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II.

Die Nacht war schon hereingebrochen, ihre Schatten schienen das Schloß zu verschlingen, während der Wagen in das Dunkel hinausrollte. Es herrschte auch in seinem Innern, denn von den Laternen drang kein so ausgiebiger Strahl herein, um etwas genauer erkennen zu lassen. Wie der nachdenkliche Ausdruck in Hildas Zügen, entging auch ihr Schweigen der Aufmerksamkeit ihrer beiden Gefährten. Mimi führte das Wort für alle drei.

Zunächst war es noch der Taschenspieler und sein gespensterhaftes Auftreten und Abgehen, worüber sie sich vollends aussprechen mußte. Die Bemerkung Meinhards, daß es in der Weise solch verkommener und zuweilen halbverrückter Geistes liege, ihrem Erscheinen etwas Geheimnisvolles zu geben und sich, vielleicht mehr noch ihrer Eitelkeit als dem anzuhoffenden Nutzen zu liebe, womöglich immer mit einem Theatercoup in Szene zu setzen, gefiel ihr schließlich doch noch besser, als die ebenfalls aufgestellte Vermutung, diese vagabundierenden Subjekte hätten oft allerlei Gründe, ein Haus auszuspionieren.

»Ach, Gruselnmachen gilt nicht!« meinte sie. »Im Bezirksamte würde man am Ende sogar mich mit polizeilichem Mißtrauen ansehen. Er hat Sie auch ganz hübsch abgeführt, Onkelchen, mit Ihrer Uhr. Nein, nein, diese Taschenspielerei ist nicht gefährlich. Und geschickt ist er gewiß sehr – sehr! Wie er es nur angefangen haben mag, daß ihn nicht einmal die Hunde meldeten? Hektor ist sonst gerade nicht liebenswürdig gegen Unbekannte.«

»Solche Leute haben allerlei Mittel, das gehört aber auch zum Metier, erhöht aber nicht gerade ihre Vertrauenswürdigkeit.«

»Du lieber Gott, sagen Sie nur Papa nichts!« bat die Kleine mit plötzlichem Schrecken. »Er würde von Einschleichern sprechen, über die Unordnung und Aussichtslosigkeit schelten. Ein ganzes Donnerwetter ginge los über Fritz, über Tantchen und alle. Wenn Papa heftig wird, schont er nichts, so gut er sonst sein kann.«

»Er wird jetzt gar nicht Zeit haben, zu schelten,« tröstete Meinhard. »Und wenn er übler Laune sein sollte, wird es nur ein gutes Wort von Mama bedürfen –«

»Das wäre noch schlimmer,« fiel die Kleine beinahe mit der von ihr selbst gefürchteten Heftigkeit ein. »Tantchen wird doch nicht einer Fürbitte bedürfen von einer – einer Fremden – die erst in ein Haus kommt, in welchem Tantchen geboren ist und so lange sie lebt –«

Hier unterbrach Hilda den stockenden und dann wieder sprudelnden Redestrom.

»Mimi, du vergißt, von wem du sprichst,« sagte sie tadelnd. »Solche Aeußerungen klingen wie eine Anklage gegen mich, dich schlecht erzogen zu haben. Sie wären zudem noch ein Grund für deinen Vater zu bedauern, daß er im Schmerz um den Verlust deiner Mutter die Pflicht vernachlässigte, dir für sie einen Ersatz zu suchen, ehe du der leitenden Hand entwachsen warst.«

»Aber warst denn du nicht für mich die sorgsamste Mutter?« wollte die Zurechtgewiesene erwidern. »Ich brauche keine andre und ich verlange keine andre!«

Das kam aber mit solchem Ungestüm heraus, daß es kaum noch den Charakter der Zärtlichkeit trug und Hilda keineswegs ganz unrecht hatte, wenn sie kopfschüttelnd sagte:

»Du verlangst keine, das ist möglich, aber brauchen – das ist eine andre Frage, die nicht du zu beantworten hast. Es scheint doch bisher an der rechten Strenge gefehlt zu haben.«

Da dieser Selbstvorwurf an der beschämt, gekränkt und wohl auch ein wenig trotzig in ihre Ecke sich drückenden Kleinen keinen Widerspruch erfuhr, so nahm Meinhard die Lanze auf.

»Sie beurteilen eine Regung, die ich für ganz natürlich halte, wie ich glaube, zu hart, Fräulein Hilda,« begann er und fuhr, ohne sich von dem leisen aber nachdrücklichen »Nicht wahr?« Mimis unterbrechen zu lassen, im warmen Tone der Ueberzeugung fort. »Fast seit ihrer Geburt war sie in Ihrer Obhut, Sie nahmen der kränklichen Mutter von allem Anfang die Mühe ab und traten nach deren Tod ganz an ihre Stelle. Sie pflegten und erzogen das Kind, sie haben sich ihm ganz hingegeben und es so möglich gemacht, daß es die Heimat gar nicht zu verlassen brauchte und in der Nähe des Vaters bleiben konnte, der diese Erheiterung in seinem Gemütszustande gar schwer vermißt hätte. Sie haben sich eine edle und bewundernswerte Aufgabe gestellt, sich dieselbe zum ausschließlichen Lebenszwecke gemacht und derselben alles zum Opfer gebracht.«

»Ach bah!« … fiel ihm hier die Gepriesene in einem Tone, der leicht sein und keine Rührung aufkommen lassen sollte, ins Wort. »Welche Tirade! Was habe ich denn für Opfer gebracht? Ich habe noch nie etwas davon gemerkt.«

Einen Moment lang blieb er stumm, dann sagte er gedämpfter:

»Das ist kein Grund dafür, alles als selbstverständlich von Ihnen hinzunehmen, und ich begreife recht wohl, daß soviel Liebe und Hingebung tiefe Dankbarkeit erweckt, die sich zu einem exklusiven, jede Teilung ablehnenden Gefühle entwickeln kann.«

Das Schweigen, in welches Mimi versunken gewesen, hatte nun lange genug gewährt. Sie nahm sich aus der schon ungeduldig mit angehörten Beweisführung, was ihr eben taugte, um daran anzuknüpfen.

»Ja und wenn ich noch wüßte, weshalb ich teilen soll? Hat denn die neue Mama mir irgend ein Opfer gebracht? Vielleicht daß sie Papa geheiratet? O, das ist gar kein besondres Verdienst; Papa ist noch ein ganz hübscher Mann; alt freilich, aber man merkt ihm die vierzig Jahre gar nicht an. Nicht ein graues Härchen hat er und wie er reitet und Schlittschuh läuft! Sie hat ihn auch nicht meinetwegen geheiratet, so wenig als Papa sie aus diesem Grunde nahm. O, gewiß nicht! Soviel kann ich schon auch beurteilen, dazu brauche ich nur meine gesunden Augen. Im Anfange als wir nach Teplitz kamen, hatte es wirklich den Anschein, als ob Papa mich zur Gesellschafterin brauchte, um sich nicht gar zu sehr zu langweilen, da verkehrte auch Fräulein Albertine hin und wieder mit mir, während Papa schlief oder sich im Bade befand; in den letzten Wochen aber war es, als ob ich für die beiden gar nicht mehr vorhanden wäre, und Papas Arm nahm nun rasch wieder an Geschmeidigkeit zu. Er wurde aber auch recht fleißig geübt, da mußte er seine Steifheit verlieren.«

»Was sprichst du wieder für tolles Zeug?«

»Nur, was ich gesehen habe,« wehrte sie sich gegen den Verweis. »Ich konnte doch nicht jedesmal die Augen schließen, wenn ich auf den Spaziergängen im Walde hinter ihnen drein kam und sie mich ganz und gar vergessen hatten. Ach, ich schämte mich ohnedem genug vor Herrn Edwin und hätte dann lieber gewünscht, er würde mich nicht begleiten, obwohl ich mich ohne seine Gesellschaft recht verlassen gefühlt hätte. Ich mußte wirklich noch froh sein, daß er sich meiner annahm.«

So plauderte die Kleine von dem größten Ereignisse ihres jungen Lebens, das seltsam geteilte Empfindungen in ihr erweckt hatte, über die sie sich selbst noch nicht klar geworden.

Die Folgen einer sehr langsam heilenden Muskelzerrung, die er sich bei einem Sturz mit dem Pferde geholt, fortzubaden, war Herr von Reinach schon zeitig im Frühjahr nach Teplitz gegangen, um es nach sechs Wochen als Bräutigam zu verlassen. Frau Rohrwek, die Besitzerin des Hauses »zur Aurora« in Schönau, wo er seine Wohnung genommen, war Witwe und hatte zwei Kinder aus verschiedenen Ehen. Aus der oberflächlichen Bekanntschaft des Sohnes Edwin mit den neuen Mietsleuten entspann sich bald ein näherer Umgang zwischen den Familien. Dem Vater schien der Verkehr der beiden Mädchen erwünscht, doch allmählich entzog er seinem Töchterchen die Gefährtin immer mehr. Der Zwang, den ihm die Gegenwart eines Dritten auferlegte, mochte ihn beengen und er wußte es Albertinens Stiefbruder Dank, daß er ihn zum Teil wenigstens davon befreite, indem er an der Seite »des Kindes« blieb und dasselbe anderwärts beschäftigte.

[Den] Abschluß dieser so leicht und arglos angesponnenen Beziehungen bildete dann Ende August jene Heirat, welche der langjährigen Witwerschaft Franz von Reinachs ein Ende machte, dem Gute Waltershofen wieder eine Herrin und dem sechzehnjährigen Kinde eine Stiefmutter gab. Die Nachricht von dieser bevorstehenden Aenderung der Dinge hatte Mimi nicht ganz ahnungslos getroffen, die vorwitzigen jungen Augen hatten schon zu scharf beobachtet und die Vorbereitung, welche Hilda für nötig gefunden, war von ihrer Zuhörerin ziemlich ohne Umschweife und mit einem merkwürdig gleichmütigen, fast nüchternen Vorwegnehmen der Thatsache abgeschnitten worden. Von einem Ausbruche kindlicher Eifersucht, wie ihn Hilda befürchtet hatte, war keine Rede, nicht die kleinste Einwendung bekämpfte die Gründe, welche sie zur Rechtfertigung dieses Schrittes aufführen zu müssen glaubte, und ein Ungestüm, zu dem die Kleine sonst sehr neigte und wie es eben jetzt zum Ausbruche gekommen, hatte sich damals nirgends gezeigt, aber das kam wohl auch daher, weil die Konsequenzen dieser Neuordnung nur nach einer Seite hin gezogen wurden, und Mimi gar nicht daran dachte, daß auch ihr Verhältnis zu Hilda davon berührt werden könnte. War sie ja doch darin eingelebt von Kindheit auf. Es war so naturgemäß, so felsenfest, daß sie ein Rütteln daran gar nicht für möglich hielt und die bloße Andeutung, auch wenn sie von Hilda ausging, wie eine tiefe Kränkung empfand.

Daher der stürmische Protest, daher nach dessen Zurückweisung das schmollende Schweigen, unter dem aber das hieran nicht gewohnte Zünglein am meisten litt. Jetzt revanchierte es sich auch dafür und von jenem Aufenthalte in dem böhmischen Bade auf die Hochzeit selbst übergehend, reihte Mimi allerlei Schilderungen und Bemerkungen bunt aneinander.

Sie war dessen in den letzten vier Wochen nicht müde geworden und benützte jede Gelegenheit dazu, welche ihr von Hilda verstattet wurde, vielleicht eben weil dies nicht zu oft geschah und sie in dieser Beschränkung eine Uebereinstimmung mit ihren eigenen Gefühlen zu entdecken meinte, die sich Tantchen nur zu verhehlen Mühe gab, wenn dieselbe so warm und ernst von der Zweckmäßigkeit dieser zweiten Ehe ihres Bruders sprach.

Was hätte denn auch Tantchens Fernbleiben von der Trauung für eine andere Bedeutung gehabt? Der Katarrh war doch sicher nur ein Vorwand. Das Haus wäre wegen der paar Tage Abwesenheit gewiß nicht zu Grunde gegangen, und das Einbringen des Krummets hätte schon der Oberknecht allein besorgen können, wenn es sich auch nicht um die Feier, sondern nur um eine passende Begleitung für Mimi gehandelt hätte, die nun auch zum zweiten Male mit dem Vater allein hatte ausziehen und zur Heimreise nach der Hochzeit einer bekannten benachbarten Familie anvertraut werden müssen.

Das war für der Kleinen Logik ausschlaggebend gewesen. Sie fühlte sich der Unterstützung einer ihr im stillen Verbündeten sicher in der Abwehr jedes Angriffes auf ihre selbstverständliche Zusammengehörigkeit, die Stiefmutter erschien ihr, wenn auch gerade nicht als ein Eindringling, doch als ein gewissermaßen Fremdes in der Hausgenossenschaft, an das man sich aber gewöhnen könne, wenn es sich nicht unbequem mache, und nun mit einemmal mußte sie Worte hören, die viel zu ernst klangen, als daß sie sich noch der Zuversicht, ihre Gesinnung werde geteilt, hingeben konnte. Sie war betroffen, dann bäumte sich aber doch etwas in ihr auf gegen ein stilles ergebungsvolles Hinnehmen der Lehre, die ihr wie eine Ungerechtigkeit vorkam. Sie wollte dagegen plänkeln und plauderte, je länger sich jetzt Hilda stumm verhielt – was doch offenbar ein Zeichen fortwährender Mißbilligung war – immer lebhafter, um sich selbst glauben zu machen, daß die Ungnade nur leicht zu nehmen sei, bis endlich das Rasseln der Räder auf dem Pflaster der Stadt diesen Anstrengungen ein Ziel setzte.

Aber auch, nachdem das Geräusch beim Einbiegen in die nach dem Bahnhofe abzweigende Allee ein Ende genommen, fand sich ihre Beredsamkeit nicht wieder ein. Die Strecke war übrigens nur noch kurz, und als der Wagen hielt, hörte man schon das Gebimmel der elektrischen Klingel, welche die Abfahrt des Zuges von der letzten Station signalisierte. Der Aufenthalt mit dem Taschenspieler hatte doch beinahe zu einer Verspätung geführt und die Damen mußten sich beeilen, auf den Perron zu gelangen.

Der Stationschef grüßte sie mit besonderer Ehrerbietung und gab auf Meinhards Frage die Versicherung, daß immerhin noch fünf bis sechs Minuten bis zur Ankunft des Zuges vergehen würden. Fast unwillkürlich nahm Hilda Meinhards Arm, um sich von ihm durch die drängenden Menschen zu einem ruhigen Plätzchen führen zu lassen. Manchen Gruß hatte er dabei zu erwidern, der nicht nur der hervorragenden Stellung in der kleinen Stadt, sondern auch der persönlichen Beliebtheit des angesehenen Mannes galt; dennoch wurde seine Aufmerksamkeit nicht so ganz abgezogen, daß ihm der ungewöhnliche Ernst seiner Begleiterin und ihre Blässe entgangen wären, die freilich einem weniger teilnehmenden Auge in dem Schein der spärlichen Laternen kaum aufgefallen sein dürfte.

Er benützte das Alleinsein mit ihr, denn Mimi war ein wenig abseits damit beschäftigt, Fritz die beiden großen Bouketts abzunehmen, mit denen er den Damen gefolgt war, und wiederholte seine schon früher gestellte Frage:

»Was ist Ihnen?« Es war nicht müßige Neugierde, sondern erprobte innige Freundschaft, die hier drängte, das wußte Hilda wohl, dennoch kam sie nicht sogleich mit ihrer Erklärung zu stande. Es erschien ihr jetzt selbst, was sie gesehen und gehört zu haben glaubte, so zweifelhaft, daß sie sich der Gefahr, mit ihren Halluzinationen verspottet zu werden, nicht aussetzen wollte. Die Pause führte ihn auf eine falsche Mutmaßung.

»Hat Sie Mimis Geplauder verstimmt und ist Ihnen, indem Sie das Kind auf Teilung der Pflichten verwiesen, plötzlich auch der Gedanke an die Teilung Ihrer Rechte erschreckend nahe getreten?«

Hilda schüttelte mit leisem Lächeln den Kopf.

»Ihr Herz wird mir ja immer bleiben,« entgegnete sie überzeugt. Sie hatte vielleicht eine Zustimmung erwartet, statt derselben aber ging der Freund nach einer kurzen Pause in seinen Nachforschungen weiter.

»Dennoch ist etwas vorgefallen, was Ihr schönes Gleichgewicht stört,« sagte er mit der Bestimmtheit eines Menschen, der aus der jahrelangen Beobachtung eines andern d. h. aus dem liebevollen Eingehen in dessen Wesen beinahe jeden seiner Gedanken zu erraten gelernt hat. »Ist am Ende wieder ein Brief aus Amerika gekommen?«

»Was bringt Sie gerade darauf?« fragte sie überrascht.

»Es sind eben schon wieder mehrere Monate verstrichen, seit jene Frau an Ihr gutes Herz appellierte. Die Perioden waren sonst nicht so lang gestreckt, und pflegten sich sogar in einer gewissen Regelmäßigkeit zu verkürzen, genau der Willfährigkeit entsprechend, mit der Sie Ihre Ersparnisse allen Abmahnungen entgegen in dieses Danaidenfaß leeren. Es wäre auch zu verwunderlich, wenn die Ausdauer der Begehrenden eher ermüden sollte als die Geduld der Spenderin.«

»Sagen Sie das Mitleid.«

»Es dünkt mich sehr übel angebracht, und wird nur ohne Scham mißbraucht, um Sie gewissenlos auszusaugen.«

»Davor bin ich ja durch doppelte Vorsorge hinreichend geschützt; Franz und Sie behandeln mich ja ohnedem wie ein unmündiges Wesen, und ich glaube, ich müßte vor Gericht klagbar werden, um nur wieder das Dispositionsrecht über mein Eigentum zu erlangen.«

»O, es würde dessen bei mir nicht bedürfen, – wenn Sie mir Ihr Vertrauen entzogen haben, –«

»O nicht diese Empfindlichkeit, Meinhard! Sind Sie denn nicht mein Freund?« unterbrach sie ihn, seine Hand mit leisem Drucke fassend, und sah dabei so voll Herzlichkeit zu ihm auf, daß auch ein weit tieferer Groll unter diesem Strahl hingeschmolzen wäre. »Ich weiß ja, Sie meinen es gut mit mir und Sie schneiden auch sonst meine Erörterungen nicht mit der Barschheit meines Bruders ab, doch eben darum sollten Sie auch ein wenig Nachsicht mit meinen Empfindungen haben. Mein Mitleid gilt ja nicht Wilhelm, obgleich er ebenfalls mein Bruder ist. Er hat sein Schicksal verdient, er hat Schande über uns gebracht und nicht einmal die Folgen seines Verbrechens haben ihn zur Umkehr geführt. Unmännlich, thatlos und ohne Energie ist er geblieben. Für ihn habe ich keine Regung des Mitgefühls; ihm wäre es gleich, wenn sich Franz vollends für ihn zu Grunde gerichtet hätte und Waltershofen, das ohnehin so schwer zu erhalten gewesen, ganz für uns verloren gegangen wäre. Er hat nie eine Rücksicht gegen uns gezeigt – seine Liebenswürdigkeit war nur Schwäche. Aber derjenigen kann ich meine Teilnahme nicht entziehen, die am schwersten darunter leidet.«

»Und die Ihnen jene impertinenten Briefe schreibt, worin auseinandergesetzt wird, daß eine Frau von Reinach das Recht nicht nur auf die Anerkennung, sondern auch auf die Unterstützung der Familie habe, die ihr beides rücksichtsloserweise verweigert.«

»Sie kämpft für ihr Kind,« sagte Hilda und sah mit ernstem Nachdenken zu Boden.

»In der kecken Weise der einstigen Soubrette vom Theater.«

»Was auch ihre Vergangenheit gewesen sein mag, jetzt ist sie einmal Wilhelms Frau und Mutter seines Kindes. Ich kann nicht ohne Mitleid an die beiden denken, wenn ich mir vorstelle, wie dürftig, wie elend sie sind, vielleicht nahe am Verhungern, trotz des unablässigen Kampfes und der Arbeit, mit welcher diese Frau eine Existenz möglich zu machen sucht, die ihres Mannes Leichtsinn und Arbeitsscheu immer wieder in Frage stellt.«

»Ihr gutes Herz dichtet Zaubermärchen. Unsere Berichte –«

»Ich vertraue meinem Gefühle mehr als allen Berichten. Nehmen Sie mir den Glauben nicht.«

»Und das Seelenbedürfnis, sich immer für andere zu opfern.«

»Auch das kann Glück sein.«

Sie sagte das so innig und voll tiefer Ueberzeugung, daß Meinhard bewegt auf sie niedersah.

»Das Glück der Märtyrer,« sagte er leise, »und die werden heilig gesprochen.«

»Ach, darnach trage ich kein Verlangen,« entgegnete sie lächelnd. Sie erhob freundlich ihren Blick zu ihm, doch in ihrem Wesen lag es durchaus nicht, sich von der Rührung anstecken zu lassen, die in seinen Augen zu lesen stand. Wohl aber regte sich das Vertrauen in die alte treue Freundschaft, der Mitteilungsdrang, und entschlossen setzte sie an … »Wissen Sie denn –« Wie zur Strafe für ihr früheres Zögern blieb es ihr aber jetzt versagt, zu vollenden. Die Fortsetzung wurde unbarmherzig von dem Gellen des »Ersten Läutens« verschlungen.

Unwillkürlich wandte Hilda den Kopf gegen den einfahrenden Zug und trat einen Schritt vor, wie alle andern, die hier harrten. Den Augenblick benützte auch Mimi, um der Spannung ein Ende zu machen, die sich deutlich genug – wie sie meinte – in der Achtlosigkeit kundgegeben, mit der sie behandelt und von der Unterhaltung ausgeschlossen worden.

Sie schlang die Arme um Hilda. »O Tantchen, bist du noch böse?« flüsterte sie mit gepreßter Stimme. »Bitte, bitte, sei wieder gut! Ich habe ja doch nur dich lieb, aber ich will so freundlich als nur möglich gegen sie sein. Gewiß!«

»Das setze ich voraus,« tröstete die durch den Ueberfall Ueberraschte das dem Weinen nahe Kind. »Ich wußte es von dir, und deinen Papa wird es freuen.«

»Und du bist nicht mehr böse? – Ach, du kannst ja gar nicht böse sein!« Und im raschen Umschwunge, die zurückgedrängten Thränen noch im Auge, lächelte Mimi und küßte das Tantchen mit nochmaliger stürmischer Umarmung.

Sie sahen aus wie zwei im Alter wenig verschiedene Schwestern, die sich trennen sollten. Niemand außer Meinhard hatte den kleinen Zwischenfall beachtet; Abschiedsszenen spielten sich ja mehrere ab auf dem Perron.

Der Zug hielt, die Thüren öffneten sich und in dem Gewirre der nach den Koupees Drängenden und der Aussteigenden war einen Moment lang bei der schwachen Beleuchtung niemand zu erkennen. Mimi hatte sich am ersten orientiert.

»Ah, da sind sie! da sind sie!« rief sie. »Hab' ich dir's nicht gesagt, daß er mitkommt. Nein, wie drollig; er sucht uns offenbar und sieht uns nicht. Da, da! Ah, und die Aurora ist auch dabei.«

»Aurora? Wer ist denn das?«

»Weißt du denn nicht? Die – – O Papa, Papa!«

Sie hatte sich nicht vergeblich auf die Fußspitzen erhoben und ihr schlankes Figürchen, das ohnedem Hilda um ein weniges überragte, so lang gestreckt als möglich. Jetzt lag sie ihrem Vater an der Brust und stieß ihm von rückwärts mit dem Strauß, der für die »neue Mama« bestimmt war, den Hut über die Augen.

Darnach kam freilich auch diese an die Reihe und der Strauß an seine Bestimmung. Was aber der Kleinen diesmal an Zärtlichkeit trotz aller guten Vorsätze doch gebrechen wollte, ersetzte die junge Frau durch ihr Entgegenkommen. Sie zog Mimi liebreich an ihr Herz und es war sogar etwas wie Rührung in ihren schönen regelmäßigen Zügen, als sie einen langen Kuß auf die Stirne des Wesens drückte, dem sie Mutter zu sein versprochen.

»So ist es recht. Ihr müßt Freundinnen werden!« meinte Mimis Vater, der wohlgefällig die Gruppe betrachtete, indem er sich den Jägerhut über dem gebräunten energischen Gesichte wieder zurecht schob.

»Das sind wir schon. Wir wollen aber mehr werden – Schwestern! Nicht wahr?« fragte seine Frau, sich abermals zu Mimi herabneigend, und hatte sich mit dem einzigen Worte in deren Herzen mehr Platz erobert, als das verwöhnte Kind je für möglich gehalten.

Nur von einer andern Mutter wollte es nichts wissen – einer Schwester aber –

»Gut, gut,« meinte Herr von Reinach mit etwas rauhem Humor. »Der erste Trieb ist vorbei, jetzt vertagt eure Herzensergießungen aber. Du kennst ja Hilda noch gar nicht, liebe Albertine. Erlaube! Ah, das ist brav, daß du auch mitgekommen bist, Bruno! Das ist erst die rechte Heimat, wenn sie uns aus den alten Gesichtern grüßt. Bin doch froh, daß ich wieder daheim bin. Albertinchen, Statthaltereirat Meinhard, Respektsperson, Oberster des Amtsbezirks, Minister des Innern in spe und mein treuer Jugendfreund.«

»Ach, welche Rücksichtslosigkeit! Kein Anstand, keine Achtung!« unterbrach hier eine Stimme die Reihe der Vorstellungen. Die dicke Dame, welche sich so beklagte, schoß vernichtende Blicke um sich, während sie die kleine Gruppe, an welche sie herantrat, zur Rache aufzurufen willens schien.

Der junge schlanke Elegant, auf dessen Arm sie sich schwerfällig stützte, erklärte lachend:

»Mama beging die Unvorsichtigkeit, sich einigen Kofferträgern in den Weg zu stellen, und wäre in der That beinahe über den Haufen gerannt worden.«

»Ueber den Haufen – über den Haufen,« wiederholte sie mit tadelndem Gemurmel das anstößige Wort. Ihr durch den Eifer stark gerötetes Antlitz verklärte sich aber plötzlich und mit einem überraschenden Uebergang, wie durch einen Verwandlungsapparat bei Nebelbildern, zu dem einschmeichelndsten Lächeln, als sie sich Hilda gegenübersah.

Eine Ahnung hatte dieser schon gesagt, wen sie vor sich habe, ehe ihr Bruder noch Zeit fand, seine Schwiegermutter mit ihr bekannt zu machen. Vielleicht hatte Mimis Ausruf und eine dadurch hervorgerufene Ideenverbindung diese Erkennung erleichtert.

Die Besitzerin des Hauses »zur Aurora« neigte sich mütterlich wohlwollend zu der sie freundlich Begrüßenden.

»Ach, wie lieb!« sagte sie mit Gefühl. »Also auch an mich haben Sie gedacht, Fräulein Hilda? Sie sind zu aufmerksam! Wirklich, zu freundlich! Das schöne Boukett für mich! Wie soll ich Ihnen danken? Sieh doch nur, Edwin, wie liebenswürdig! Diese prachtvollen Blumen so spät im Herbst. Mein Sohn, Edwin von Tonner. Mein erster Mann war ein von Tonner, wie Sie vielleicht gehört haben. Edwin, Fräulein Hilda erlaubt dir gewiß, ihr die Hand zu küssen. Wir sind ja wie eine Familie.«

Zu gutmütig, um jemand absichtlich eine Enttäuschung zu bereiten, überließ Hilda den eigentlich gleichfalls für die junge Schwägerin bestimmten Strauß ihrer Mutter, wie sie den verordneten Handkuß hinnahm, obwohl sie sich von dieser Begegnung im Grunde wenig angemutet fühlte. Vielleicht hätte sie unter andern Umständen mehr das Komische als das Befremdliche herausgefühlt, im Momente aber fehlte ihr der Humor, noch wirkten die in der Unterredung mit dem Freunde angeregten Gedanken in ihr nach, und überdies quälte sie der plötzlich auftauchende Gedanke, daß für die Aufnahme dieser unerwarteten Gäste gar keine Vorbereitungen getroffen waren.

Sie kannte ihres Bruders Ungeduld in solchen Dingen, derselbe äußerte sich auch bereits nach kurzer Zwiesprache mit Fritz, der sich beeilt hatte, das Handgepäck aus dem Koupee zu räumen, und nun mit dem abgenommenen Hute in der einen und einem Handkörbchen in der andern Hand dastand, unter dessen festgebundenem Deckel sich der kleine Kopf eines Hündchens hervorzwängte, das nahe daran war, sich bei seinen ungestümen Befreiungsversuchen selbst zu erwürgen.

»Nur einen Wagen, sagt mir Fritz. Wie konntest du doch daran denken, Hilda, nur einen Wagen für uns alle herzuschicken?« zog Herr von Reinach seine Schwester zur Verantwortung. »Was nutzt der Korbwagen? Die zweiten Pferde hätten vor die Halbchaise gespannt werden sollen. Für die Bagage konnte ein Bauerngespann kommen.«

»Wenn wir nur früher gewußt hätten –«

Aber Entschuldigungen waren dem ans Befehlen gewöhnten Gutsherrn ein Greuel.

»Früher, früher! Wann denn? Wir trafen uns unterwegs, das hatten wir verabredet, um einige Tage noch gemeinsam zu verleben, aber ich hatte die großen Städte jetzt für eine Weile satt und war froh, daß sich die Schwiegermutter entschloß, mitzukommen. Das alles wurde gestern morgens erst festgemacht und ich schrieb auf der Stelle: den Brief hast du doch erhalten? die Depesche heute auch, da es der Brief noch halb im Zweifel ließ.«

»Das Telegramm wohl, aber nicht den Brief.«

Damit war jedoch Oel ins Feuer gegossen. Der Unmut wandte sich nun gegen die Postverwaltung, das Kommunikationswesen, die Verwaltung überhaupt und schließlich gegen alle Einrichtungen des gesamten Staatswesens; nicht einmal ein freundlicher Beschwichtigungsversuch der jungen Frau wollte recht einschlagen. Erst Meinhard gelang es zuletzt, den Unwirschen leidlich zur Ruhe zu bringen. Er hatte, während sich der Freund in seinem Unmute bei den vorgebrachten Anschuldigungen steigerte, Rat geschafft, wenigstens für das nächste Bedürfnis in dem »arg zerrütteten Staatswesen«.

Von den Passagieren des mittlerweile wieder weitergefahrenen Zuges war nur ein einziger dem harrenden Hotelomnibus der »Krone« zugefallen. Durch eine höfliche Einladung hatte Meinhard dessen Uebersiedlung in jenen des »goldenen Adlers« bewirkt, der kam ja doch auch an der »Krone« vorüber, und ein andres Mittel als diese Fusionierung der beiden konkurrierenden Großmächte stand eben nicht zu Gebot, da sich Mietwagen an der dem Städtchen so nahen Bahnstation nur auf Bestellung einzufinden pflegten. Das einspännige Fuhrwerk bot zwar keine übermäßige Bequemlichkeit, aber es war ein Auskunftsmittel und Mimi gab sofort ihre Bereitwilligkeit zu erkennen, von demselben Gebrauch zu machen, natürlich unter dem Schutze Edwins, mit dem sie unterdessen die heiterste Begrüßung gewechselt.

»Ich habe schon eine Ahnung davon gehabt, daß Sie mitkommen,« hatte sie ihm in aller Eile vertraut.

»Wirklich! Sie erwarteten mich also? Darf ich hoffen, mit Ungeduld?«

»Davon habe ich nichts gespürt.« Aber das freundliche Lächeln, mit dem sie seinen feurigen Blick erwiderte, benahm selbst dem grausamen Beisatze »Nur mit Hunger, weil wir heute so spät zum Abendessen kommen« seinen Stachel.

Sie nahm es denn auch nicht sonderlich huldvoll auf, als Frau Rohrwek mit einem ziemlich bestimmt lautenden »Nein, nein, das Töchterchen gehört zu uns. Man darf Vater und Kind die Freude des Wiedersehens nicht verkümmern,« die Entscheidung in einem dem ihren entgegengesetzten Sinne traf.

So war es selbstverständlich Hilda, welche auf die Gesellschaft des jungen Mannes angewiesen blieb, der ihr auf einen Wink seiner Mutter zuvorkommend den Arm bot. Beide blieben allein, denn Meinhard war nicht mit eingestiegen, er hatte es vorgezogen, die so unvorhergesehen vergrößerte Familie an diesem Abende diskret sich selbst zu überlassen, und Hilda war kaum dazu gekommen, ihm noch Gute Nacht zu sagen und die Hand aus dem Wagen zu reichen.

Es beschäftigte sie auch so vielerlei, daß sie kaum die Hälfte von dem hörte, was ihres Begleiters geläufige Zunge mitteilte; nur dort, wo eine Antwort unausweichlich war, gab sie dieselbe kurz und zerstreut. So viel Mühe er sich auch nahm, die Fahrt abzukürzen, war ihr noch nie eine langweiliger erschienen, und sie war froh, als endlich die einfachen Linien des zwar nicht großen, aber doch recht stattlichen Schloßbaues hellerleuchtet aus der Finsternis auftauchten.

»Allerdings – recht poetisch – nichts fehlt – auch die weißgekleideten Ehrenjungfrauen nicht,« stimmte sie den scherzhaften Bemerkungen ihres Begleiters zu, indem sie dieselben fast wörtlich wiederholte, und dachte dabei ganz andre Dinge. »Die Gastzimmer und dann der Tisch – zwei Gedecke mehr und ob auch die Christine – –?«

Eiligst huschte sie voran ins Haus, während ihr Bruder mit Frau und Schwiegermutter noch unter der grünen Triumphpforte stand und beim bunten Scheine der in dem Fichtenreisig angebrachten Lämpchen die Glückwünsche seiner Leute entgegennahm.

Da krachte plötzlich ein Schuß durch die Nacht und darauf noch ein zweiter. Frau Rohrwek, welche mit großer Genugthuung und herablassendem Kopfnicken die Anreden mit angehört, stieß einen Schrei aus und klammerte sich an den Altknecht, der ihr zunächst stand.

»Ein Attentat, ein Attentat!« kreischte sie auf.

Sie achtete nicht auf seine beschwichtigenden Worte, es sei ja nur das gnädige Fräulein gewesen, da brauche man nicht zu erschrecken. Aber zu gleicher Zeit fast ließ sich Mimis Stimme vernehmen in einem schallenden »Hurrah!«

»Weißt du, Papa,« setzte sie dann erläuternd hinzu, »Tantchen wollte von Böllern nichts wissen. Da mußt du schon mit meiner kleinen Jagdflinte vorlieb nehmen. Eine Hochzeit muß doch angeschossen werden. Hurrah!«

»Teufelsmädel!« meinte der Vater schmunzelnd und wehrte den Hunden, die winselnd vor Aufregung an ihm hinaufsprangen.

Die junge Frau äußerte ihre Besorgnis über die Gefahr.

Mimi lachte: »Es ist keine dabei! Soll ich wieder laden?«

»Ich sterbe!« ächzte Frau Rohrwek. »Ein entsetzlicher kleiner Kobold!«

Der Kobold aber lachte über die gelungene Verherrlichung des Einzugs.


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