.«

Hilda drückte die Hände an die Stirne, vergeblich überlegte sie alles.

»Es ist unmöglich in so kurzer Zeit,« erklärte sie dann. »Es ist niemand zu Hause und selbst wenn Franz heimkehrt und einwilligt, was doch noch zweifelhaft ist, so kann er nicht im Handumwenden das Geld schaffen; solche Summen hat man nicht bar im Hause. Er muß also erst zur Stadt. Wenn Sie wenigstens bis morgen Frist gäben.«

»Ich kann nicht warten. Habe dringende Geschäfte,« versetzte Schöpf, dessen Mißtrauen sich noch nicht ganz gelegt hatte und sich in der ganzen, wie zum Sprunge geduckten Raubtierhaltung verriet, barsch und abweisend. »In der Nacht ist es auch schwer, die Augen offen zu halten, jetzt, wo der Patient wieder auf den Füßen steht. Ich will sagen heute abend neun, keine Minute länger. Bis dahin will ich auf der Hut sein.«

Seufzend ging Hilda auf diesen äußersten Termin ein, zu dem er sich verstehen wollte, und schenkte dann der Anleitung, welche er ihr zu Teil werden ließ, die vollste Aufmerksamkeit.

»O, er ist ein gewandter Schulmeister in dergleichen Dingen, du kannst dich auf seine Geschäftskenntnis verlassen,« äußerte Wilhelm, der sich mittlerweile wieder erhoben hatte und in fieberhafter Unruhe bald hier- bald dorthin ging. »Es jammert mich nur, daß ich euch so teuer zu stehen komme. Aber ich will es abzahlen, bei meinem – nein – mein Ehrenwort ist ja Plunder geworden; diese Münze ist falsch und am Ende ist es auch mein Wille und meine Kraft und beide lassen mich im Stiche, ehe ich noch im stande war, euch zu zeigen, wie ernst es mir ist. Wenn ich sterben sollte –«

»Denke doch nicht an so Trübes,« suchte Hilda den plötzlich mutlos Gewordenen mit schwesterlicher Liebe aufzurichten. »Morgen bist du außer aller Gefahr und dann beginnt ein neues Dasein.«

»Wir machen uns noch heute nacht aus dem Staube« erklärte nun auch Schöpf, »Halder kann unterdes nach Großdorf hinübergehen und uns ein Bauernwägelchen bestellen. Die Stadt ist nicht geheuer und wir thun klüger, nach der nächsten Bahnstation zu fahren.«

»Daß wir doch schon fort wären!« seufzte Wilhelm.

»Mir ist's, als hätte ich Feuer an den Sohlen. Ich werde die Minuten bis zu deiner Rückkehr zählen, Schwester. O, wie will ich arbeiten! Mit den Händen arbeiten wie ein Taglöhner, wenn es sein muß. Aber ich habe das Vorgefühl, daß es gelingt – ich habe es. Du wirst sehen, daß es geht, wenn du erst meinen Plan erfährst. Und Franz sage – nein, sag' ihm nichts. Er wird toben und doch alles nur für Geflunker halten, der Ehrenmann, wie er im Buche steht. Er würde mir doch seine Hand nicht geben, das könnte einen Fleck hinterlassen. Einer von denen, die beten: führe uns nicht in Versuchung, und dabei hochmütig denken: »ein Mann wie ich würde ihr doch widerstehen«, weil sie eben noch nicht erfahren haben, was die Versuchung ist. Sei's drum! Vielleicht denkt er besser von mir, wenn er sieht, wie ich mich zum Leben stelle. Will mal sehen, ob ich es denn nicht nochmal zum Lächeln zwinge. – Arme Kleine! arme, kleine, süße Any! daß sie es nicht auch noch lächeln sehen kann! – Doch jetzt geh', geh', du Gute, und bring' die Befreiung, die Erlösung! Engel haben ja Flügel!«

Hilda, der es bei diesem hastigen, sprunghaften Gehaben ihres Bruders fast bange wurde, folgte seinem Antriebe und glaubte ihn nur noch zur Mäßigung im Genuß des Weines mahnen zu müssen.

»Er hat keine drei Gläser getrunken,« sagte Schöpf. »Es ist nichts als die pure Freude. Also längstens um neun!«

Nickend schied sie, lehnte Halders Begleitung ab und eilte sorgenvoll durch den Wald zurück. Wohl war ihr alles klar, was geschehen mußte, aber eine Frage blieb doch, ob sich auch alles günstig fügte. Dem Sturm bei Franz sah sie jetzt ruhigen Auges entgegen, es war ja ein viel schwererer über sie hinweggezogen. Dem Unmut des erzürnten Bruders standzuhalten, schien dagegen ein leichtes; aber wenn nun Franz nicht kam? Es war ja leicht möglich, daß er, wie es schon zuweilen vorgekommen, die Gastfreundschaft bei Saldorffs in Anspruch nahm und über Nacht blieb. Was dann?

Da schien der Nebel sich plötzlich zu zerteilen und das buntgesprenkelte feuchte Laubdach ob ihrem Haupte sich zu öffnen. Wie eine erleuchtende Antwort auf ihre Frage tauchte Edwin vor ihr auf, und es war nicht sein Bild bloß, sondern er selbst in voller Körperlichkeit, der ihr vom Ende des Hohlweges entgegenkam.

Er winkte schon von weitem und schwenkte auch seinen Hut, aber sein Gesicht zeigte keinen freudigen Ausdruck, was jedoch Hilda zunächst entging. Sie hatte nur ihre Angelegenheit im Sinne und sah in ihm die Hilfe, deren sie bedurfte. Jene ihm ursprünglich zugedachte Aufgabe hatte er nun allerdings nicht mehr zu lösen, dafür jedoch ergab sich jetzt eine andre. Sie war sich des Vertrauens, das sie ihm als ihrem künftigen Gatten schuldete, bewußt, er würde für sie handeln. Sie war ja doch nicht so ganz allein.

Ihren Schritt beschleunigend, strebte nun auch sie ihm zu. Erstaunt aber hielt sie an, als er sie mit einem Vorwurfe begrüßte.

»Sie entziehen sich uns und streifen im Walde umher, während wir Sie vergeblich bei Tische erwarten.«

»Mein Gott, ist es schon so spät? Verzeihen Sie,« sagte sie und bot mit freundlichem Lächeln die Hand. »Mir verging die Zeit so rasch.«

»In interessanter Gesellschaft zählt man die Stunden nicht. Während ich voll Sehnsucht denselben Flügel verleihen möchte und im steten Gedanken an Sie nach einem Symbol suche, würdig genug, meinen Gefühlen als äußerliches Zeichen zu dienen und unsern Herzensbund anzudeuten, während ich meine Seufzer als geflügelte Boten zu Ihnen sende, vergessen Sie meiner im Verkehr mit andern Männern.«

Wie weit war Hilda von der Stimmung entfernt, in der sich ein Mädchen von solch kleinen Eifersüchteleien geschmeichelt fühlen konnte. Ihr Lächeln war verschwunden und kehrte nicht wieder. Die Thränen standen ihr näher.

»Es war kein heiteres Geplauder, das können Sie glauben,« erwiderte sie, seinen Worten den für sie einzig denkbaren Sinn unterlegend. »Meinhard war bei uns, Abschied zu nehmen. Er ist versetzt.«

»Sie empfangen aber nicht bloß Besuche, sondern statten auch welche ab.«

Woher wußte er? Betroffen blickte sie zu ihm auf.

»Was bringt Sie auf diese Vermutung?«

»Glauben Sie denn nicht an die Divinationsgabe der Liebe? Sie sieht in die Ferne, sie hört das Lachen, mit dem sie verhöhnt wird in heimlichen Zusammenkünften.«

»Dann hört sie falsch,« fiel Hilda kopfschüttelnd ein. Dies Pathos ging für eine Neckerei zu weit und zu mehr hätte doch auch die Leidenschaft eines Othello aus einem solchen einsamen Spaziergange schon am Tage unmittelbar nach der Verlobung kaum Anlaß genommen. »Die letzte Stunde war noch viel trauriger. – Ja, ich hatte eine Zusammenkunft.«

»Also doch!«

»Ich bin Ihnen Offenheit schuldig.«

»Sie haben seltsam damit begonnen.«

»Schon gestern beabsichtigte ich, Ihnen alles mitzutheilen.«

»Und ich verschmähte es, Bekenntnisse aus der Vergangenheit zu hören. Allerdings scheine ich mich in der natürlichen Voraussetzung, daß sich die Fortsetzung nicht in die Gegenwart hereinspinne, getäuscht zu haben.«

Hilda sah ihn groß und verwundert an und schüttelte dann den Kopf.

»Lassen Sie mich meinen Fehler, den ich absichtslos beging, gut machen. Ich setze voraus, daß Sie unsere Familienverhältnisse kennen. Franz wird sie Ihnen nicht verhehlt haben, er ist zu wahrheitsliebend, als daß er seine Braut und die Ihren in Unklarheit gelassen hätte. So wissen Sie denn gewiß schon, daß ich außer Franz noch einen Bruder besitze. – Der Unglückliche ist es, von dem ich komme.«

»Wie? er ist hier?« Die Frage klang verletzend mißtrauisch.

»Schon seit einer Reihe von Tagen. Krank und elend kam er hier an, in dem Irrtum befangen, daß seine Rückkehr straffrei sei. Ich glaubte ihn vor allen verbergen zu müssen, selbst vor Franz. – Vielleicht habe ich unrecht damit gethan.«

»Also das ist es!« rief Edwin in einem Tone, der aus einem erleichterten Herzen kommen sollte, aber doch mehr gezwungen als fröhlich klang. »So war ich denn ohne Grund eifersüchtig.«

»Sie scheinen das beinahe zu bedauern.«

»Gewiß, weil ich mich dadurch an dir verging, du Engelsreine,« beeiferte er sich, den eigentlichen Sinn ihrer Worte überhörend, seine Reue kundzugeben. »Aber du kannst mir deshalb nicht zürnen. Vergeben ist so schön und das Vorrecht des Frauenherzens. Denn meine süße Braut, du hast mir heute noch nicht gesagt, daß du mich liebst, daß du mein bist. Sag' es mir mit einem Kuß! Nur die Vögel im Gezweige belauschen uns hier. Zürnst du mir denn noch, Grausame? Laß uns die erste Versöhnung feiern und erlaube, daß ich dir dies Armband umlege, als Sinnbild –«

»O jetzt nicht!« legte sie seiner Zärtlichkeit Zügel an und ihr ernster Blick schien die aufflackernde Glut wie mit einem Wasserstrahle zu löschen. »Hören Sie mich erst zu Ende. Der Arme, der auf Verjährung baute, hat sich getäuscht. Er ist in Gefahr.«

»Das ist seine Schuld. Er hätte bleiben sollen, wo er war.«

Die Kälte dieser Worte that Hilda weh.

»Nun ist er aber hier, und wenn er entdeckt wird, ist er verloren.«

»Das hätte er seiner Familie auch ersparen können,« sagte Edwin mit unverhohlenem Unmute. »Es ist wahrlich keine besondere Ehre, der Verwandte eines verfolgten Verbrechers zu sein. Man muß trachten, ihn so bald als möglich wieder fortzuschaffen.«

Wohl empfand Hilda die Demütigung, aber obgleich ihr das Blut warm in die Wangen stieg, wagte sie es doch nicht, sich dagegen aufzulehnen. Er hatte ja im Grunde recht, da durfte sie ihm den Mangel an Zartgefühl nicht zum Vorwurfe machen.

»Das ist mein Wunsch,« sagte sie, »und ich war bemüht, es ins Werk zu setzen, muß Sie nun aber bitten, mir dabei behilflich zu sein.«

»Ich? – Wie kann ich –?«

»Das eben will ich Ihnen mitteilen, doch reichen Sie mir indes den Arm und gehen wir weiter, damit keine Zeit verloren wird.«

Zu der Bereitwilligkeit, mit der er dieser Aufforderung entsprach, stand die Art und Weise, wie er ihre Eröffnungen aufnahm, einigermaßen in Widerspruch. Anfangs zwar zeigte er scheinbar Teilnahme bei der Schilderung der Leiden, welche der arme Flüchtling erduldet, bald aber nahmen seine Ausrufe, mit denen er hie und da ihre Erzählung begleitete, einen weniger freundlichen Charakter an, obgleich sie sich zuerst nur auf Schöpf und sein Auftreten bezogen. Nach und nach galten sie aber nicht mehr dem »Frechen«, dem »Elenden«, dem »gemeinen Schurken« allein, sondern die Entrüstung übertrug sich auch auf den durch das so eng verknüpfte Schicksal von dem »Blutsauger« abhängigen »Schwächling, der nun alle in solche Fatalitäten brachte.« Die, welche ihm selber drohten, hatte er sich nur selber zuzuschreiben, aber es war rücksichtslos, auch andere mit hineinzuziehen, und dafür verdiente er reichlich jede Strafe, das war Edwins zuletzt deutlich ausgesprochene Meinung, durch die er offenbarte, wie wenig er Hildas Sorge teilte.

»Man muß dieser Revolverbande klar machen, daß sie sich täuscht. Führt der Spitzbube seine Drohung wirklich aus, so fällt er selbst in die Grube. Man belangt ihn wegen Erpressung.«

»Wir können es ja doch nie dazu kommen lassen …« wandte Hilda ein.

»Ich sehe nicht ein, was man andres thun könnte. Der Gauner wird sich übrigens wohl hüten, sobald er weiß, daß nur Unannehmlichkeiten für ihn daraus erwachsen würden.«

»Indem er Rache nimmt, kann er sich ganz leicht selbst der Verantwortung entziehen. Er braucht nur abzureisen.«

»Ei, so mag der Schuft zum Henker gehen! Eine widerwärtige Geschichte – aber es läßt sich nichts ändern.«

Kopfschüttelnd mahnte ihn Hilda:

»Sie vergessen, daß ich Verpflichtungen übernommen habe.«

»Durch die hältst du dich doch solchen Leuten gegenüber nicht gebunden?«

»Gewiß thu' ich das. Ein Versprechen ist mir heilig, wem ich es auch gegeben.«

»Mein Gott, wie unbesonnen! Das ist so rechte Frauenart, sich von einer sentimentalen Regung zu den wahnwitzigsten Opfern verleiten zu lassen. Zum praktischen Leben gehört auch eine vernünftige Berechnung.«

»Berechnung!« sagte Hilda mit eigentümlicher Betonung. Ihr fiel mit einemmal ein andrer Ausspruch über die »verknöcherte Selbstsucht« ein, gegen welche er vor kurzem erst in ritterlichem Anlaufe eine Lanze gebrochen, wofür sie ihm selbst, wie zur Zeit der Turniere und Minnelieder, den Dank gespendet. Und wem hatte sie die Rosen vorenthalten, die er empfangen? Noch tönten Meinhards Worte in ihrem Ohre: »Es gibt Lagen, wo der Mensch einzig und allein dem Impulse seines Herzens folgen muß.« Und wie stand nun, da sie in solcher Lage war, sein Gegner an ihrer Seite? Derselbe Mann, den sie sich zur Stütze und zum Gefährten für das Leben gewählt? ... »Ich war der Meinung …« fuhr sie nach einer kleinen Weile in gedämpftem Tone fort … »Sie preisen denjenigen glücklich, der ohne Berechnung seinem Drange folgen und als Engel des Erbarmens und der Liebe Hilfe bringen darf! Denken Sie heute anders?«

»Ich ändre meine Ansichten nie …« erwiderte er, ohne auch nur einen Augenblick zu stutzen oder in Verlegenheit zu kommen … »Glücklich nannte ich denjenigen, der es darf, der es kann. Das hängt aber von den Verhältnissen ab.«

»Gottlob, daß es mir die meinen gestatten!«

»Das ist ja eben nicht der Fall. Zehntausend Gulden – die gibt man nicht so weg! Ein ganzes Kapital!«

»Für die Rettung meines Bruders!«

»Ach was! Ein solcher Bruder ist zu kostspielig.«

»Für die Ehre der Familie!«

»Was geschehen ist, wird doch nicht ungeschehen gemacht.«

»Wir denken verschieden,« sagte Hilda kalt. Die ganze Phrasenhaftigkeit und Seichtigkeit seines umstimmbaren Wesens hatte sie nun deutlich erkannt. Es schmerzte sie, daß sie sich hatte blenden lassen. Um so weniger aber vermochten seine Einwürfe sie von ihrem festen Entschlusse abzubringen … »Meine Ansichten über die Unerläßlichkeit gewisser Dinge sind unerschütterlich,« erklärte sie. »Einen bessern Rat, zu demselben Erfolge zu kommen, wissen Sie nicht, so gestatten Sie mir, auf meinem Wege zu verbleiben.«

»O, wie Sie meinen,« ließ er beleidigt fallen.

»Es ist nur eine kleine Unterstützung Ihrerseits, auf die ich zähle. Sie werden davon nicht allzusehr in Anspruch genommen werden,« fuhr sie fort, indem sie die Obligationen hervorholte. »Hier sind Papiere im Werte von sechstausend. Die wünsche ich nicht wegzugeben, sondern nur belehnen zu lassen, weil ich sie ursprünglich zu einer kleinen Mitgift für Mimi bestimmt habe. Sie sollen ihr bleiben und können ausgelöst werden, sobald mir Franz meinen Vermögensanteil herausbezahlt. Der Rest muß gegen Wechsel aufgenommen werden und noch Eintausend mehr, die ich für Wilhelm brauche. Er kann nicht mittellos in die Welt hinausgehen.«

Mit steigender Unruhe hatte Edwin ihr zugehört. Nun vermochte er sich nicht länger zu halten.

»Haben Sie denn summiert?« rief er. »Sechs und sechs macht zwölf – und fünf – macht siebzehn, – Provision und Interessen noch ungerechnet.«

»Es wird so sein,« entgegnete sie mit ruhiger Gelassenheit, die einen starken Gegensatz zu seiner Erregtheit bildete.

»Sie wollen sich also Ihres Besitzes möglichst entäußern?« … Er versuchte zu scherzen … »Wissen Sie, daß man Sie eigentlich als Verschwenderin unter Kuratel setzen sollte? Nein, nein – denken Sie nicht daran! Dazu kann ich als Ihr künftiger natürlicher Vertreter nie meine Einwilligung geben.«

»Noch bedarf ich derselben nicht.« Im nächsten Augenblicke that ihr die schroffe Antwort leid. Im Unmute war sie ihr entglitten, während ihr der Gedanke den Kopf kreuzte, ob sie denn nur einen Vormund mit dem andern vertauscht habe, wobei die über Nacht aufgeschossene Anmaßung noch die auf langjähriges freiwillig zugestandenes Recht gestützte bei weitem übertraf. Seltsam erschien es ihr, daß sie derselben gegenüber so ruhig blieb, indes sie die gleiche Weigerung von dem Manne, zu dem sich ihre ganze Seele neigte, bis zum Vergessen ihrer selbst in Hitze gebracht. Hier behielt sie die Kälte, ihren Unwillen zu beherrschen. Sie erinnerte sich ihrer schon einmal bereuten Heftigkeit und suchte den gethanen Ausspruch zu mildern. »Sie sollten es mir nicht so schwer machen, Edwin, eine Gewissenspflicht zu erfüllen. Daß ich mich an Sie wende, ist ein Zeichen des Vertrauens, und es ist nicht gut, wenn Sie dasselbe abschrecken. Stehen Sie mir treulich bei und verdienen Sie sich meinen Dank.«

Der weiche freundliche Ton blieb ohne Eindruck auf ihn, die bittend ausgestreckte Hand fand die seine nicht. Er erfaßte keineswegs die Bedeutung dieses schwerwiegenden Moments, der ihm ein Herz gewinnen konnte und in seiner Brust statt des gesuchten warmen Mitgefühls nur Regungen der Selbstsucht weckte.

»Sie haben nicht bedacht,« rief er, »was Sie thun wollen. Es ist ja meines Wissens die Hälfte Ihres Vermögens, das sie zu Gunsten Ihrer Verwandten abtreten wollen.«

»Und müßte es mein ganzes sein, ich dürfte nicht zaudern.«

»Fürwahr, ein Heroismus der Familienliebe, der – an den Wahnsinn streift, wie jeder Heroismus!« lachte er scharf auf. Mit ernster Entschiedenheit erklärte er dann: »Ich werde dazu nie die Hand leihen!«

»So muß ich es denn allein vollbringen.«

Er hatte ihren Arm losgelassen und war stehen geblieben. Ohnedem konnten sie nur einzeln durch das Drehkreuz in der Hecke des Obstgartens, den sie jetzt erreicht hatten. Dennoch gab es seinen Worten einen seltsamen Nachdruck.

»Das heißt – unsre Zukunft in Frage stellen,« sagte er. »Ich beschwöre Sie, Hilda, überlegen Sie noch einmal Ihr Vorhaben. Sie setzen mit demselben mehr aufs Spiel, als Ihnen bisher klar geworden. Sie dürfen mich nicht mißverstehen; ich bin weit davon entfernt, mir eine Drohung zu erlauben, aber die Offenherzigkeit muß wohl zwischen uns beiden eine gegenseitige sein. So poetisch die Liebe auch ist und so sehr gerade ich geneigt bin, mich von ihrem Zauber umspinnen zu lassen, kann ich doch nicht umhin, auch die praktische Seite ins Auge zu fassen. Es ist dies des Mannes Pflicht, wenn er eine Familie gründen will; mehr als sich selbst noch ist er es der Geliebten schuldig. Nun denn, da Sie so lange einem Haushalte vorgestanden, werden Sie selbst wissen, wieviel zu seiner Führung erforderlich ist. O, daß man diese prosaischen Dinge berühren muß! Aber es gibt eine Grenze selbst im Staatsbudget, jenseits welcher bekanntermaßen das Defizit beginnt. Man erhöht dann Zölle, Steuern, macht Schulden und dergleichen, das wäre dann also auch unsre künftige Finanzpolitik, denn ich – besitze nichts.«

Sie sah ihn so mitleidig an, daß es ihm das Blut in die Schläfe trieb.

»Ein Mann der Kopf und Arme hat, sollte nie sagen, daß er nichts besitze, oder es fehlt ihm der Mut.«

»Wenigstens der Mut, eine Frau der Armut und Entbehrung auszusetzen. Das scheue ich mich nicht zu gestehen, darum sollten Sie Vernunft annehmen, Hilda.«

»Ich habe keine Wahl.«

»Das will sagen: Sie geben mich auf für den Bruder?«

» Sie wären es, der mich aufgäbe.«

»Sie zwingen mich dazu. Ich würde mit Recht den Vorwurf des schlimmsten Leichtsinnes auf mich laden, gäbe ich in dieser Sache nach. Ich muß die Alternative stellen – zu Ihrem eigenen Wohle.«

»Die Entscheidung ist ja bereits getroffen,« erwiderte sie ihm, ohne ihre Geringschätzung sonderlich zu verbergen. »Für halbe Mitgift nur ein halbes Herz.«

»Wahrhaftig!« brauste er auf, und diesmal war es kein künstliches Feuer. »Ihnen steht am wenigsten das Recht zu, mich mit solchem Vorhalt zu strafen. Wo war Ihr Herz, als Sie mich an den Besitz desselben glauben ließen? Sie haben in mir nicht den Geliebten, den künftigen Gatten vor Augen gehabt, sondern – wie es sich zeigt – nur den Sensal für Ihre geschäftlichen Affairen.«

Hilda senkte das Antlitz. Der Vorwurf war gerecht und trieb ihr tiefe Schamröte in die Wangen; sie mußte sich selbst schuldig bekennen. Wie unverhüllt sich sein Egoismus und die kalte Herzlosigkeit auch dargestellt, ihr eigenes Verhalten gegen ihn war kaum minder selbstsüchtig gewesen. Sie hatte das auch längst – nur nicht so klar – empfunden und aus dieser Quelle war auch die stumme Ergebung in das selbstgeschaffene Schicksal entsprungen, durch die sie das Unrecht, das sie an Edwin begangen, zu sühnen vermeint. Jetzt kam mit der Selbsterkenntnis auch Milde in ihr Urteil und ihre Entscheidung.

Langsam sah sie zu ihm auf und ihre Stimme klang nicht unfreundlich, wenn auch bestimmt.

»Wir haben wohl beide geirrt und gehören nicht zusammen. Ich entspreche Ihren Wünschen nicht und vermag es auch nicht zu ändern. Ich will hinwieder nicht leugnen, daß ich Ihnen in meiner Hilflosigkeit wirklich zwei Rollen zugedacht hatte, ja – aber Sie haben die Probe in keiner bestanden. Von dem Manne, der mich zu lieben vorgab, mußte ich Teilnahme und Verständnis erwarten; der durfte mich auch nicht schon am Tage nach der Verlobung für fähig halten, ihn zu verraten. In meinen Jahren darf man nicht mehr durch äußerliche Vorzüge Leidenschaften hervorzurufen glauben. Was uns Zuneigung verschafft und erhält, kann einzig und allein Wesen und Gesinnung sein. Die meinen sind Ihnen fremd geblieben. – Es war eine Täuschung. Wir haben sie hinter uns und wollen einander darob nicht grollen.«

Zuletzt hatte sie ihm selbst die Hand gereicht, er aber legte die seine nur zögernd hinein.

»Ich glaube, ich lerne Sie verstehen und könnte Sie auch anders lieben – wenn Sie nur –«

»Das kommt jetzt wohl zu spät,« unterbrach ihn Hilda lächelnd, »doch eins noch. Ich darf von Ihrer Ehrenhaftigkeit wohl voraussetzen, daß das Geheimnis bei Ihnen unverletzlich bleibt. Sie geben mir Ihr Wort darauf, daß Sie es nicht verletzen!«

»Wo wollen Sie jetzt hin?« fragte er, nachdem er mit einer kühlen Verbeugung den Händedruck erwidert.

»Zur Stadt.«

»Sie sind unverbesserlich!« stieß er unwillig hervor und wandte sich ab. Dann aber drehte er sich langsam wieder herum und sah ihr kopfschüttelnd nach. Es war doch eigentlich unbegreiflich! – Als sie ihm aber aus den Augen verschwunden war, da zuckte er die Achseln. Seine verletzte Eitelkeit war nicht so rasch versöhnt.

»Da hat's Mama! Das nächste Mal folg' ich meinem Kopfe, was auch daraus wird!« sagte er mit einer Grimasse und schlenderte dann, seine neue Polka pfeifend, dem Hause zu.

Hilda hatte unterdes den Pfad längs des Zaunes verfolgt, der in einem Bogen zur Dorfstraße hinausführte. Sie langte wie ein sorgloses Kind nach den roten Hagebutten, die feucht von den gebogenen Rosenzweigen hingen. Es war ihr zu Mute wie einem Gefangenen, dem man die Kerkerthüre aufgeschlossen. Harte Kämpfe hatte sie durchdrungen, während sie nach Meinhards Abschied scheinbar in dumpfem Hinbrüten die Wunderwelt ihres erschlossenen Herzens staunend durchforschte, doch hatte sie nicht daran gedacht, ihr Wort zu brechen, so schwer es ihr auch fiel. Ehrlich und loyal wollte sie ihr Versprechen halten, das ihr, wie sie selbst gesagt, heilig war, wem immer sie es gegeben hatte. Mochte sie sich innerlich verbluten, stolz und in äußerlicher Ruhe hätte sie ihr Los getragen. Da aber riß er selbst die Kluft auf und ihr wurde mit einemmale die Nutzlosigkeit des großen Opfers klar. Er liebte sie ja gar nicht; er verlor nichts mit ihr. Eine Sünde wäre es gewesen gegen die heiligste Wahrheit, das Bündnis fortbestehen zu lassen, ja sogar noch enger zu schließen. Was ihn getrieben, dasselbe zu erstreben, das kümmerte sie jetzt nicht; genug, es war gelöst, von ihm selbst gelöst, und daß sie ihm dabei mit sanfter Bereitwilligkeit geholfen, das war gewiß kein Unrecht. Froh griff sie an ihr Herz, das hoch aufschlug in wiedergewonnener Freiheit. Es hatte für dieselbe wohl keine Verwendung, einsam sollte es bleiben und zum Jubel bot sich kein Anlaß; aber sie fühlte sich wenigstens leicht, als wäre ein Berg von ihrer Brust genommen.

Und in dieser Empfindung war ihr die ganze Welt wie aufgehellt. Eine frische mutige Zuversicht war über sie gekommen, die übernommene Aufgabe war ihr, während sie dieselbe Edwin auseinandersetzte, so wenig schwer erschienen, daß sie nunmehr alles selbst zu erledigen beschloß, und um nicht aufgehalten zu werden, schlug sie, ohne erst nach Hause zurückzukehren, den Weg nach der Stadt ein.

Sie schritt rüstig dahin und hatte dieselbe nach einer guten halben Stunde erreicht. Nur einmal zauderte ihr Fuß, es war dies, als sie an dem alten Amthause vorüberkam. Es zog sie wie mit unwiderstehlicher Gewalt dem Thore zu, jetzt hätte sie ja auch keine Entdeckung mehr zu fürchten gehabt, da Meinhard die Leitung der Geschäfte bereits abgegeben hatte und somit durch ihre Mitteilungen in keine Kollision der Pflichten gebracht wurde. Aber ihre Sehnsucht, sich im Vertrauen ihm noch einmal, nur einmal noch zu nahen, verstummte vor der Furcht, ihren Schritt vielleicht falsch ausgelegt zu sehen. Der Mann, der ihren Abschiedskuß hingenommen und dann ohne ein weiteres Wort gegangen war, der liebte sie nicht mehr. Das war vorüber und strenge mußte sie auf der Hut sein, ihm ihr Gefühl nicht zu verraten. Gestern noch war ihr der Besuch bei ihm wie etwas natürlich Harmloses erschienen. Heute dünkte er sie eine Aufdringlichkeit, und in Bangigkeit und Scham tief erglühend, wendete sie das Gesicht ab und eilte an dem Hause wie auf der Flucht vorüber.

Es mußte ja auch allein zu Ende zu führen sein!

Und so war es auch. Allerdings vergingen Stunden, die sie in unruhigen Gedanken versunken mit Warten verbringen mußte, bis es dem Geldwechsler, der schon mit ihrem Bruder eine Verbindung unterhielt und keinen Anstand nahm, ihrem Begehren zu entsprechen, die für seine beschränkten Verhältnisse zu große Summe, welche durch das Depot und ihre Accepte gedeckt war, herbeizuschaffen gelang, aber endlich durfte sie doch erleichtert aufatmen. Welche Vermutungen durch die Erhebung eines so hohen Betrages hervorgerufen wurden, konnte ihr ja gleich sein; morgen durfte alle Welt die Wahrheit erfahren.

Sie hatte das Geld in Händen. Mit Frohlocken betrachtete sie es und machte sich eilends auf den Rückweg. Keine Minute wollte sie versäumen, wenn auch der Abend erst hereinzubrechen begann. Sie begrüßte darum auch Doktor Schöller mit Freuden, als sie, ehe noch die letzten Häuser der Stadt hinter ihr lagen, von ihm angerufen wurde, und stieg rasch in sein Wägelchen. War auch der Arzt zum Glück überflüssig geworden, so konnte doch die Erlösung dem unruhig harrenden Gemüte gewiß nicht zu frühe kommen. Es drückte wie eine bange Ahnung, die sie trieb, sie wollte dieselbe jedoch nicht Herr werden lassen über sich. Das war nur die Nachwirkung all der Aufregung. Gottlob, nun nahm sie ja ein Ende! Alles war in Ordnung. Was hätte denn noch drohen können?


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