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VII.

Nein, nicht allen!

Sie dachte es lange nicht mehr, als sie zwei Tage nach der Unterredung mit ihrem Bruder hastig über den Marktplatz schritt, der den älteren Teil der Stadt von den neuen Straßenzügen trennte, die sich seit der Erbauung der Eisenbahn in der Richtung gegen den Bahnhof entwickelt hatten.

Was sollte aus dem Armen auf seinem dürftigen Krankenlager im Jägerhause wohl werden ohne sie? Für ihn war sie jetzt auf einem doppelten Gange. Bei ihrem Morgenbesuche hatte sie ihn leidender getroffen; die schwere Nebelluft sei schuld, hatte er gemeint, daß es mit ihm so langsam vorwärts gehe, aber eine Wiederholung jenes ohnmachtähnlichen Anfalles hatte Hilda überzeugt, daß es sich hier nicht bloß – wie sie das erste Mal geglaubt – um eine durch Ueberanstrengung und Entbehrung hervorgerufene augenblickliche Erschöpfung der Kräfte handle, die durch Pflege und nahrhafte Kost gehoben werden konnte. Der Wein hatte sogar eine nachteilige Wirkung hervorgebracht. Geängstigt durch die ihr fremden Symptome, hatte sie ihre eigenen Hilfsmittel für unzureichend erkennen und den schweren Entschluß fassen müssen, ihre Zuflucht zu ärztlicher Hilfe zu nehmen. Sie hätte dies gerne vermieden, denn war auch Trines und des Jägers Schweigen gesichert, so konnte doch der geringste Zufall eine Entdeckung herbeiführen. Nun sollte es noch einen weiteren Mitwisser geben, und seine Besuche, wenn auch durch die Abgelegenheit des Jägerhauses möglichst der Beobachtung entzogen, vermehrten doch immerhin die Unsicherheit des Verstecks. Aber alle Bedenken mußten schließlich der Notwendigkeit weichen, es war eben unvermeidlich, den Arzt ins Vertrauen zu ziehen.

Er war seit langen Jahren schon der Ratgeber und Freund des ganzen Hauses und so konnte Hilda wohl auf seine Verschwiegenheit zählen. Er gab ihr dann auch das Versprechen, nachdem er sich von dem ersten Erstaunen erholt hatte, das ihre Mitteilungen bei dem alten Manne hervorriefen, und wollte sein Ab- und Zugehen so vorsichtig einrichten, daß er gewiß nicht zum unabsichtlichen Verräter werde.

In dieser Beziehung erleichtert, hatte Hilda sein Haus verlassen, mit Beunruhigung aber sah sie, wie viel Zeit darüber vergangen war, die Heimkehr des auf seinem täglichen Rundgange Befindlichen zu erwarten, während seine Frau in ihrem Eifer, den seltenen Besuch festzuhalten, sie daran verhindert hatte, sich wieder zu entfernen und um die Mittagsstunde abermals vorzusprechen. Sie hätte mittlerweile den zweiten Gang abthun können, den geheim zu halten ihr nicht minder am Herzen lag. Und sie war nicht allein zur Stadt gekommen, denn als Frau Rohrwek davon hörte, daß der Wagen angespannt werde, hatte sie plötzlich das Bedürfnis gefühlt, den kleinen Ausflug ebenfalls zu machen. Die kleinen Einkäufe, welche dazu Anlaß gaben, nahmen aber nicht viel Zeit in Anspruch, und es war voraussichtlich keine leichte Aufgabe, den von ihrer Unruhe und Neugierde gestellten Fragen über ein längeres Ausbleiben mit genügenden Aufschlüssen zu begegnen.

Dennoch konnte dieses zweite Geschäft nicht aufgeschoben werden. Ein paar Tage hatte sich Herr Louis Schöpf allerdings ruhig verhalten, er achtete großmütig die selbstgewährte Bedenkzeit, nur ab und zu war er, wie um seine Anwesenheit zu konstatieren, im Jägerhause erschienen und hatte es sich dort zum Entsetzen der alten Trine bei den von dem Kranken verschmähten Speisen recht wohl geschehen lassen, während ihm Halder beim Kartenspiel in dem heimlich aus dem Schlosse geholten Weine Bescheid thun mußte.

Nun schien aber eine plötzliche Unruhe in den würdigen Mann gefahren und der schmutzige Zettel, welchen Trine am Morgen Hilda abgeliefert, enthielt die entschiedene Erklärung, er könne nun nicht länger zuwarten. Dringende Gründe nötigten ihn, an seine Abreise zu denken, er müsse es den Beteiligten überlassen, an den Kranken und dessen Fortkommen zu denken, im Grunde sei er nur der Vater seiner Tochter, für die habe er zu sorgen und dürfe dem Interesse nicht durch sein gutes Herz und durch seine Teilnahme für Menschen, die nichts gethan hätten, sich derselben auch würdig zu zeigen, in Gefahr bringen. Mit einem Worte, der Vertrag müsse zum Abschlusse gebracht werden, widrigenfalls – und nun kam eine Pause, die bedeutungsvoll genug war. Hinzugesetzt war noch die Bemerkung, daß er mit Bestimmtheit einer Zusammenkunft am nächsten Morgen entgegensehe. Die Angelegenheit müsse unbedingt bis dahin ihre Erledigung finden.

Hilda war nicht gerade eingeschüchtert. Sie hatte Zeit gehabt, zu überlegen und sich vom ersten Schreck zu erholen. Sie war dahin gekommen, sich die skeptische Anschauung Wilhelms anzueignen, der überzeugt war, daß sich sein Schwiegervater hüten werde, seine Drohung auszuführen, so lange ihm noch irgend eine Aussicht blieb, den gehofften Gewinn aus der Sache zu ziehen. Der Brief störte aber doch die Sicherheit, in die sie sich einzuwiegen begonnen. Die Gründe, von denen er sagte, daß sie ihn zur Beschleunigung seiner Abreise zwängen, schienen doch kein bloßer Vorwand für sein Drängen zu sein, und war sein Mißtrauen einmal geweckt, glaubte er sich um den Erfolg seiner Schliche gebracht, dann hinderte diesen Mann, wie sie ihn kennen gelernt in all seiner Unverschämtheit und Bosheit, auch wohl nichts, aus Rache so viel Unheil anzurichten, als ihm möglich war.

Sie hielt es daher für geraten, die Dinge nicht bis zum Aeußersten kommen zu lassen. An den Bruder sich zu wenden, wagte sie nicht mehr. Allzu entschieden hatte Franz sie abgewiesen, und war sie auch überzeugt, daß er im schlimmsten Falle den verleugneten Bruder dennoch nicht im Stiche lassen werde, so fühlte sie sich doch zu sehr verletzt, um ohne die allerdringendste Nötigung die mißglückten Versuche zu wiederholen. Einen Augenblick hatte sie an eine Anleihe gedacht, aber bei der Unbehilflichkeit der Frauen in diesen Dingen erschien ihr das Aufsehen, welches ein solcher Schritt in der kleinen Stadt unfehlbar machen mußte, sobald er bekannt wurde – und wie sollte sie sich die Verschwiegenheit ihres Gläubigers sichern? – in noch bedenklicherem Lichte. Ja, wenn ein Freund ihr seine Vermittlung oder nur seinen Rat geliehen hätte, aber wen sollte sie darum ansprechen? Dem einzigen, dem sie vertrauen konnte, dem durfte sie es nicht, und der flüchtige Gedanke, den alten Hausarzt auch noch weiter einzuweihen, als es unumgänglich geschehen mußte, schwand rasch wieder während ihrer Unterredung mit ihm, bei der Wahrnehmung seiner Bedenklichkeiten und der Erinnerung an die umgehenden Anekdoten über seine Abhängigkeit von seiner energischeren Ehehälfte und deren stadtbekannten Geiz.

Besser, sie beließ es bei der einen Zumutung und bereitete dem alten Herrn keine weiteren Verlegenheiten. So war es bei der ersten Eingebung verblieben, sie hatte ja noch ein kleines Kapital frei und warum sollte sie sich auf die Schwierigkeiten bei Beschaffung einer so großen Summe einlassen, wo sie ja eigentlich nur die Hand nach dem Gelde auszustrecken brauchte? Auf die ganze begehrte Summe belief sich das kleine Vermögen freilich nicht, aber auch darin neigte sie Wilhelms Meinung zu, daß sich die freche Anforderung wohl auf die Hälfte oder dergleichen herabstimmen lassen werde. Sechstausend Gulden waren es, die sie vor Jahren von einer Tante geerbt und die seither von Meinhard für sie verwaltet wurden. Es stand ihr jeden Augenblick frei, dies Kapital an sich zu nehmen, wiewohl ihm ursprünglich eine andre Verwendung zugedacht war. Eine Angabe des Zweckes bedurfte es ja gar nicht, niemand hatte ein Recht, eine solche von ihr zu fordern. Das war jedenfalls die leichteste Art, die Geldfrage ins reine zu bringen; ein glattes Ablaufen stand außer allem Zweifel.

Dennoch wurden Hildas Schritte kürzer und kürzer, je mehr sie sich dem düstern alten Gebäude näherte, in welchem das Amt untergebracht war. Wie ein befestigtes Schloß stand es neben dem stehengebliebenen Thor der abgerissenen Stadtmauer und gewann nur wenig an Freundlichkeit durch die Blumen, welche im ehemaligen Verteidigungsgraben gezogen wurden, den man in ein Gärtchen verwandelt hatte.

Sie sprach sich selber Mut ein. Es war ja nicht das erste Mal, daß sie diese ausgetretenen Stufen, diesen dunkeln Flur und die hallenden Gänge betrat. Schon verschiedene Male war es vorgekommen, daß sie Meinhard in seiner eigenen Behausung aufgesucht, wenn irgend eine Botschaft vom Bruder auszurichten war. Sie kannte den Weg zu dem alten verschnörkelten Eisengitter recht gut, das die Wohnung von den Amtslokalitäten schied, – aber freilich, allein war sie denselben noch nicht gegangen. Es war sogar Mimis Hauptvergnügen gewesen, die Winkel des seltsamen Gebäudes zu durchstöbern, durch die schmale Spitzbogenthüre zu schlüpfen und die Glocke zu ziehen, deren dumpfer Schall gespenstige Echos von den vorspringenden Ecken und gedrückten Wölbungen weckte. Heute vermißte Hilda ihre kleine Begleiterin, sie selber mußte die Hand ausstrecken nach dem Klingelgriff aus geschwärztem Eisen. Und diese Hand zitterte ein wenig und zauderte, bevor sie den Zug that.

Mit einer Bewegung des Unwillens machte Hilda dieser kurzen Unentschlossenheit ein Ende. Ein Lächeln des Spottes über sich selbst verzog ihren Mund.

»Man sollte meinen, es sei des Löwen Höhle, in die ich mich wage!«

Was lag daran, wenn der Diener, der ihr jetzt mit so verwunderten Augen öffnete, seine Glossen machte, es kann doch niemanden einfallen, diesen Besuch zu mißdeuten. Ein Mann in Amt und Stellung empfängt deren mancherlei; warum sollte sie hier nicht geradeso ohne Scheu eintreten, wie eben noch beim Arzte? Allerdings galt ihr Anliegen nicht dem Staatsdiener, sondern mir dem Freunde, aber auch der würde gar nichts Ungewöhnliches darin sehen, daß sie zu ihm kam – nein, gewiß nicht. Sie standen beide in des Lebens Reife und es war schon so lange, so lange her, seit – wieder streifte das Lächeln die Lippen – seit jenem Jünglingstraum.

Der Anflug von Verlegenheit war vorbei. Ruhig und mit der kühlen Herablassung der vornehmen Dame nahm sie die Versicherung des Dieners entgegen, er werde sie zwar gleich anmelden, aber es könne leicht einige Zeit vergehen; sein Herr käme eben jetzt schwer ab, es sei die Stunde der Unterschriften vor Postschluß. Sie sah sich nicht neugierig um, als sie allein war, das Zimmer kannte sie bereits mit seiner ernsten Einrichtung und seinen hohen Bibliothekschränken. Meinhard war ein Bücherfreund und gar manchen Band, den er ihr nach Waltershofen hinausgebracht, hätte sie hier herausgreifen können. Ihre innere Unruhe gestattete ihr jedoch nicht einmal, in den aufliegenden Bilderwerken zu blättern. Während ihr Auge jedoch über die goldgepreßten Einbände hinstreifte, blieb es plötzlich an einer kleinen Vase haften, die neben den Büchern und zwischen einigen Photographien auf dem Tische stand.

Seltsamerweise war es gerade die ihrige, vor der das zierliche Gefäß seinen Platz hatte, und in demselben hing matt und farblos – ein welker Rosenstrauß.

Es brauchte ihr niemand einen Aufschluß zu geben, das Verständnis fand sich in ihr ganz von selbst. Wie wenn die toten Blumen Augen hätten, glaubte sie ihr vorwurfsvolles Nicken zu sehen. Wo war das frische blühende Leben geblieben, das als Ersatz an die Stelle dieser abgestorbenen Blüten treten sollte? In eine fremde Hand waren sie geraten. Warum hatte Hilda sie dem Freunde vorenthalten? Ein Unrecht erschien es ihr fast, an ihm begangen, der die Erinnerung an sie so treu bewahrte – auch wenn sie duftlos und welk geworden war.

Und diesmal lächelte sie nicht über die Sentimentalität, die sich in diesem Zuge offenbarte und zu der ihr eigener Gedankengang im Momente neigte. Es war sogar ein zarter Hauch von Wehmut in dem Laut, der ihren Lippen, wohl ohne daß sie es wußte, entglitt.

»Bruno!«

Der Name klang in ihrem Ohre wie von einer hellen Kinderstimme gerufen.

Bruno, das war ja der ernst freundliche Knabe, mit den gemessenen Bewegungen, der unermüdlichen Bereitwilligkeit und den guten blauen Augen voll jeglicher Ergebenheit. Verwalters Bruno, der ihr immer zur Hand war, wenn sie ihn brauchte, und von dem die kleine muntere Hexe gar nicht zu denken vermochte, daß es auch anders sein könnte. War der Puppe ein Malheur passiert, dann wurde er Arzt; ging der Rauchfang des kleinen Kochherdes aus den Nieten, half er als Blechschmied. Wer sonst hätte es denn thun sollen? Wie hing sie dafür auch an seinem Halse unter bitterlichen Thränen, als er fortzog zur Universität. Und wenn er dann wieder in die Ferien kam, da hieß es wie ehedem: »Bruno, komm hierher, du mußt mir dies erklären, du verstehst das viel besser, als unser alter Professor im Institut«, oder »Bruno, gib mir deinen Arm, der weite Weg hat mich so müde gemacht«; nur wenn getanzt wurde, im Falle Besuch kam, da war's mit Bruno nichts, er nahm sich gar zu ungeschickt dabei. – Und »Bruno« blieb er weiterhin noch, wenn auch das herangewachsene Dämchen sich sorgsam in acht nahm, den jungen Herrn zu duzen. Sie waren ja keine kleinen Kinder mehr, es hatte sich alles verändert.

Bruno eigentlich nicht sehr, er war der Alte geblieben, noch so treuherzig und gütig, aber auch schüchtern und linkisch wie ehedem. Er war ganz unübertrefflich, ein Gedicht vorzulesen, einen ernsten Gegenstand klar auseinanderzusetzen; aber in Gesellschaft war er so unbeholfen, besonders wenn man ihn mit Wilhelm verglich. Welch ganz andre Figur doch so ein junger Leutnant machte, wie elegant seine Erscheinung war, wie er zu plaudern verstand, welche köstliche Streiche er zu erzählen wußte! Ach, der Abstand zwischen diesem Ideal der jungen Mädchenphantasie und Bruno war doch gar zu groß! Sein Arm war stark und auf sein Wort Verlaß, aber wie ungelenk, wie er sich bewegte und was er vorbrachte! Ach Bruno, Bruno, wie komisch! Wer hätte da nicht lachen sollen?

Wie ein Zauber kam's mit dem matten Duft der welken Rosen. Ein Bild aus längstvergangener Zeit stand da vor Hildas Augen, lebhaft und deutlich, wie wenn das alles eben jetzt geschähe. Die Sonne schien im Garten über ein Rosenbeet, von dem der scharfe Nachtwind die Blätter verweht hatte über alle Wege hin, und in die Büsche, dort schwammen auch ein paar wie Elfenkähne über den kleinen, unter dem fallenden Strahl stetig zitternden Ozean des Brunnens. Und neben dem Bassin stand ein junges Mädchen und horchte auf die Worte eines jungen Mannes, der eifrig und warm sprach, doch allmählich immer mehr stockte und leiser und schüchterner wurde und endlich fast mit versagender Stimme eine Bitte wagte, vor der er selbst zu erschrecken schien. Das Mädchen aber schüttelte den Kopf und that gar klug und gleichgültig, so heftig das kleine Herz in der Brust auch eine Minute lang pochte, und sprach von den ernsten Pflichten, die es übernommen, von dem Verlust, den das arme Kind des Bruders erlitten, von dem großen Lebenszweck, der einem Schwesterherzen damit erwachsen und der jeden selbstsüchtigen Gedanken ausschließe, und sah nicht, daß, während all die großen Worte fielen, das kleine mutterlose Ding, das kaum noch den ersten Schritt zu machen gelernt, dem Springbrunnen zugekrochen war und das Händchen nach den schiffenden Blättern streckte.

Es war vielleicht nur ein Augenblick, doch der genügte, das zarte Wesen zu behüten; der junge Mann hatte die Gefahr erkannt und war ihr mit der gewohnten Geistesgegenwart begegnet. Es war nur eine blitzschnelle Bewegung, ein Schritt und dann ein Plätschern des Wassers, daß sich ein Schrei der Brust des Mädchens entrang, das keine Ahnung von dem hatte, was eigentlich geschehen, und nur den jungen Mann plötzlich wie durch eine Versenkung verschwinden sah. Er hatte das Gleichgewicht verloren und war, das Kind bewahrend, selbst in den Brunnen gestürzt.

Zur Angst war bei der geringen Tiefe des Bassins für den großen Menschen kein Anlaß vorhanden, und der Schreck verwandelte sich bei dem muntern jungen Mädchen, dem die ernsten Gefühle fremd wie die Trauerkleider standen, alsbald in ungemessene Heiterkeit; der triefende Liebeswerber, wie er mit Haaren, die ihm in die Augen hingen, und einer seltsam wasserspeienden Krawatte, einem Flußgotte gleich, aus seinem nassen Grabe wieder auftauchte, war auch gar zu spaßig anzusehen.

Das Mädchen konnte sich nicht des Lachens enthalten und rief mutwillig:

»Das war doch kein Selbstmordversuch, Bruno? Nein, so arg dürfen Sie sich's nicht zu Herzen nehmen.«

Und das Lachen folgte ihm nach, als er schon weit aus dem Gesichtskreise war, – so weit, daß es fast schien, als sollte er nimmer in denselben zurückkehren. Er war fort – fort aus seiner Anstellung, aus der Stadt, aus der Gegend und man hörte nichts mehr von ihm.

Als er dann zurückkam nach Jahren, da sprach er wieder ruhig; er hieß wohl Meinhard und nicht mehr Bruno, hatte auch mehr Geltung in der Welt, sonst aber war er doch der Alte, der treue hilfsbereite Freund, der felsenfeste schlichte Mann. An die alten Geschichten dachte er wohl nicht mehr.

Wie lang das nun schon her war. Damals kroch das verwaiste Kind noch lallend auf Händchen und Füßen und nun hatte Mimi vor kurzem schon ihren sechzehnten Geburtstag gefeiert.

»Wie alt und verständig man doch wird.«

Vielleicht galt der Seufzer nicht einzig und allein dieser alltäglichen Betrachtung, die sich doch manchmal mit der vollen Wucht eines ganz neuen Erfahrungssatzes aufdrängt. Es laufen im Menschen gar oft scheinbar entgegengesetzte Gefühle nebeneinander her, ohne daß er sie selbst auseinanderzuhalten wüßte, da mag sich denn der Aerger über die Unklarheit gerade auf den allerunschuldigsten Gegenstand entladen.

»Nichts als eine rechte Junggesellenwirtschaft,« meinte Hilda und ihr Blick streifte neuerdings, aber diesmal recht unfreundlich die welken Rosen … Die feierlich sanktionierte Unordnung, da denkt kein Mensch daran, alte Blumen wegzuwerfen, wenn sich nicht zufällig frische dafür einfinden; – dann wird natürlich Platz geschafft.

Es lag ihr gar nicht daran, in dem sorgsam geordneten Gemache einen weitern einschlagenden Beweis für ihre Behauptung zu suchen, und es wäre ihr übrigens auch keine Zeit dazu geblieben, da sich eben die innere Thüre öffnete. Meinhard war nun doch weit rascher erschienen, als sie anfänglich nach des Dieners Entschuldigung erwartet hatte, sie fühlte sich förmlich bei ihren Erinnerungen überrascht, das machte sie etwas befangen, es entging ihr darum auch der Ernst, der trotz des freundlichen Lächelns auf seiner Stirn und um die Augen lag und nur langsam wie eine vor der Sonne abziehende Wetterwolke wich. Unter dem Drucke der Verlegenheit nahm auch die Ungeduld jene übliche Gesellschaftsmaske der Undringlichkeit an und des Bedauerns, gestört zu haben.

»Nein, bedauern Sie nichts, wodurch Sie mir eine Freude machen, Hilda,« unterbrach er sie. Er drückte ihre Hand und geleitete sie an derselben zum Sofa. Während er sich selbst in ihrer nächsten Nähe auf einen der Lehnstühle niederließ, versicherte er ihr, daß nichts Wichtiges zu erledigen sei, das Postpaket werde schon geschlossen. »Ein Brief an meinen Minister,« sagte er dann, fast mit sich selbst redend hinzu, »kann ja bis morgen liegen blieben, obwohl ich nicht glaube, daß die Nacht andern Rat bringt, es müßte denn ein Wunder meinen Ehrgeiz wecken.«

»Handelt es sich wieder um einen Versuch, Sie uns zu entführen?« fragte Hilda, ohne besondre Ueberraschung zu dem Lächelnden aufblickend.

»Unser neuer Minister kennt mich aus früherer Zeit, wo wir eine Weile gewissermaßen nebeneinander arbeiteten. Er ist so freundlich, sich daran zu erinnern und knüpft einen Vorschlag daran, der vielleicht – manches Verlockende hätte –«

»Und Sie widerstehen?« Auch das klang nicht wie eine besorgte Frage, sondern eher wie eine schon im voraus sichre Annahme.

Meinhard zuckte die Achseln.

»Es ist mir nicht lange Ueberlegung gegönnt, die Entscheidung muß zwischen heut und morgen fallen – und da an ein Wunder, wie gesagt, nicht recht zu glauben ist – freilich, es ereignen sich zu Zeiten noch solche, wie eben Ihr Besuch beweist –«

»Ich hoffe,« fiel Hilda mit einem Versuch zu scherzen lebhaft ein, »Sie zählen dies Ereignis wenigstens nicht zu jenen Wundern, welche Ihren Entschluß, unser getreuer Nachbar zu bleiben, ändern könnten. Das wäre sehr wenig schmeichelhaft, wenn ich Sie vertriebe.«

»Sie wissen recht gut, Hilda, daß im Gegenteile Sie – und die Ihrigen es sind, was mich festhält. Es ist – der Freundeskreis, aus dem ich nicht scheiden mag, und nicht der Kreis meiner amtlichen Pflichten.«

»Sie verzichten dadurch aber vielleicht auf Vorteile!«

»Die für mich keinen Wert haben. Für meine Bedürfnisse ist ausreichend vorgesehen; ein Mensch, der allein steht, ist bald versorgt. Nach Auszeichnung dürfte ich nicht, und Einfluß – – nun, man kann ja in jeder Stellung nützen und sich selbst genugthun. Das ist am Ende die Hauptsache und so wird es dann am entsprechendsten sein, wenn man mich auch fernerhin da vergißt, wo ich bin.«

»Die aber, bei denen Sie bleiben, werden es Ihnen nicht vergessen,« sagte Hilda. Ihre beiden Hände hatten die seinigen gesucht und aus ihren Augen brach ein warmer Strahl der Rührung, an dem sich sein Blick aber nicht entzündete.

Er nickte nur leise und ein ganz schwaches, fast wehmütiges Lächeln spielte nur seinen Mund.

»Sie verleiten mich zur Selbstsucht,« lenkte er ab. »Ueber meinen Angelegenheiten lassen wir die Ihrigen beiseite.« –

»In mir also sehen Sie die Egoistin und in meinem Besuch eine eigennützige Ursache?«

»Die setz' ich allerdings voraus, schätze ihn darum aber doch, als ob er nur mir ein Glück zugedacht hätte.«

In dem Ton der Worte lag mehr als ein liebenswürdiger Scherz. Hilda war jedoch zu sehr mit ihrer Absicht beschäftigt, als daß sie die galante Wendung auf ihr Gewicht geprüft hätte.

»Ich habe in der That ein kleines Anliegen,« entgegnete sie mit möglichst leichtem Berühren der Sache, von der er ja nicht ahnen sollte, wie sehr sie ihr am Herzen lag. »Aber warum glauben Sie nicht, daß ich irgend einen Auftrag von meinem Bruder habe?«

Er wollte nicht sagen: »Weil Sie dann nicht allein kämen.« Sein Zartgefühl scheute selbst die Andeutung eines solchen Vorwurfs. So zog er denn vor, mit einer kleinen Neckerei zu antworten:

»Weil es im Frauencharakter liegt, an den Freund nur zu denken, wenn man ihn braucht, indes im Mitleid wie in der Liebe die Frage nur dahin geht, ob man uns braucht.«

»Sie haben doch eine recht abfällige Meinung vom ›Frauencharakter‹. Das reizt beinahe, Ihnen das Gegenteil zu beweisen.«

»Da muß ich Ihnen nur rasch den Umweg abschneiden und darf mich dabei wohl der gewöhnlichen Geschäftsformel bedienen: Womit kann ich Ihnen also dienen?«

Hilda mußte trotz der innerlichen Unruhe lächeln. Sie wagte aber nicht, ihn anzusehen, aus Furcht, er könnte so in ihren Augen lesen, als sie ihm ihren Wunsch aussprach, die bei ihm deponierte Summe an sich zu nehmen.

Vielleicht hatte er eine andre Mitteilung erwartet, er sah ein wenig überrascht aus, fand sich aber sofort in die Lage. Eine natürliche Ideenverbindung brachte ihn auf das ohne Resultat gebliebene Gespräch, zu dem er auf dem abendlichen Heimweg von Waltershofen selbst die Anregung gegeben hatte. Er neigte verständnisvoll das Haupt.

»So stellt sich denn die Entwicklung, welche ich vorausgesehen, früher ein, als es vorgestern noch den Anschein hatte,« sagte er. »Ist seither etwas vorgefallen, was die Entscheidung brachte? – Doch nein, es bedarf ja auch keiner plötzlichen gewaltsamen Ereignisse, um die Ueberzeugung bei einem Menschen reifen zu lassen, daß er sich nicht mehr an seinem Platze fühlt. Die kleinen Daten summieren sich. Ich habe sie mitempfunden und mich in ihre Seele versetzt. Wie mir muß es auch Ihnen klar geworden sein, daß die Verhältnisse, von denen sie immer mehr eingeschränkt werden, ein ernstes Erwägen der Zukunft und einen Beschluß über dieselbe erheischen. Ein Wesen wie Sie fühlt sich heimatlos, wo es nicht eine notwendige Bedingung der Familie und ihres Gedeihens ist. Sie sind zu jung, um in ein Ausgeding zu gehen, zu jung, um das Leben als etwas Abgeschlossenes zu betrachten, zu jung, um ohne Zweck und ohne Zwang hier in einem vergessenen Winkel fast ohne Berührung mit der Welt den langen Rest der Jahre hinzudämmern. Sie können nur glücklich sein, wo Sie Arbeit für Ihre Kräfte, ein Ziel für Ihre Arbeit haben, wo Sie nützen können, und das Bewußtsein dieses Nutzens haben.«

»Man kann in jeder Stellung nützen,« wiederholte sie, so plötzlich in einen ganz andern Gedankengang gelenkt, mit Absicht seine eigenen Worte.

»Ja, auch wenn Sie bloß die Blumen pflegen und lediglich durch Ihre freundliche Anwesenheit das Familienleben verschönern. Aber ein andres ist es, ob Sie damit den Platz ausfüllen in dem großen ineinandergreifenden Räderwerk, der Ihnen mit den verliehenen Anlagen zugedacht ist, ob Sie sich selbst genügen in einem Kreise, wo Ihr Ausscheiden kaum eine Lücke hinterließe. Sie bedürfen eines Wirkungskreises und werden sich nur in demjenigen wohl und zufrieden fühlen, der Ihnen eine volle Entfaltung Ihres Wesens gestattet und Sie ganz in Anspruch nimmt, denn in Ihrer Natur liegt nicht die Beschaulichkeit.«

»Und so sprechen Sie, Meinhard, Sie, dem jedes dieser Argumente selbst gelten könnte, und der doch im Begriffe steht, den an ihn ergangenen Ruf abzulehnen?«

Vor der ernsten Frage senkte nunmehr Meinhard den Blick. Sein Eifer war verstummt, und gedämpfter, fast befangen brachte er nach einer Weile eine Erklärung, die wie eine Entschuldigung klang.

»Es lebt der Drang in jedem Manne, sich zu bethätigen und das Feld seines Schaffens zu erweitern, aber es hat nicht jeder die Kraft und Selbstverleugnung, diesem Drange alles andre unterzuordnen. Die Wahl ist schwer, welches Gefühl dem andern zum Opfer gebracht werden soll, und in der Regel siegt das – welches tiefer im Herzen entspringt.«

Die letzten Worte kamen mit einem so wunderlichen Schwingen der tiefen wohlklingenden Stimme hervor, daß Hilda sich des Eindrucks nicht erwehren konnte, er bemeistre nur mühsam eine mächtige Bewegung. Es war ihr selbst dabei ganz befremdlich zu Mute, ihr Blick schweifte hinüber zu den welken Rosen und eine zarte durchsichtige Röte trat auf ihre Wangen. Aber mit dem skeptischen Rucke, der ihr Köpfchen leicht zur Seite warf, wies sie sich auch selbst zurecht. Es waren schon genug der sentimentalen Anwandlungen in letzter Zeit, sie brauchte dergleichen nicht auch noch andern zu unterlegen, die zuverlässig nicht von einer solchen Ausdeutung ihrer ganz abliegenden Gedanken träumten. Auch sie hatte an ganz andre Dinge zu denken und that besser daran, dieselben nicht außer Augen zu lassen.

»Ich denke, wir lassen die Erörterungen auf ein andermal. Die Zeit vergeht und wenn ich Sie bitten darf –«

»Sie wünschen Ihr Geld? Ja, das kann ich Ihnen sogleich –«

Und dienstfertig erhob er sich. Vollkommen war die alte Unbeholfenheit doch noch nicht abgethan, daß er sich so leicht aus dem Konzepte bringen ließ. Während er an den Schreibtisch ging und dort eines der Schubfächer aufsperrte, fragte er, ob sie die ganze Summe oder nur einen Teil derselben begehre.

»Sie haben also schon einen Entschluß gefaßt,« sagte er auf ihre Antwort. »Soll ich die Papiere für Sie verkaufen und den Erlös an eine bestimmte Adresse senden?«

»Das geht nicht wohl an.«

»Ich dachte an einen Hauskauf – eine Anzahlung – aber darf man denn von Ihrem Plane nichts erfahren? Vielleicht kann ich mit meinem Rate Ihnen nützlich sein. Uebereilung thut ja nicht Not. Man hat Ihnen doch Kost und Logis nicht schon gekündigt?«

Der Scherz fand keinen Anklang, er steigerte nur Hildas Verlegenheit.

»Darf ich nicht mein kleines Geheimnis haben?« fragte sie, scheinbar in seinen Ton eingehend. Nun aber war er es, der ihn wechselte.

»Ein kleines? Mich dünkt, Hilda, ein solcher Entschluß – wie immer er gestaltet sei – ist ein großer, ein sehr großer, und sonst ist es eben nicht Ihre Art, derlei wie etwa eine Geburtstagsüberraschung leicht zu nehmen und insgeheim zu betreiben. Was haben Sie vor?«

»Ich werde es Ihnen sagen, wenn es an der Zeit ist.«

»Ich war der Meinung, Ihr Vertrauen zu besitzen.«

»Ach, was ihr Männer doch für umständliche Leute seid!« –

Die Ungeduld hatte ihr diesen Ausruf erpreßt. Wie erschrak sie aber, als Meinhard das Paket, welches er zwischen andern aus der kleinen Handkasse, die in der Lade gestanden, hervorgeholt hatte und das sie schon in der Tasche zu haben vermeinte, gedankenvoll in der Hand wog und dann wieder auf den Tisch zurücklegte.

»Ich weiß doch nicht,« sagte er dabei, »ob ich recht daran thue, Ihnen dies Geld so ohne weiteres zu übergeben.«

»Welche Geschäftsbedenken!« Es war ihr, als vernehme sie Edwins Stimme: Der Pedant! »Ich unterschreibe Ihnen die Empfangsbestätigung und Sie sind damit aller Verantwortung enthoben.«

»So ganz und gar denn doch nicht. Im Einvernehmen mit Franz wurde dies Kapital meiner Verwaltung anvertraut. ›Es soll dereinst meiner Nichte gehören‹, erklärten Sie.«

»Mimi soll darum nicht verkürzt werden. Ich werde ihr die Summe aus meinem Vermögensanteil ersetzen, sobald Franz ihn mir herausbezahlt.«

»So haben Sie also dies Geld hier für einen Zweck bestimmt, wo es ihr – und wohl auch Ihnen verloren geht?«

»Ach, das ist ja ganz Nebensache.«

»Nicht doch!«

Hilda bereute, aufgestanden zu sein und sich dem Tische, in dem Verlangen, rasch zu Ende zu kommen, genähert zu haben, denn sie wußte nun nicht, wohin sich wenden, um dem durchdringend auf sie gerichteten Blicke zu entgehen.

»Nun dann,« erklärte sie, ihre ganze Verstellungskunst zu Hilfe rufend, »nehmen Sie an, ich hätte die Summe zum Einkauf einer Lebensrente bestimmt.«

»Für sich oder für einen andern? Darin liegt der Unterschied.«

»Für – meine Nichte.«

»Sie haben deren zwei. Es könnte auch für jene in Amerika sein.«

»O, daß ich das Leben des armen Kindes noch versichern könnte! Es ist leider tot.«

»Vielleicht zu seinem Glücke.«

»Sie sind herzlos!«

»Bedenken Sie selbst, was dem armen Wesen bevorstand.«

Hilda senkte den Kopf.

»Es ist möglich, daß Sie recht haben,« gab sie zu, »obwohl der Ausspruch hart ist, der das Auslöschen eines Menschenlebens gut heißt. – Freilich ist es auch schrecklich zu denken, was aus dem Kinde hätte werden müssen, unter der Leitung einer solch lieblosen, lügnerischen und genußsüchtigen Mutter.«

»Ich erstaune. Sie waren ja immer der entgegengesetzten Ansicht.«

»Weil ich von der Heuchelei dieses Weibes umstrickt war. O, es empört mich bis ins tiefste, daß ich diesen niedrigen Verleumdungen und Entstellungen Glauben schenken und mich verleiten lassen konnte, meinem Bruder so Unrecht zu thun – dem eigenen Bruder auf die Anklagen einer Fremden hin, der ich von vornherein hätte mißtrauen sollen. Sie allein hat sein Unglück auf dem Gewissen, sie ganz allein. Durch sie ist er ins Verderben gebracht worden, o, ich weiß jetzt alles und sehe meinen Irrtum ein.«

»Sind Sie auch gewiß, daß Sie in keinen neuen verfallen, zu dem Sie eine veränderte Darstellung verlockt, die Sie ebenso ungeprüft hinnehmen, wie die frühere? Ein Mann lebt nicht jahrelang an der Seite eines Weibes, wie Sie es schildern, ohne entwürdigt und auf dasselbe Niveau herabgezogen zu werden.«

»Aber er kann sich wieder erheben,« nahm Hilda mit warmem Eifer die Partei des Angegriffenen, »dem Einfluß eines solchen gewissenlosen Wesens entzogen, kann er ein andrer werden, oder eigentlich ist er schon ein andrer, sobald er die entwürdigende Gemeinschaft löst. Mit dieser Thatsache allein bringt er schon den Beweis, daß er nicht gänzlich und unrettbar untergesunken ist, daß er noch die Kraft besitzt, sich aufzurichten, und es ist ja die einfachste Menschenpflicht, einen solchen Versuch liebevoll zu unterstützen.«

»Also ist das die Bestimmung dieses Geldes.«

Diese ruhige kalte Feststellung bewirkte bei Hilda eine plötzliche Ernüchterung. Sie sah mit Schreck, daß sie sich zu weit hatte hinreißen lassen, wo der Erguß ihres warmen Herzens nur auf scharf beobachtende Berechnung traf. Daß dem aber so war, daß ihre Worte, statt zu erwärmen, zu überzeugen, nur dahin geführt hatten, sie zu verraten, das nahm sie weniger sich selbst als Meinhard übel, der es so ruhig konstatierte. Sie zürnte sich, daß sie in der Gewohnheit des Vertrauens sich nicht vorsichtiger bewacht, aber die Scham ertappt zu sein verwandelte sich in Verdruß und dieser kehrte sich gegen ihn.

»Nun denn, ja,« erklärte sie nach einer kleinen Weile, ihr ganz in Purpur getauchtes Antlitz trotzig erhebend.

Besser die Wahrheit. Sie war so gar nicht ans Lügen gewöhnt und der eine Versuch war übel genug abgelaufen.

»Ich hätte es voraussehen sollen. Die schlaue Selbstsucht wird immer wieder Mittel und Wege finden, Ihr Mitleid zu erregen und es zu mißbrauchen.«

»Nein, nein, diesmal ist es kein Mißbrauch, ich weiß es bestimmt.«

»Woher?«

Abermals hielt sie betroffen an. Auf diese Weise durfte sie nicht fortfahren, wenn sie nicht Gefahr laufen wollte, Schritt für Schritt weiter getrieben, auch das noch zu verraten, was um jeden Preis verschwiegen werden mußte. Das Sicherste war, sich knapp auf ihr Begehren zu beschränken, auf dem sie von Anfang an ruhig hätte beharren sollen.

»Wozu die Diskussion?« sagte sie, eine Miene strenger Zurückhaltung annehmend. »Hier kommt es nicht darauf an, Sie zu überzeugen, sondern mir das Verfügungsrecht über mein Vermögen zu wahren.«

»Sie wollten mich hintergehen. Warum haben Sie kein Zutrauen zu mir, Hilda?« sagte er, leise den Kopf schüttelnd. Aber der milde Vorwurf schürte nur das Feuer.

»Habe ich denn über alles Rechenschaft zu geben?« entgegnete sie trotzig. »Unterscheiden kann ich selbst auch; ich bin kein Kind mehr.«

»Herzensgut und unerfahren wie ein Kind, das man vor einer Falle warnen und vor Schaden behüten muß.

»Komm' ich zu Schaden, ist es meine Sache.«

»Nein, die Verantwortung träfe, wenn auch nur vor dem eigenen Richter, den man im Innern trägt, denjenigen, der seine Pflicht als Ihr Beschützer so arg vernachlässigt hätte.«

»Mein Beschützer?« Hilda trat mit einem stolzen Emporheben des Kopfes zurück. »Kein Mann hat das Recht sich dazu aufzuwerfen, es wäre denn –«

»Nun?« fragte er die Stockende, der abermals ein Blutstrahl ins Angesicht geschossen war.

»Der Ehemann.«

»Und der wahre Freund.«

»Der ist es nicht, der eine freiwillig ihm eingeräumte Stellung in ein Abhängigkeitsverhältnis verwandeln will. Genug des Wortwechsels! Machen wir der Sache ein Ende. Geben Sie!«

»Nein, Sie bekommen das Geld nicht.« Und statt in die gebieterisch ausgestreckte Hand, legte er das Paket in die Lade zurück und schob sie zu. Miene und Haltung deuteten, als er sich darauf Hilda wieder zuwendete, auf einen unabänderlichen Entschluß.

»Sie enthalten mir mein Eigentum vor?« rief sie heftig.

»Bis auf weiteres, ja.«

»Wie dürfen Sie das? Es ist eine gesetzwidrige Handlung.«

»Allerdings, und es steht Ihnen frei, mich dafür zu belangen. Klagen Sie immerhin, ich entziehe mich den Folgen nicht. Aber bis das Gericht mich zur Auslieferung zwingt, wird doch einige Zeit vergehen, und es ist möglich, daß Sie unterdes zu klarerer Einsicht kommen. Es ist besser, daß ich Sie zum Schein beraube, als daß Sie thatsächlich beraubt werden.«

Seine Festigkeit benahm ihr jede Aussicht, ihr Ziel zu erreichen. Sie sah darin nur ein Zeichen von Herrschsucht und brutaler Eigenmächtigkeit, und im Gefühl der eigenen Ohnmacht dieser gegenüber steigerte sich ihre Erregung aufs höchste. Das brennende Auge, in dem eine Thräne zerfloß, richtete sich in Haß auf ihn.

»Sie begehen einen Vertrauensbruch! einen Rechtsbruch!« rief sie.

Es lag ein Ausdruck von Gram in seinen Zügen, als er erwiderte:

»Das Vertrauen, das nicht existiert, kann nicht gebrochen werden. Es war nur ein Irrtum, daß ich daran glaubte. Was aber das Recht anbetrifft, so will ich es lieber verletzen, als meine Pflicht gegen die Freundschaft, der ich meinerseits treu bleibe.«

»Ich entbinde Sie derselben – für immer!«

»Hilda!«

»Sie selber haben das Band mit Gewalt entzweigerissen. Das ist nimmermehr gutzumachen.«

»Sie sind im Zorn – der wird verrauchen.«

Aber eben der Zorn verträgt alles eher als ein geringschätziges Lächeln. Der scherzende Gleichmut des Gegners ist's, was ihn zur wilden Flamme anbläst.

»Mag sein!« stieß Hilda hastig hervor. Sie kannte sich selbst nicht mehr. »Unter dem Vorwande, Mißbrauch zu verhüten, selbst einen begehen, ist eine unehrenhafte Handlung, und einer solchen gegenüber verwandelt sich die Empörung – in Verachtung.«

Es kam kein Wort über seine Lippen, kein Zug seines Gesichtes regte sich, er war wie zu Stein geworden. Aber vor diesem bleichen Antlitz, vor dem starren Blicke fühlte sich Hilda von einer jähen Furcht erfaßt. Die rücklaufende Welle des Blutes jedoch verdrängte wieder diese Empfindung. – Nein, es gab da nichts zu widerrufen. Sie hatte nur ausgesprochen was sie dachte. So war es!

Demnach kam ihr das Erscheinen des Dieners wie eine Rettung aus banger Not. Er entschuldigte die Unterbrechung, indem er gleichzeitig Fritz einließ.

Die gnädige ›Frau Schwiegermama‹, berichtete dieser, warte unten in der Equipage und habe ihn heraufgeschickt, es dem gnädigen Fräulein zu melden.

Verweint erklärte sich Hilda bereit, ihm sogleich zu folgen. Nur noch mit einem scheuen Blick streifte sie Meinhard, von dessen eisiger Haltung keine Aenderung seines Entschlusses zu erwarten stand, und der sie stumm bis zur Thüre begleitete, wo er sich mit einer förmlichen Verbeugung von ihr verabschiedete. Erst als sie von Frau Rohrwek mit strenger Miene empfangen wurde, schoß ihr die Frage durch den Kopf, wie dieselbe denn dazu gekommen war, sie mit solcher Bestimmtheit gerade hier abzuholen. Aber der Gedanke, ihre Wege ausgekundschaftet zu wissen, hatte für den Augenblick, inmitten der noch nicht zur Ebbe gelangten Aufregung, alles Beunruhigende für sie verloren. Sie hörte kaum darauf hin, während ihr nicht ohne gewisse malitiöse Schadenfreude der Zusammenhang der Dinge auseinandergesetzt wurde, durch den auch dieses Fädchen an die Sonne gekommen war; wie Fritz die so lange Ausbleibende suchen gegangen, im Kaufmannsladen, wo er fragte, den Amtsschreiber getroffen, der gerade zum Essen gegangen und die Vermißte aus der Treppe gesehen hatte u. s. w., bis endlich an die Vorwürfe über die verzögerte Heimfahrt an einem Tage, wo das Essen des nach Tisch projektierten Ausflugs wegen ausdrücklich auf eine frühere Stunde angesetzt war, sich auch ein ernsterer Tadel schloß, auf den es wohl von Anfang an abgesehen gewesen und der in dem gravitätischen Urteilsspruche gipfelte:

»Mein liebes Kind, eine solche Freundschaft ist unschicklich. Man kann nie vorsichtig genug sein. Die böse Welt macht so gern ihre Schlüsse.«

Das war eine Andeutung, die Hilda aus ihrem Hinbrüten weckte und ihren zürnenden Widerspruch nach einer andern Richtung lenkte.

»Vor solchen Trugschlüssen bin ich wohl sicher,« entgegnete sie mit der Herbheit des verletzten Stolzes.

»Gut, gut, mein Herzchen,« sagte die alte Frau beschwichtigend und nickte schlau, »bin ja ganz überzeugt. Ist schon eine zu alte Bekanntschaft. Was so lange in der Entwicklung zurückbleibt, wächst sich nicht mehr aus. Aber – glauben Sie mir – das beste ist doch, um allen den Mund zu stopfen: Sie heiraten so bald als möglich.«

Immer wieder dieser unausstehliche, stets gleichbleibende Refrain! Hilda gab keine Antwort und lehnte ihr schmerzendes Haupt in die Kissen des Wagens zurück.


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