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V.

Es war wieder Sonntag, der Tag, an welchem in Waltershofen immer ein Gedeck mehr aufgelegt wurde, bestimmt für den regelmäßigen Gast, den alten Freund des Hauses. Zuweilen nahm Meinhard schon, wenn die Familie aus der Kirche zurückkehrte, seinen Platz in der Kutsche ein, zuweilen, wenn noch irgend eine dringende Arbeit ihn aufhielt, kam er auch später erst noch knapp vor der erst in den Nachmittag fallenden Tischstunde, wie es sich eben fügte. Selten aber blieb er ganz aus, da mußte schon ein ernstes Hindernis eintreten. Das war seit Jahren eine feststehende Gewohnheit geworden, die eigentlich schon aus der Zeit datierte, wo der Sohn des Verwalters, der damals noch die ökonomische Leitung in Händen hatte, Spielgenosse der Kinder des Gutsherrn war. Man hatte es auch später so gehalten, wenn die Heranwachsenden Jünglinge zu den Ferien nach Hause kamen, und es war eine selbstverständliche Einrichtung geblieben, als eines Tages der fleißige junge Mann in Amt und Stellung trat. Auch die Unterbrechung, welche dann durch seine Versetzung herbeigeführt wurde, brachte sie nicht in Vergessenheit.

Diesmal war die Trennung eine längere gewesen, aber nach Jahren kehrte er, sei es infolge einer günstigen Fügung, sei es, wie manche wissen wollten, auf seine eigene Verwendung, als Leiter in das Amt zurück, bei welchem er seine bureaukratische Laufbahn begonnen, und seitdem hatte er diesen Platz behauptet, fast vergessen, wie es schien, obgleich ihm manches Lob, manche Ehre, ja selbst ein höherer Titel im Verlauf der Zeit zu Teil geworden war.

Die bequeme Nachbarschaft hatte die alte Jugendfreundschaft immer warm erhalten, und es gehörte fast zu den undenkbaren Ereignissen, daß Meinhards Stelle am Sonntagstische leer geblieben wäre. Den ersten Sonntag nach der Ankunft des Ehepaars war dies doch der Fall gewesen, ohne daß eine zeitweilige Abwesenheit dieses Ausbleiben erklärt hätte. Franz hatte das in seiner barschen Weise für eine »beleidigende Delikatesse« erklärt und dafür Sorge getragen, daß sich dieselbe nicht wiederhole. Er hätte seinen Gast tot oder lebendig an die Tafel geliefert, wie er versicherte, und so war denn diesmal die ohnehin schon ansehnlich vergrößerte Tafelrunde wieder voll.

Dennoch hatte nicht der rein behagliche Ton geherrscht, der sonst diese Mahlzeit immer zu einem kleinen Familienfest machte. Meinhard, der nicht seinen gewohnten Platz, sondern den zwischen der Hausfrau und ihrer Mutter angewiesen erhalten, wurde fast ganz von der letzteren in Anspruch genommen und warf nur zuweilen forschende Blicke zu Hilda hinüber. Zu anderer Zeit das belebende Element, schwieg sie heute, war zerstreut, ja manchmal völlig abwesend. Frau von Reinach gehörte gleich ihrem Gatten nicht zu der redseligen Menschensorte, und so war die Unterhaltung hauptsächlich von Edwin geführt, mit dem sich übrigens Mimi ganz gerne in die Kosten zu teilen schien.

Die beiden jungen Leute hatten sich auch, als man nach Tisch im Salon den Kaffee trank, zu isolieren gewußt. Eines jener kleinen Kinderbillards, wo Glaskugeln die Elfenbeinballen ersetzen, bot die günstigste Gelegenheit dazu, und als nachher Meinhard von dem Hausherrn um seine Meinung über eine projektierte Vergrößerung des Stalles befragt wurde und sich die beiden Schwägerinnen den Herren anschlossen, den Augenschein an Ort und Stelle vorzunehmen, da dachte Mimi gar nicht daran, gleichfalls mitzugehen, obwohl neben dem Ponygespann auch für zwei neue Reitpferde Unterkunft geschaffen werden sollte, von denen eines von der Stiefmutter zum Geschenk für sie bestimmt war.

»Glauben Sie, daß ich schwer reiten lernen werde?« hatte sie ihren Mitspieler gefragt. »Ich habe solche Passion dazu, aber auch ein wenig Furcht.«

»Wirkliche Lust und Neigung überwindet alle Hindernisse.«

»Sind Sie davon überzeugt?« Sie sah ihn dabei ein wenig sinnend an, das schalkhafte Lächeln aber siegte. »Dann muß die Neigung wohl noch nicht so recht im Spiele bei Ihnen gewesen sein, denn Ihre Mama meint – Sie schreckten so leicht vor jedem Hindernisse zurück.«

»Es kommt einzig und allein auf das Ziel an, das zu erreichen ist. Stellen Sie mir einmal eine Aufgabe.«

»O ich!« lachte sie leise und wandte sich, um seinem feurig sprechenden Blicke nicht begegnen zu müssen, zu einem Spieltischchen in der Fensternische. Flink begann sie die Karten zu mischen und schob Edwin, der sein Queue gleichfalls fortgelegt, ein zweites Paket zu.

Sie hatten sich einander gegenübergesetzt und zwar Edwin mit dem Rücken gegen das Sofa, in welchem seine Mutter, ihr Hündchen auf dem Schoße, nickte. Die Karten flogen von beiden Seiten in einer gewissen Reihenfolge aufeinander.

»Ich werde mit den meinen früher fertig fein,« triumphierte die Kleine. Sie wußte selbst nicht, warum sie am liebsten in einem fort gelacht hätte. »Da sehen Sie, wie es sich mit der Aufgabe verhält, Ihre Neigung macht Sie nicht einmal geschickter in dem Spiele, das Sie mir doch zu lernen versprachen.«

»Es ist ja eben meine Neigung, die mich ungeschickt macht.«

»Wie wäre das möglich? Rasch geben Sie doch zu!«

»Weil sie nicht den Karten gilt. Was kann ich dafür, wenn ich statt auf diese langweiligen Herren und Damen anderswohin sehen muß.«

»Da haben Sie schon wieder vergeben. Wenn Sie nicht aufmerken!«

»Ich merke viel lieber auf diese rosigen Händchen, diese gelenkigen Fingerchen.«

»Ach, meine Hände sind so häßlich, das weiß ich recht gut. Es ist nicht recht, daß Sie spotten.«

Und ihre Karten fallen lassend, verbarg sie das verleumdete Paar rasch unter dem Tische.

»Nun, ich will nicht widersprechen,« ergab er sich mit erkünsteltem Ernste, »aber Sie tragen selbst die Schuld, warum vernachlässigen Sie dieselben so? Immer sitzt ein Tintenfleck daran.«

»Das ist nicht wahr!« rief sie, feuerrot werdend und streckte ebenso rasch, wie sie sie verborgen, die kleinen Hände wieder vor. »Zeigen Sie mir einen.«

»Da, da.« Er beugte sich vor, wie um besser zu sehen, und im Nu hatte er einen Kuß auf die Fingerspitzen gedrückt.

»Ah, das ist nicht erlaubt!«

»Um so besser. Ich übe mich im Besiegen von Hindernissen.«

»Ich dulde es aber nicht! Das ist ein tückischer Ueberfall.«

»Nicht so laut, sonst wecken Sie Mama und Fips!«

»Ich werde sie zu Hilfe rufen, wenn Sie meine Hände nicht loslassen. Pfui, ich bin böse!«

»Aber doch nicht ernstlich? Bitte, bitte! Versprechen Sie mir ein kleines Lösegeld für die Gefangenen?«

»Horch!« Wie im Schreck war sie aufgefahren. Der Druck gab für einen Moment nach, und diesen benützend befreite sich die schlaue Kleine vollends aus der Gewalt des Ueberlisteten. »Ich habe keine kleine Münze bei mir, aber zu Weihnachten sollen Sie einen Federwischer erhalten!« rief sie triumphierend und huschte lachend davon.

»Ausbruch aus dem Gefängnisse! Das verschärft nur die Strafe.«

Eifrig wollte Edwin dem mutwilligen Kinde folgen, doch ehe er noch die Glasthüre erreicht hatte, die wie jene aus Hildas Zimmer nach dem Garten, so hier auf den Rasengrund des kleinen Parkes hinausführte, rief ihn die Stimme seiner Mutter zurück.

Er entschloß sich nur schwer, der Aufforderung nachzukommen; die Rolle des Verfolgers sagte ihm offenbar besser zu, als die des gehorsamen Sohnes.

»Ich dächte, du hättest geschlafen,« meinte er ein wenig übellaunig.

»Eine Mutter wacht immer, wo es das Glück ihrer Kinder gilt.«

»Das muß eine recht aufreibende Beschäftigung sein. Wolltest du die Sorge nicht mir überlassen, Mama?«

»Ich will dir im Gegenteile jede Sorge fernhalten, weil ich erfahren habe, was Sorge ist. Du solltest mir im Herzen dankbar dafür sein.«

»Nun ja, Mama, wodurch muß ich meine Dankbarkeit beweisen? Befiehl! Dich auf meinen Schultern in deine Wohnung hinauftragen? Fips durch den Reif springen lehren, oder für ihn Zucker vom Kaffeetisch unterschlagen und ihn damit zu Tode füttern?«

»Deine Tollheiten auf ein paar Minuten lassen – der arme Fips, ich meine, der steht doch keinem Menschen irrt Wege! – und dich aus ein vernünftiges Wort hier an meine Seite setzen.«

»Ich sitze. Mein Teil wäre gethan; das andere hängt nicht von mir ab.«

Frau Rohrwek ging über die Anzüglichkeit hinweg. Sie war von ihrem Lieblinge durch besonders respektvolles Benehmen nicht verwöhnt. Ihr genügte der Anschein von Gehorsam und sie hielt die Gelegenheit fest, ihre schwankende Autorität wieder zu befestigen.

»Denkst du denn gar nicht ein bißchen nach?« begann sie. »Was soll diese Neckerei, dieses ewige Herumspielen und Tollen mit dem kleinen Mädchen?«

»Ich unterhalte mich eben dabei.«

»Aber wohin soll das führen, frage ich?«

»Da machst du dir wirklich recht unnötige Mühe. Sieh, Mama, ich frage nicht und denke nicht daran.«

»Aber die Kleine denkt daran. Sie ist eine schlaue Kokette und gibt sich alle Mühe, dich zu fangen. Glaube mir, ich weiß das zu unterscheiden.«

»In der That, du schmeichelst, Mama. Weißt du, das dürfen Eltern ihren Kindern gegenüber nie thun, es ist eine fehlerhafte Erziehungsmethode. – Nicht daß ich von meinem eigenen Werte im allgemeinen zu gering dächte,« fuhr er in einer Mischung von Humor und Selbstgefälligkeit fort, während er seinen zierlichen Schnurrbart zwischen den Fingerspitzen durchlaufen ließ. »Ich weiß meine persönlichen Eigenschaften wohl zu schätzen, wenn ich auch noch nicht dazu gekommen bin, einer derselben den Preis zuzuerkennen. Es entspringt dies eben einer gleichwertigen Entwicklung alles Schönen und Gediegenen am und im Menschen. Du solltest nur nicht noch beitragen, meine Eitelkeit zu erhöhen, da ich schon so ziemlich das Bewußtsein einer unerreichbaren Vollkommenheit in mir trage.«

»Und mit Recht,« sagte die Mutter stolz und betrachtete ihn mit verzückten Blicken. »Aber ebendeshalb darfst du auch Ansprüche machen; die Welt ist dir eine Entschädigung schuldig.«

Für das nicht vorhandene Erbe meines Vaters?«

»Du bist ein Herr von Tonner.«

»Zu meinem Bedauern – als Edwin Rohrwek würde ich das Vermögen meiner Schwester teilen, – nicht daß ich es ihr nicht gönnte.«

»Du darfst es ihr auch gönnen; es liegt ja ganz an dir, dich in dieselbe Lage zu versetzen. Du brauchst bloß die Hand auszustrecken.«

Es schien fast, als beabsichtige er dem Rate sofort zu folgen, wenigstens hob er die Hand und beugte sich horchend vor. Man vernahm aus der Ferne die Töne des Klaviers.

»Siehst du, und Hilda ist nicht nur ein wohlhabendes Mädchen, ein Mädchen, das außer ihrem Barvermögen nichts hätte und dessen man sich schämen müßte. Sie hat Bildung und Talente. Wie hübsch sie wieder spielt, viel hübscher als die Kleine.«

Edwin hütete sich wohl, die Mutter aus ihrem Irrtum zu reißen und ihr zu sagen, wer diese schottische Polka, die seine eigene Komposition war, ihm abgelernt hatte.

Wie elektrisiert hob er sich nach dem Takte und summte dazu in rascher Improvisation:

»Komm doch, komm doch, nimm mich gefangen!
Komm doch, komm doch, strafe mich recht hart!«

»Und dann,« fuhr Frau Rohrwek fort. »Ihr Männer habt zwar in Geschmacksachen eure eigenen Ansichten, aber ich glaube doch auch ein kleines Urteil, was Frauenschönheit ist, zu haben. Man hat mir in meiner Jugend zu oft auseinandergesetzt, was man an mir bewundert, und dann ist man ja auch nicht blind für seine eigenen Vorzüge, – da ist der Spiegel – und, man stellt so seine Vergleiche an. Ich will nicht sagen, daß Hilda ganz meinem Ideale entspreche, dazu ist sie nicht groß und voll genug, sie erreicht deine Schwester nicht, die mir gleich sieht, wie ich ehedem war, aber was wahr ist, muß man ihr lassen, gut gewachsen ist sie, und ihr Teint, so was wird nicht leicht zu finden sein, wie Alabaster, sie könnte erst heute achtzehn Jahre alt geworden sein, und was nun gar ihre Augen betrifft –«

»Ja, du hast recht,« erwärmte sich nun auch Edwin an dieser begeisterten Schilderung. »Ihre Augen könnten es einem wirklich anthun. Nixenaugen, hell und klar wie Wasser, meint man zuerst, und dann ist's als ob man untertauchte, immer tiefer und tiefer – eine unergründliche goldig schimmernde Dämmerung!«

»Nun also!« rief die Matrone erfreut, »du solltest ihr das doch in einem deiner Gedichte sagen, du machst sie so schön. Das ist unwiderstehlich! Probier' es doch nur!«

»Das ist es ja eben,« entgegnete er bedenklich. »Für ein Gedicht kann es keinen glücklicheren Vorwurf geben, aber man kann ja nicht immerfort dichten und so für's Leben – Sie ist mir doch eigentlich zu edel, zu ruhig, zu erhaben, zu – zu frauenhaft, möchte ich sagen. Ich bewundere diese hohe Weiblichkeit, aber ich amüsiere mich doch viel mehr mit einem lustig bewimpelten kleinen Kahn als mit einem stolz dahinsegelnden Linienschiffe. Ich liebe das Niedliche, das Pikante, siehst du, das Prickelnde, den Champagner, – das ist etwas ganz anderes!«

»Ja, aber gerade der Champagner gehört nicht zu den Genüssen, die man an jedem ländlichen Röhrbrunnen holen kann.«

»Du sprichst wie ein Buch, Mama,« seufzte er.

»Und um dir ein Beispiel zu geben: wenn ich das nicht bedacht hätte, als die Frage an mich herantrat, so wäre ich – so hättest du,« verbesserte sie sich schnell, »eine traurige Jugend gehabt und lange nicht die Erziehung genossen, die ich dir verschaffen konnte, indem ich weniger auf die Stimme des Herzens als auf die des Verstandes hörte, und mich entschloß, in eine niederere Region herabzusteigen. Ich will nicht sagen, daß mein zweiter Gatte nicht einer ganz guten alten Patrizier –«

»Patrizierfamilie heißt es, Mama, aber bitte, laß den seligen quieszierten Bäckermeister diesmal ruhig in seinem Grabe bis zur nächsten Citation. Bei mir verfehlt sie ja doch den Eindruck. Ich stehe hinter dem Spiegel für die Geistererscheinungen.«

Frau Rohrwek räusperte sich und fuhr sich mit dem Tuche über die Augen – sie war eben schon gewöhnt, ihre Gemütsbewegung an dieser Stelle derartig anzudeuten – dann bequemte sie sich aber doch der pietätlosen Unterbrechung an und hielt sich mehr an praktische Begründung ihres Vorschlags.

»Du weißt, daß Rohrwek alles seiner Tochter vermacht hat und mir nur die Nutznießung des Hauses in Schönau auf Lebenszeit verbleibt. So lange ich da bin, kann ich dir unter die Arme greifen, ich werde von nun an den größten Teil des Jahres in Waltershofen bleiben, um zu sparen, aber wenn ich sterbe –«

»Nichts da, Mama, solche Rühreffekte werden nicht geduldet –«

»Ich bin zwar noch nicht alt, aber du weißt, mein Sohn, mein Asthma, meine Krämpfe – ich kann von heute auf morgen –«

All die Leiden los werden, Mama, wenn du nur den Willen dazu hast. Erkläre dich selbst gesund. Nein, nicht weinen, Mama, das ertrag' ich nicht, echte Thränen, weißt du! Trockne sie doch – ich verspreche dir ja, mein Möglichstes zu thun. Schnell die Thräne weg, ehe die andern sie sehen!«

Er sprang auf und trat mit einem heitern Wort den Zurückkehrenden entgegen. Franz war noch in eifrigen Erläuterungen seiner Pläne begriffen und Meinhard hörte ihm aufmerksam zu, die Damen aber hatten sich längst aus dem gar zu tief ins Technische gerathenen Gespräche gezogen.

»Du hier, Mama?« sagte die junge Frau erstaunt, »ich vermuthete dich zu deiner gewohnten Siesta auf deinem Zimmer.«

»Ach das Treppensteigen! Es strengt mich wirklich zu sehr an. Für eine alte Frau ist das eine zu harte Zumuthung.«

»Dann hättest du doch mein Anerbieten annehmen sollen, als ich mich als Sänftenträger verdingen wollte,« scherzte Edwin, doch hatte Franz die Bemerkung seiner Schwiegermutter schon gehört, er unterbrach seine Auseinandersetzungen und trat mit ungeduldigem Achselzucken an ein Fenster.

So konnte sich Meinhard endlich Hilda nähern, welche damit beschäftigt war, mit einige kaum erblühte Herbstrosen einen Seidenfaden zu schlingen. Edwin hatte sie eben gefragt, für welchen Glücklichen Flora ihre heitern Kinder bestimmt habe, und von Hildas sanft lächelnden Lippen die ablehnende Antwort erhalten, sie habe von der Göttin darüber keine bestimmte Anweisung erhalten; darauf nannte er sie in einem nicht viel originelleren Komplimente grausam, weil sie ihre eigenen Schwestern fessle, und rief schließlich Meinhard zum Zeugen der Richtigkeit des ebenso ruhig abgewiesenen Vergleiches auf.

»Ich finde ihn vollkommen – unzutreffend,« erklärte Meinhard mit einer sonst nicht an ihm bemerkbaren Schroffheit, die Wohl einigen Zweifel an dem steten Gleichmaß seines Pulses und ebenso an der vorausgesetzten Unparteilichkeit zu erwecken geeignet war. »Diese Rosen sind frisch, Sie selbst nannten sie heitere Kinder Floras, zwei Eigenschaften, die ich bei Fräulein Hilda heute vermisse.«

»Wie ungalant!« entsetzte sich Edwin. Hilda dagegen schien diese Aufrichtigkeit durchaus nicht übelzunehmen. Sie wehrte sich dagegen nicht wie gegen die Schmeichelei und hob ihren Blick ernst zu dem alten Freunde empor, der in ihren Augen aufmerksam zu lesen suchte.

»Sind Sie krank?« fragte er.

»Ich will Ihnen sagen, Onkel Meinhard, was Tantchen hat,« mischte sich Mimi plötzlich ein. Als sie ihre Polka zweimal durchgespielt hatte und die vielleicht erwartete Unterbrechung immer noch nicht eingetreten war, hatte sie es vorgezogen, selbst abzuschließen und zurückzukehren. Sie strahlte vor Lust und Uebermut und lachend gab sie den versprochenen Aufschluß. »Sie ist müde, weil sie nicht ausgeschlafen hat.«

»Mimi!«

»O, ich lasse mir den Mund nicht verbieten. Ich will alles ausplaudern. Wenn man mir etwas anvertraut, weiß ich auch zu schweigen, da ist es Ehrensache. Wenn ich aber selbst meine Entdeckungen mache, kann ich davon verraten, so viel ich will.«

Was wußte das Kind? Was konnte hier aufgedeckt werden? Hilda zitterte und doch konnte sie nichts thun, die kleine Plaudertasche zum Schweigen zu bringen.

»O, ich habe es heute früh ganz genau gehört, wie es nebenan in deinem Schlafzimmer huschte und raschelte. Es war noch ganz dämmerig, ich denke nicht einmal halb sechs und im ersten Moment hatte ich solche Furcht, daß ich mit dem Kopfe schnell wieder unter die Decke fuhr. Ich fürchte mich nicht vor Gespenstern – ich bin kein kleines Kind mehr, – aber – dann habe ich mich eben doch besonnen, und als ich zu dir hinüberschlich, da fand ich dein Bett leer und das Schränkchen, worin du deine Hausapotheke hast, offen. Siehst du, Tantchen, so kommt man hinter deine Geheimnisse!« Sie umschlang Hilda von rückwärts und legte ihr das Köpfchen mit dem Kinn auf die Schulter. »Aber es ist dann kein Wunder, daß man es büßen muß, wenn man so früh aufsteht, man ist den ganzen Tag schläfrig. Ich – ich habe dann bis zum Frühstück noch prächtig geträumt. O, so prächtig –!«

Es blieb unentschieden, ob der Kuß, den sie flüchtig auf Hildas Wange drückte, mit dieser abgebrochenen Schilderung in irgend einem Zusammenhang stand, oder nur eine Abbitte für die kleine Indiskretion sein sollte, die eine tiefere Unruhe und Verlegenheit hervorgerufen hatte, als der kleine Schalk hatte voraussetzen können. Hilda war wie vom Schreck gelähmt. Verblieb es bei dieser Enthüllung oder kamen noch weitere nach? Zum Glück war der Farbenwechsel auf ihren Wangen, das Zittern der Lider über ihren Augen, die sie betroffen niedergeschlagen, allen entgangen außer der jungen Frau, und diese deutete die Zeichen anders.

»Du schämst dich doch nicht deines Samariterganges?« sagte sie freundlich. »Wir sind es, die du beschämst. Ich habe schon von deinen Krankenbesuchen gehört; du mußt mich in Zukunft daran teilnehmen lassen.«

»Ist die alte Kolbenhäuslerin wieder bettlägerig geworden?« fragte der Hausherr, aber er erhielt so wenig eine Antwort als seine Gattin.

Es war Hilda unmöglich, auch nur ein Wort hervorzubringen; doch drang auch niemand in sie. Auf Edwins Ausruf: »Bewundernswert!« hatte sich eine Erörterung der Frage des Laienbesuchs in Lazaretten oder in den Hütten der Armut entsponnen, welche den Fall ins Allgemeine zog. Mimi erklärte sich schüttelnd, ihr sei jedes Krankenzimmer ein Grauen, Herr von Reinach bestritt den Nutzen solchen Eindrängens in eine fremde Sphäre, in die man nur Störung bringe, ohne einen andern als höchstens einen erheuchelten Dank davonzutragen. Dagegen trat Edwin als Verteidiger Hildas auf, die sich selbst nicht beteiligte. Er führte alsbald das große Wort wie immer, indem er nach seiner Gewohnheit mit rhetorischem Schwung über Zustimmung, wie über Einrede hinwegsetzte, obwohl er selbst nicht unterließ, wiederholt zu beiden herauszufordern.

»Gern will ich zugeben,« proponierte er, »daß nicht jeder den Beruf in sich fühlt, es kann da die Individualität nicht übersehen werden; oft ist es ein rein körperlicher Widerwille, der gerade manche feiner organisierte Naturen für solche Annäherung an die Häßlichkeit des menschlichen Gebrechens unfähig macht – denn häßlich ist es, sage selbst Franz, und das werden die Damen sicherlich zugeben müssen. Ich gehöre aber auch zu diesen Unberufenen; das aber wird mich nicht abhalten, das hohe Verdienst anzuerkennen, oder darf irgend eine kühl verständige Ueberlegung es schmälern? Ich wäre begierig zu hören, was sich dagegen einwenden ließe. Schlagen Sie mich, ich will es darauf ankommen lassen.«

»Man könnte vielleicht,« begann Meinhard, an den sich die Aufforderung gerichtet hatte, brach aber sofort kurz ab, da sich Edwin längst wieder weggewendet hatte und wohlgefällig versenkt in die eigene Beredsamkeit mit begeistertem Aufblick fortfuhr:

»Ein hohes Verdienst, gewiß! – ein unschätzbares Verdienst! denn was erhellt die düstere Nacht des Elends, wenn nicht ein Engel des Lichtes zuweilen segenspendend durch dieselbe hinschwebt? Nur die verknöcherte Selbstsucht kann behaupten, daß die Trägheit der Leute gefördert und sie vom Aufsuchen zweckentsprechender Hilfe abgehalten werden, daß solche ungeschulte Hände den Arzt in der Regel nicht unterstützen, sondern ihm entgegenarbeiten, daß die Zeit der patriarchalischen Herrschaft längst vorüber und den einstigen Unterthanen dies Einmischen in ihre Angelegenheiten unangenehm sei, wie es hinwieder uns unangenehm wäre, wenn sich so ohneweiters irgend eine hochgestellte Dame an unser Krankenlager setzte und uns zum Einnehmen ihrer Arznei zwänge. Auf Dank aber rechnet ein edles Herz nicht und dem Guten muß man selbst mit Gewalt Eingang verschaffen, wo es not thut, mit der sanften Gewalt der Frauenhand natürlich. Und ob es not thut! Es gibt noch viel des Elends in der Welt und schön muß es sein, als ein Bote des Erbarmens und der Liebe an den verwahrlosten Stätten des Unglücks einzukehren. Sagen Sie selbst, Herr Statthaltereirat, ob das nicht eine beseligende Empfindung sein muß! Wer empfände den edlen Drang nicht in sich selbst? Glücklich, wer ihn nicht unterdrücken muß, glücklich, doppelt glücklich, wer ihm voll und ungehindert folgen darf! – Aber Sie antworten ja gar nicht? Ich glaube, Sie wollten etwas einwenden.«

»Nicht doch,« entgegnete Meinhard ruhig, aber mit dem Nachdruck einer tiefergehenden Verstimmung. »Ich möchte höchstens bemerken, daß man nur fragen soll, wenn man auch die Antwort zu hören geneigt ist.«

»Das ist auch meine Ansicht. Man soll die fremde Ueberzeugung anhören, um sich ihr zu beugen oder sie zu widerlegen.«

»O, man kann sie auch überschreien, das ist in unsrer Zeit sogar ein sehr probates Mittel,« versetzte Meinhard, diesmal in leichterem, mehr scherzhaft ironischem Tone. Aber dies verwischte nicht ganz den Eindruck seiner frühern Worte.

»Sind Sie nicht ein bißchen ungerecht gewesen?« fragte ihn später Hilda. Sie meinte überhaupt bemerkt zu haben, daß er sich gereizter gegen den jungen Mann zeige, als sie ihn sonst in gesellschaftlichem Verkehre kannte, und die scharfe Zurechtweisung, die nur Edwin nicht bemerkt zu haben sich den Anschein gab, hatte in dem kleinen Kreise thatsächlich ein momentanes Verstummen herbeigeführt, über das erst der Hausherr wieder hinweghalf.


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