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IX.

Trüb und neblig stieg der nächste Morgen empor.

Die größte Veränderung hatte die Nacht mit dem geschwätzigen, nervös überreizten Kinde vorgenommen. Es war fast nicht wieder zu erkennen in der grauen zusammengekauerten Gestalt, die den moosbewachsenen Felsblock am Rande des Jungwaldes erklettert hatte, mit hinaufgezogenen Knieen dort saß, auf die sie ihre Ellbogen stützte und das Gesicht so ganz in die Hände vergrub, daß kaum ein Fleckchen der Stirne dem einsamen Strahle der schon hochstehenden Sonne ausgesetzt blieb, der sich endlich durch die dichten über dem Thale lagernden Dünste Bahn gebrochen hatte.

Die ganze unförmliche, in sich geduckte Figur sah fast selbst wie ein Stück Stein aus, und nur in dem kurzen Heben des Kopfes bei dem Geräusche eines die Straße von der Stadt daherrasselnden Wagens zeigte sich Leben für einen Moment, denn der Kopf sank sogleich wieder tiefer als zuvor.

Selbst Meinhard mußte erst nochmals hinsehen, ob er sich denn nicht getäuscht, ehe er den Wagen halten ließ, ausstieg und den Straßengraben überschreitend auf den Felsblock zuging.

»Ja, ist es denn wirklich Mimi? Wie kommen Sie hierher? Sie sitzen ja wie ein Häuflein Unglück da oben, Mimi! – oder soll ich ebenfalls Emmy rufen?«

»Ich wollte, ich hätte gar keinen Namen, und kein Mensch riefe mich und ich lebte nicht mehr!« sagte sie in tiefer Niedergeschlagenheit.

»Ei, das ist ein gewaltiger Weltschmerz,« versuchte Meinhard den gewohnten Humor, der jedoch auch nicht wohl frei klang, hervorzukehren. »Was thun Sie denn eigentlich hier auf diesem erhabenen Throne? Spielen Sie Norne?«

Jetzt erst sanken die kleinen Hände und enthüllten ein trauriges, verbittertes, grollendes Gesichtchen.

»Ich zeichne. Sie sehen es ja.«

»Das ist mir wirklich entgangen. Der Nebel wird wohl daran schuld sein. Haben Sie sich ihn zu Ihren Studien gewählt? Denn sonst sehen Sie ja auch nicht viel, kaum zwanzig Schritte weit.«

»Ich will auch nicht zeichnen,« sagte sie und stieß das kleine Skizzenbuch von ihrem Schoß, daß es samt dem Stifte über den Stein hinabkollerte. »Ich habe es von ihr gelernt und ich will gar nichts, was von ihr kommt, – gar nichts! Ich werde auch gar nie mehr zeichnen oder Klavier spielen. Ich will's vergessen! vergessen will ich's, wie wenn ich nie etwas davon gewußt hätte.«

»Das sind aber wirklich heroische Entschlüsse; gegen wen sind denn die eigentlich gefaßt?«

»Ach, Sie verspotten mich nur!« entgegnete sie, nahm die Fäuste von den Schläfen, an die sie dieselben gedrückt hatte, und wandte sich mit einem unmutigen Ruck von Meinhard ab.

»Ich würde das nie wagen.«

»Ja, Sie verspotten mich, wie alle andern mich verspotten würden, wenn sie wüßten, wie es in mir aussieht. Aber diese Freude werde ich ihnen nicht bereiten, – nein, kein Mensch soll mich anders sehen, als lachend. Es soll sich kein Mensch über mich lustig machen.«

»Das fällt ja aber gewiß auch niemanden ein,« versicherte er mit freundlichem teilnahmsvollen Ernst. »Was drückt denn für ein Kummer das kleine Herz? Aber zuerst kommen Sie da von Ihrem Wolkensitz auf die Welt herunter, Mimi.«

»Die Welt ist falsch und ich würde am liebsten gar nichts mehr mit ihr zu thun haben. Ich wollte, der Nebel hüllte mich ein und trüge mich fort, hinauf, immer weiter, immer weiter – soweit, daß man von der Erde gar nichts mehr sieht.«

»Das ist aber heutzutage nicht mehr recht üblich, kleine Fee. Also entschließen Sie sich, noch ein Weilchen unter uns zu wandeln. Gilt's? Also, hopp!«

Trotz ihrer tiefen Seelenverstimmung zauderte Mimi doch nicht mehr, der Einladung zu folgen. Sie setzte ihren Fuß auf eine tiefere Kante, erfaßte die ihr entgegengestreckten Hände und that frischweg den kühnen Sprung zur Erde. Dieselbe bot bei allem Elend, das auf ihr herrschte, doch noch ab und zu ein kleines Vergnügen.

»Ich habe jetzt ausgesehen wie eine Fledermaus in dem flatternden grauen Mantel,« meinte sie lächelnd, wurde jedoch gleich wieder ernst. »Onkel Meinhard! Sie dürfen aber niemanden ein Wort davon sagen, wo Sie mich gefunden haben.«

»Keine Silbe. – Aber haben Sie denn da so Geheimnisvolles getrieben?«

»O – nicht doch – nein – gar nicht. Nur braucht es niemand zu wissen. Ich habe bloß auf den Wagen gewartet und wollte ihn zurückkehren sehen.«

»Auf den Wagen?«

Mimi kehrte sich ab, um ihre Verlegenheit zu verbergen, und suchte mit besonderem, ihrer früheren Erklärung direkt widersprechendem Eifer nach der Zeichenmappe, während sie antwortete.

»Papa und Mama sind zu Saldorffs gefahren; der Graf hat zwei Reitpferde zu verkaufen, die sehr gut unter dem Damensattel gehen. Seit Komtesse Lori gestorben, will er nichts mehr sehen, was ihn an sie erinnert. Papa glaubt, daß die Pferde billig zu bekommen wären.«

»Und darauf freuen Sie sich und wollen die Nachrichten ganz brühwarm haben?« Ihr geringschätziges Achselzucken entging ihm nicht, und seine irrige Unterstellung berichtigend fuhr er fort: »Doch da hätten Sie ja noch Stunden auf Ihrem Wachtposten ausharren müssen, es ist ein weiter Weg bis Artmannsberg. Das kommt mir übrigens sehr ungelegen. Ich rechnete darauf den Papa zu treffen.«

»Sie treffen gar niemand zu Hause. Es ist alles fort. Edwin ist mit seiner Mutter zur Stadt gefahren. Wenn Sie jemand sprechen wollen, werden Sie die Heimkehr abwarten müssen.«

»Das kann ich nicht.« Seine Miene zeigte deutlich, wie unangenehm ihm diese Störung war. Er blickte gedankenvoll vor sich hin in das feuchte Gras, dann hatte er aber doch einen Entschluß gefaßt. »Sie erwähnten Tante Hilda nicht,« sagte er. »Oder ist die auch mitgefahren?«

»Nein – die – die ist zu Hause.«

Er übersah das eigentümliche Widerstreben, mit dem die Kleine antwortete, und den Ausdruck von Feindseligkeit in ihrem Gesichtchen. Sein Auge schien mehr nach innen gekehrt.

»Nun, dann muß ich mich wohl an sie wenden, die Zeit drängt.«

Und da nun die Entscheidung getroffen war, gab er dem Lohnkutscher Anweisung, zum Schlosse vorauszufahren. »Sie begleiten mich doch?« wandte er sich wieder gegen Mimi. »Oder ziehen Sie es vor, Ihren Nornenstein wieder zu besteigen und nach dem zurückkehrenden Wagen auszulugen, der, nach solcher Ungeduld zu schließen, Ihnen ja überaus Wichtiges mitbringen muß? Im Anfang dacht' ich an ein Reitpferd, aber mir will scheinen, das Interesse –«

»Necken Sie mich nicht – heute nicht! Ich kann es nicht ertragen, auch von Ihnen nicht, Onkel Meinhard. Sie machen mich zornig. Alles macht mich zornig,« fiel sie ihm heftig ins Wort und ballte wie früher die Hände, die sie drohend in die Luft schüttelte. »Ich will auch gar nichts! Mir braucht man nichts mitzubringen. Nicht mit der Spitze des Fingers möchte ich es berühren und wenn es das kostbarste Geschmeide wäre von eitel Gold und Edelsteinen und echten Perlen.«

»Wovon sprechen Sie denn eigentlich? Was soll denn mitgebracht werden?«

»Ein Ring, ein Armband – weiß ich es? Irgend ein Schmuckstück für die Braut. Nur soviel habe ich gehört, als Frau Rohrwek den Wagen anspannen ließ. Sie will ihm helfen, beim Juwelier etwas auszuwählen. Er soll ein Medaillon nehmen und seine Photographie hineinstecken. Er kann die aus meinem Album haben, ich lasse sie doch nicht mehr darin und wenn ich sie auf die Straße werfen müßte!«

»Noch einmal, wovon sprechen Sie eigentlich, Mimi? Ich verstehe Sie nicht, reden Sie deutlicher. Wer ist Braut? für wen soll das Geschenk gehören, das Sie so erbittert?«

»Für sie; für wen sonst! – Sie wissen nichts davon? Sie ahnen es nicht einmal? Ich glaub' es wohl. Sie waren ja blind wie alle andern und haben es nicht bemerkt. Ich aber habe es kommen sehen, o ganz gut! Wie es immer weiter ging und weiter – und gestern haben sie sich verlobt – und Champagner ist dazu getrunken worden, und das Brautpaar hat man hochleben lassen. O, ich habe auch mitgerufen, ich war so lustig – so lustig. Die ganze Welt ist falsch, sie braucht nicht zu wissen, was ich mir dabei denke, und mich darüber zu verspotten. Auch er soll nicht glauben, daß ich mir etwas daraus mache. O so falsch, so falsch! Vorgestern noch zeichnete er mir zwei verschlungene E – wie hübsch sich unser Monogramm mache, und jetzt ist er vielleicht gerade beim Goldarbeiter und bestellt ein Medaillon in Herzform mit einem E und H darauf. Ist das nicht falsch?«

» E und H

»Nun ja: Edwin und Hilda.«

»Es ist nicht möglich!«

»Nicht wahr? O, als ich heute aufwachte, da meinte auch ich, es sei nur ein Traum gewesen; aber unten stehen noch die ausgetrunkenen Champagnerflaschen im Flur.«

»Es ist nicht möglich!« wiederholte Meinhard tief bestürzt, ganz leise, als ob die bebenden Lippen allein davon wüßten. »Sie treiben Scherz mit mir.«

»Scherz? Scherz! Als ob mir zum scherzen wäre. Wissen Sie was ich dachte, als ich da droben saß? Was besser wäre, – hineinschießen in den Wagen, wenn er zurückkommt – o, wenn ich nur eine Flinte bei mir hätte! – Mitten ins Herz – oder mich hinunterwerfen vor die Pferde, daß sie mich zerstampften und die Räder über mich hinweggingen – – dann wäre alles aus. Ich mag nicht länger leben!«

Und mit wildem Aufschluchzen warf sie sich an Meinhards Brust. Sie faßte sich auch diesmal nicht so rasch wie am Abend, es that ihr offenbar wohl, sich auszuweinen, und Meinhard, der bleich wie eine Mauer geworden war, sprach ihr auch gar keinen Trost ein, er ließ ihre Thränen fließen und streichelte nur sanft das Haar an ihrer Schläfe. Der Einblick in das kleine Herz und das Mitleid mit dessen Weh halfen ihm über die eigne Erschütterung allmählich Herr werden. Nach und nach stillte sich auch bei dem Kinde die Heftigkeit des Schmerzes, andre Regungen gewannen die Oberhand in dem jungen ungeklärten Geiste.

»Ist es nicht abscheulich? – Sie dürfen mich aber nicht verraten, Onkel Meinhard, daß ich geweint habe! Ihr Wort darauf? gewiß niemanden! Er soll nicht etwa glauben, daß ich mich unglücklich fühle. Mir liegt gar nichts an ihm – gar nichts,« erklärte Mimi, ihre Augen trocknend. Und mit den Thränen wischte sie auch die letzten Spuren gewaltthätiger oder selbstmörderischer Vorsätze hinweg. »Nicht so viel mach' ich mir aus ihm! Aber finden Sie nicht selbst ein solches Arrangement abscheulich – ganz abscheulich?«

»Und was sagte Ihr Papa dazu?«

Sie hatte seinen Arm genommen und schritt nun langsam an seiner Seite dem Schlosse zu.

»O, ich kenne Papa nicht mehr – er läßt alles geschehen! Mir hätte er es gewiß verboten, wenn ich ihm mit einer solchen Ueberraschung gekommen wäre. Ich begreife nicht, daß er nicht rundheraus gesagt hat: ›Da darf nichts daraus werden. Ich erlaube es nicht!‹ – Das hätte ich gethan.«

»Sie vergessen,« sagte er beinahe bitter, »daß Fräulein Hilda selbständig und Herrin ihrer Handlungen ist.«

»Auch wenn sie eine Thorheit begeht?«

»Wer soll sie hindern?«

»Sie! ja Sie, Onkel Meinhard. Sie müssen ihr ins Gewissen reden. Sie haben ja immer den meisten Einfluß auf sie, seit jeher, und dann können Sie Papa nötigen, daß er seine Meinung unzweideutig äußert. Von einer Billigung ist bei ihm ohnedem nicht die Rede; ich habe es ganz gut herausgehört. Er gab Edwin aufs deutlichste zu verstehen, daß ein Mann, der eine Frau heimführen wolle, erst ein Heim oder wenigstens eine Stellung haben müsse im Leben. Er hat ihm sogar seine Talente zum Vorwurfe gemacht und das war ungerecht, denn es ist so schön zuzuhören, wenn er ein Gedicht deklamiert, oder seine Kompositionen vorträgt und seine Bilder – nein, nein, seinen Wankelmut, seine Schwäche gegen die Anlockungen, nicht seine Talente hätte er ihm vorhalten sollen.«

»Das war gewiß auch anders zu verstehen.«

»Ich habe es doch selbst gehört. ›Deine Vielseitigkeit ist ein Unglück,‹ sagte Papa ausdrücklich. ›Für den Eintritt in den Staatsdienst ist es zu spät. Mit Malen, Musizieren, dies und jenes treiben, wirst du nie etwas erreichen, sondern dich nur zersplittern, oder fühlst du die Kraft eines Michel Angelo, eines Leonardo da Vinci in dir? Die Menschen heutzutage müssen sich zufrieden geben, eines ganz zu sein. Wenn aus dir noch etwas Tüchtiges werden könnte, wär's einzig und allein vielleicht ein Schriftsteller, ein Journalist etwa oder solch ein Arbeiter, dem es zu statten kommt, wenn er in vielerlei Dingen Bescheid weiß und dazu eine leichtbewegliche Phantasie hat. In der Arbeit mit dem Fleiß und Ehrgeiz kann sich dann auch der Charakter einstellen.‹ – So hat er gesagt und das ist nicht die Art, wie man jemandem seinen Beifall ausdrückt. Aber Papa hat das ganz verkehrt angegriffen. Wenn er Aerger empfand, dann hätte er ihn nicht an dem Unschuldigen auslassen sollen. Ich weiß schon, wer die ganze Sache eingefädelt hat. Das ist Frau Rohrwek mit der Tante zusammen, die haben es zurechtgemacht, und statt daß Papa zu Edwin sagt, er sei zu jung zum Heiraten – was gar nicht wahr ist – hätte er lieber derjenigen, die ihn in ihren Netzen gefangen hat, klar machen sollen, daß sie zu alt ist.«

»Mimi!«

»Ist es denn nicht wahr? Sie ist ja schon ganz erwachsen gewesen, als ich auf die Welt kam. Wenn ich so alt bin, mag ich gar nicht mehr leben.«

»Sie haben aber noch ein gar kurzes Zeitmaß für Ihre Weltanschauung, mein liebes Kind,« erwiderte Meinhard, »das wird sich bis dahin geändert haben. Aber nicht das ist's, was mir Anstoß erregt, sondern die Unbilligkeit, ja die Gehässigkeit Ihres leidenschaftlichen Urteils. Wie können Sie so von – von Ihrer Tante sprechen, als hätte dieselbe Netze ausgeworfen. Es ist doch weit eher anzunehmen, daß sie selbst von einem solchen umgarnt wurde.«

»Sie muß ihn ja nicht nehmen, wenn sie ihn nicht will.«

Meinhard vermochte der scharfsinnigen Bemerkung nichts entgegenzustellen als sein Gefühl.

»Da mögen mancherlei Beweggründe mitwirken, in die ich keinen klaren Einblick habe. Was aber über jedem Zweifel dasteht, ist die Abwesenheit jeder bewußten Koketterie zur Herbeiführung des nun erfolgten Abschlusses. Sie mag den jungen Mann gerne gesehen, ihn liebgewonnen haben – es sind ja wohl so mancherlei Vorzüge an ihm, die einem Frauenauge wertvoll erscheinen mögen, die bestechen und vorhandene Mängel übersehen lassen. Ich werfe mich da nicht zum Richter auf, aber besonderer Künste bedarf es bei ihr gewiß nicht, um ein Männerherz anzuziehen, selbst nicht um das Mißverhältnis der Jahre, das hier allerdings besteht, auszugleichen. Prüfen Sie doch nur, ohne sich von Ihrem Unmut verblenden zu lassen, und Sie werden gestehen müssen, daß, wenn Sie die Reihe der Ihnen bekannten jungen Damen im Geiste durchgehen, wenige ihr gleichkommen dürften. Ob sie nun ihr volles Haar, ihre schlanke Gestalt, den anmutigen Ausdruck ihrer Züge, ihr bezauberndes Lächeln, die wunderbare Tiefe ihres Blicks, kurz die ganze Schönheit ihrer Erscheinung, oder ihre Bildung und die natürliche Grazie ihres Benehmens in Vergleich ziehen wollen, nirgends Wird Ihnen ein so vollkommenes Bild entgegentreten.«

»Am allerwenigsten im Spiegel. Ich weiß es ja, ich bin nicht blind. Aber ich möchte schöner und anziehender sein als sie. Ich möchte es sein!«

»Dann seien Sie vor allem gerechter und gestehen Sie ein, daß es ein Glück sein muß, eine solche Frau zu gewinnen, deren häuslicher Sinn, deren Thatkraft, deren Wissen und Denken eine Heimat zu schaffen im stande sind, in der es jedem wohl werden muß, und in deren von unerschöpflicher Güte, Pflichtgefühl und Treue erfülltem Herzen eine Heimat findet, wer darinnen aufgenommen ist.«

Verwundert blickte Mimi zu Meinhard auf, der mit begeisterter Wärme gesprochen hatte, und voll schlauer Schalkhaftigkeit fragte sie dann:

»Ja, warum heiraten Sie sie denn nicht, Onkel Meinhard?«

Die Frage trieb ihm eine starke Röte auf die Stirne und hemmte sogar seinen Schritt, ein schmerzhafter Zug kam in sein Antlitz und das Feuer in seinen Augen erlosch.

»Es kommt bei den meisten Dingen auf Erden nicht bloß auf unsern Willen an, das werden Sie auch erfahren,« sagte er dumpf.

»O, das hab ich schon erfahren,« fiel sie altklug ein und machte ein sehr betrübtes Gesicht. Dann hängte sie sich vertraulicher an seinen Arm und suchte mit ihm Schritt zu halten. »Ich habe schon lange gedacht, es müßte so etwas sein. Sie sehen sie immer so verklärt an, man kann es in Ihren Augen lesen, wie gerne Sie in ihrer Gesellschaft sind. Aber ich habe bisher immer geglaubt, daß auch die Tante gar viel auf Sie halte und nun – Also auch Sie sind hintergangen worden.«

»O nein, niemals.«

»Aber doch angezogen und dann wieder ohne weiteres fallen gelassen. Ich begreife nur nicht, wie Sie da noch schwärmen können. Wer falsch gegen mich war, den kann ich nur hassen – o, aus ganzer Seele hassen!«

»Aber es war auch niemand falsch gegen mich. Die Anziehungskraft ist keine Willensthätigkeit, sondern eine Eigenschaft des Magnets, und ebenso unbewußt übt ein schönes edles Frauenbild seinen Zauber, dem man sich nicht entziehen kann.«

»Das ist's ja eben, was mich grämt. Man kann nicht aufkommen neben ihr. Aber Ulysses war doch so gescheit, seinen Gefährten die Ohren zu verstopfen, damit sie von den Sirenen nicht verlockt würden, und so hätten es andere auch machen sollen. Sie brauchten gar nicht hinzusehen, dann fiele auch der Vergleich nicht in die Augen mit meinem struppigen Haar, meinem dünnen Hals, meinen dürren Armen, meinem schusseligen Wesen und meinem einfältigen Geschwätz.«

Diese hastig hervorgesprudelten Selbstanklagen rangen Meinhard, so tief und düster sein Ernst war, ein Lächeln ab.

»Nun,« meinte er, »so gar schlimm ist es denn doch nicht.«

»O ja, o ja, ich weiß es.«

»Sie verfallen jetzt in den umgekehrten Fehler und thun sich selbst Unrecht. Mir ist es wohl gestattet, Ihnen zu sagen, daß sie ein liebes, hübsches, herziges Mädchen sind.«

»Wirklich?« fragte sie, gespannt aufblickend. »Machen Sie auch keine Komplimente, wie – wie andere, die dasselbe sagen?«

»Gewiß nicht. Was Ihnen an Gleichmaß und Selbstbeherrschung noch mangelt, das werden die Jahre bringen. Sie sind ja noch so jung; aber auch die Jugend ist nur ein Reiz mehr.«

»Ich mißfalle Ihnen also nicht, Onkel Meinhard? Die Hand aufs Herz. Volle Wahrheit!«

»So wenig, daß ich vielleicht sogar Gefahr liefe – wenn ich jünger wäre –«

»O, daraus mache ich nur gar nichts, aus dem Alter,« versicherte sie treuherzig. »Wir zwei sind Zurückgesetzte, Uebersehene, Ausgestoßene; wir gehören zusammen, wir müssen einen Bund schließen und uns an den andern rächen. Wissen Sie was, Onkel Meinhard, – das beste ist, wir machen's ebenfalls wie die andern: wir heiraten einander.«

Der Vorschlag kam etwas unerwartet, zu anderer Zeit hätte ihn Meinhard wohl mit Scherz aufgenommen und eine kleine Neckerei daran geknüpft, jetzt aber bewegte er nur trübe lächelnd den Kopf, was Mimi für ein Zeichen der Unschlüssigkeit hielt, der sie ein Ende machen mußte.

»Wenn ich nicht glauben soll, daß Sie auch nur ein Schmeichler sind, der mir allerlei in den Kopf setzen wollte, so dürfen Sie jetzt nicht zurücktreten. Es wird so hübsch sein, wenn wir gleichfalls unsre Verlobung anzeigen. Und ich werde ein großes Medaillon tragen mit einem verschlungenen B. und E. und Ihrem Porträt innen, und das werde ich alle Augenblicke hervorziehen und küssen, wie es Lina Gertenau macht, damit alle sehen, wie lieb ich Sie habe und wie glücklich ich bin. Wann soll es denn sein?«

»Allerdings nicht so auf der Stelle, da ich noch heute abreise.«

»Sie reisen ab? Wie ungeschickt! Könnten wir uns nicht in aller Eile noch verloben? Ihnen schlägt Papa gewiß nichts ab. Nicht? O, wie verdrießlich! Aber Sie kommen zurück? bald? und dann halten Sie bei Papa um mich an? ja?«

»Kommen Sie mit hinein,« forderte er seine Begleiterin, welche stehen geblieben war, als sie vor dem Schlosse anlangten, zum Eintritt auf.

»Nein, ich will nicht ins Haus; – ich will niemanden begegnen,« erklärte sie, der Thüre den Rücken zuwendend, faßte aber dabei seine Hand und sah ihm ernst bittend in die Augen, indem sie von neuem in ihn drang. »Wenn Sie also zurückkommen! Sie versprechen mir's? Abgemacht? Topp! Ich halte Sie beim Worte! Vergessen Sie nicht! Sobald Sie zurückkommen!«

»Was thue ich aber, wenn sich der kleine Kopf inzwischen eines andern besonnen hat?«

»O, – ich brauche keine Bedenkzeit! Und vergessen Sie das Medaillon nicht!«

Meinhard winkte ihr mit der Hand freundlich einen Abschiedsgruß zu, während sie von den Stufen abschwenkte, und schritt dann dieselben hinan. Das wohlwollende Lächeln schwand dabei langsam aus seinen Zügen, über die ein tiefer, kummervoller Ernst seinen Schleier zog. Im Korridor blieb er stehen, ehe er jemand suchte, der ihm Auskunft gab. Er mußte sich erst fassen und in die neue Nachricht hineinfinden, wozu ihm das erregbare Mädchen nach ihrer Mitteilung nicht Zeit gelassen hatte.

Er stand im Begriffe zu scheiden, wieder wie vor fünfzehn Jahren mit der Ueberzeugung, daß es für immer sei. Damals hatte er den Tod im Herzen zu tragen vermeint, und doch war er am Leben geblieben, war wiedergekommen und hatte sogar eine lange Zeit hindurch – sich wohl gefühlt. Es war nicht die volle Zufriedenheit und doch – eine Art von Glück gewesen. Nun hatte auch das ein Ende gefunden. Diesmal war es nicht ein wildes Auflodern der Verzweiflung, das ihn von dannen trieb, er war älter, ruhiger geworden, aber das, was er empfand, wog doch nicht um ein Quentchen leichter als dazumal, nur daß er nicht mehr die Vollkraft der Jugend hatte, es zu tragen, und daß sein gereifter Verstand ihm klar die Zukunft zeigte. Die erste Flucht hatte gleichsam in einem Bogen zur Ausgangsstelle wieder zurückgeführt, aus der Selbstverbannung, in welche er jetzt zu gehen im Begriffe stand, gab es keine Wiederkehr. Die Jugend ist nie hoffnungslos, das Leben liegt ja noch vor ihr; was man in spätern Jahren verliert, dafür gibt es keinen Ersatz mehr.

Ungeliebt und verspottet neben derjenigen herzugehen, deren Bild er, soweit er zurückdachte, in gleicher Verehrung und Treue im Herzen trug, war ihm einst als eine Unmöglichkeit erschienen, bis er erkannte, daß es ihm noch weit schwerer fiel, sie zu meiden. So hatte er denn wieder gesucht, in ihre Nähe zu kommen, und resigniert nahm er mit dem bescheidenen Lose vorlieb, das ihm das Schicksal vorbehalten hatte. Er sah sie, er trank den Sonnenstrahl aus ihren Augen, er durfte mit ihr sprechen, einen regen Verkehr mit ihrem Hause unterhalten und das milde Behagen einer herzlichen Freundschaft genießen, er hatte seinen stürmischen Willen beherrschen gelernt und ihn zur Genügsamkeit erzogen, um nicht auch noch dies bescheidene Maß von Seelenfrieden einzubüßen. Und manchmal war sogar ein Freudenstrahl in dies stille Leben gefallen. Ein Ton ihrer Stimme, ein Druck ihrer Hand, ein klarer beseligender Blick ihres Auges, weckten dann die längst begrabenen Hoffnungen aus dem Scheintode auf, er konnte für Momente, für Stunden sogar sich dem lieblichen Traum hingeben, daß in der Tiefe dieses keuschen ruhigen Mädchenherzens doch eine Stimme lauter für ihn, als für jeden andern spreche und er demselben mehr sei als bloß der Jugendfreund, der Vertraute und Ratgeber. Kein Freier war ihm vorgezogen worden und es hatte den Anschein, daß die Hingebung für die Familie Hildas Leben ganz und gar ausfüllen sollte; vielleicht kam aber einmal doch eine Aenderung in diese kleine Welt, ein Frühlingshauch zog durch die eingerissene Wand und dann – stand er nahe genug, um die Blüten, auf deren Erschließen er so lange in Geduld und Treue geharrt, an seinem Busen aufzufangen.

So war er geblieben, auf alle Begünstigungen verzichtend, die sich für seine materielle Existenz boten, ein pflichteifriger Diener des Staates, in beschränkter Stellung und ein stiller Gast im stillen Hause.

Wenn er sich nicht ehrgeizig nannte, so hatte er nicht die volle Wahrheit gesagt. Hätte er die Geliebte gewinnen können, indem er sich emporschwang zu hervorragender Stellung, indem er berühmt wurde, er hätte den Ehrgeiz für sie gehabt, doch hier, wo derselbe ihn nur aus ihrer Nähe entfernen mußte, unterdrückte er ihn – ebenfalls für sie.

Ein neuer Liebestraum war ahnungsvoll über ihn gekommen, und vorsichtig, um ihn nicht wieder zu zerstören, hatte er zugewartet und nur langsam mit zaghaft gewordener Hand hinwegzuräumen gesucht, was noch zwischen ihnen beiden lag. Der Zufall schien ihm Hilfe zu bieten und hatte seine Absichten gefördert. Da in dem Moment, wo er endlich das Glück zu fassen vermeinte, ward er von neuem zurückgeschleudert ins Hoffnungslose wie damals, nur weit bitterer noch, nicht in Scherz und Spott, sondern in Zorn und Verachtung. Die Liebe hatte er gesucht und die Mißdeutung war ihm begegnet.

So hatte der Traum abermals ein jähes Ende gefunden, und nicht genug an der Enttäuschung – ein anderer, glücklicherer war ihm zuvorgekommen und hatte spielend die aufgebrochene Blüte gepflückt und mit der kecken Hand der Jugend, die gewinnt, weil sie wagt.

Nun war es für immer vorbei. Hier gab es keine zweite Rückkehr mehr. Was er heute erfahren, bestätigte ihm nur, daß er richtig gehandelt, als er schon gestern nach der so schroff geendigten Zusammenkunft seinen Entschluß gefaßt und die Brücke hinter sich abgebrochen hatte. Die neue Erfahrung war tief schmerzlich, aber nicht Zorn und Scham rief sie diesmal hervor, nichts als Trauer und ein Mitleid für Hilda, da er selbst keine Bitterkeit aufkommen ließ über eine Wahl, in der er kein Glück für diejenige voraussehen konnte, deren Geistesleben, seelische Bedürfnisse und Gemütsregungen er jahrelang zu seinem eingehendsten Studium gemacht, so daß er es genau zu kennen glaubte.

Er erwog, nachdem seine Betrachtungen sich einmal dieser Seite zugewendet, in sich, ob er nicht warnend seine Stimme erheben müsse, aber man hatte ihm ja das Recht dazu mit der Freundschaft gekündigt, und vielleicht fand sich in dem Stolz, der ihn abhielt, seinen unbegehrten Rat aufzudrängen und ihn als Verleumdung mißdeuten zu lassen, doch noch ein Restchen der alten scheuen Unbeholfenheit.

Das Erscheinen des Kammermädchens setzte seiner Unentschiedenheit ein Ziel. Mit ruhiger Freundlichkeit nahm er die Mitteilung entgegen, daß er niemand zu Hause finde als Fräulein Hilda, diese sich aber im Salon befinde, mußte jedoch, ehe er dort eintrat, immerhin noch einen Augenblick an der Thüre stillhalten. Dann aber hatte auch der Wille den Ausdruck der Bekümmernis aus seinen Zügen hinweggewischt und seiner Stimme wieder Festigkeit verliehen. Er war ein Mann, der sich zu beherrschen wußte, sein ganzes Leben der einen tiefen Leidenschaft untergeordnet hatte, doch auch diese selbst im Zaume hielt.

In der nächsten Sekunde stand er Hilda gegenüber, die bei dem Geräusche der Schritte vor der Thüre auf diese zugeeilt war und nun bei seinem Anblicke, über und über errötend, zurückwich.

Sie war nicht mehr in der unnatürlichen Aufregung des vergangenen Tages. Infolge einer Reaktion der Nerven und vielleicht auch ein wenig des perlenden Champagners, dem sie über ihre Gewohnheit zugesprochen, war sie in einen bleiern schweren Schlaf verfallen, der sich spät in den Morgen hinein verlängerte. Bei ihrem Erwachen war der Sinnesrausch verflogen und alles zeigte sich ihr im nüchternen Frühlichte, das unbarmherzig alle Täuschungen einer überreizten Phantasie zerstörte.

Ueber ihr Leben hatte sie wie ein Spieler gewürfelt, ihr Wort verpfändet und nun war sie Braut eines Mannes, der jünger war als sie – um volle acht Jahre jünger, den sie nicht liebte, der ihr nicht einmal jene Achtung abrang, die man dem ernsten Wollen, dem festen Charakter auch eines jüngeren zollt, ja für den sie beinahe etwas wie die Nachsicht eines mütterlichen Wohlwollens empfand. Wie war es denn nur gekommen, daß sie sich so rasch entschließen hatte können, seine – gerade seine Frau zu werden?

Wilhelm! – Der Gedanke an ihren Bruder blitzte in ihr auf und damit gewann alles wieder Schluß und innern Zusammenhang. Einer helfenden Hand hatte sie bedurft und die hatte sie gefunden. – Nun war es aber auch hoch an der Zeit, Edwin von der Lage der Dinge zu unterrichten; in den bewegten Stunden des vergangenen Abends hatte sich keine Zeit dazu gefunden. Schon am frühen Morgen hätte sie im Jägerhause sein sollen und nun war der Vormittag schon so weit vorgerückt; um so mehr durfte kein Augenblick versäumt werden, alles in Fluß zu bringen.

Sie war aufs unangenehmste überrascht, als sie hinabkam und den Frühstückstisch schon verlassen fand. Franz und seine Frau wollten erst spät zurückkommen; das war gut, denn so gewann sie Gelegenheit, ungestört mit Edwin über die Angelegenheiten zu sprechen, aber auch er war fort. Wie mißlich sich das fügte! Nach der Stadt war er gefahren; hätten sie sich vorher nur erst verständigt gehabt, so würde er daselbst sofort alles wohl in Ordnung gebracht haben. Nun mußte eins und das andre verschoben bleiben, bis er zurückkam. Eine Zögerung, die doch hoffentlich den tückischen Menschen, in dessen Händen ihr armer Bruder war, nicht dazu aufreizte, seine Drohungen in Ausführung zu bringen. Nein, nein, er gab sich wohl noch zufrieden, aber auf wie lange?

Ungeduldig wartete sie. Noch immer kam Edwin nicht. Da endlich – das mußte er sein! Sie sprang auf, flog ihm entgegen und – sah Meinhard ins bleiche ernste Angesicht.

Betroffen prallte sie zurück. Sie hatte das Gefühl eines Kindes, das auf unrechten Wegen ertappt ist, und in Scham und Verlegenheit schlug sie ihren Blick nieder vor den strengen Augen, in denen sie die Frage: »Was hast du gethan?« zu lesen vermeinte. Dieselbe Frage, die ihr heute schon wiederholt eine leise aber eindringliche Stimme ins Ohr geflüstert. Doch auch jetzt kam ihr der Unwillen zu Hilfe. Warum hatte man sie dazu gezwungen? Nun mußte es auch recht sein! Und sie zürnte demjenigen, vor dem sie sich ihrer Entscheidung schämte und der doch den letzten und bestimmenden Anlaß dazu gegeben. Warum hatte er sie so weit getrieben? Er – ganz allein, er trug die Verantwortung an allem was geschehen. Alles andre, was Einfluß auf ihren Willen genommen, war vergessen und nur gegen ihn richtete sich in einem Gesamtvorwurf, was sich an Zweifel und Unzufriedenheit mit sich selbst in ihr zu regen begannen.

Bei Meinhard dagegen fand dies Zurückweichen eine besondre Deutung.

»Sie hat einen andern erwartet,« sagte er sich herb, doch unterdrückte er mannhaft jede anzügliche Aeußerung.

»Lassen Sie mich mit einem Friedensworte beginnen,« sprach er ruhig, »und Ihnen meinen Glückwunsch darbringen. Nicht in dem gewöhnlichen Sinne geschieht dies, sondern es ist wirklich mein inniger Wunsch, daß Sie Ihr Glück in der geschlossenen Verbindung finden mögen, weil es mich betrüben würde, Sie nicht glücklich zu wissen.«

»Die Nachricht muß ja Flügel gehabt haben, daß Sie schon zu so ungewöhnlicher Zeit erscheinen,« entgegnete Hilda, welcher der tiefere Sinn seiner Worte keineswegs entgangen war, die sich aber zwang, eine spöttische Mißbilligung ihrer Wahl herauszuhören, um sich gegen ihre eigene Beklommenheit mit allem Stolze wappnen zu können. Wollte er anscheinend vergessen, wie sie sich gestern getrennt hatten, sie ging darüber nicht hinweg. »Uebrigens kann ich für Ihre Teilnahme kaum danken. Glück oder Unglück, das mich trifft, beanspruche ich auch ganz allein für mich. Was andre angeht, wird vielleicht bloß die Rücksicht in Betracht kommen, die mein Wille von nun an wohl in erhöhtem Maße finden dürfte, weil mir die Mittel zu Gebot stehen, ihm Nachdruck zu verleihen.«

»War das der einzige Beweggrund zu Ihrem Entschlusse?« fragte er gespannt. Sie senkte trotzig die Lider vor dem Blick, der sie bis auf den Grund der Seele durchforschen zu wollen schien. Wie dreist von ihm, eine solche Frage an sie zu richten! Sie verdiente keine Antwort.

»Ich bedaure, daß momentan mein Bräutigam nicht hier ist, um sich mit Ihnen über das Recht auseinanderzusetzen, welches Sie in so ausgedehntem Maße auf mein Vertrauen beanspruchen. Uebrigens dürfen Sie ihn heute noch zur Regelung meiner finanziellen Angelegenheiten erwarten.«

Meinhard richtete sich kalt auf.

»Dazu bedarf es keines Mittelsmannes,« sagte er und holte aus der Brusttasche dasselbe Paket, das er ihr gestern vorenthalten, und reichte ihr es hin. »Das war der Zweck meines Hierherkommens.«

So wenig hatte Hilda dies erwartet, daß sie wohl eine Sekunde verstreichen ließ, ehe sie zugriff. Dann that sie es aber so hastig, als ob sie ein neuerliches Zurückziehen selbst gewaltsam verhindern wolle. Ein Blitz der Freude aber auch des Triumphes zuckte in ihren Augen auf.

»Sie bringen mir das Geld?« rief sie. »O, wohl aus Furcht vor den Folgen Ihrer Weigerung.«

»Möglich. Aber nicht vor denen, die mich treffen könnten.«

Er betonte so sonderbar. Bestürzt sah Hilda zu ihm auf. Was hatte dies zu bedeuten? Was wußte er? Langsam, um ihre Unruhe zu verbergen, ging sie auf das kleine Sofa zwischen den Fenstern zu und ließ sich darauf nieder. Das Paket drückte sie noch immer fest an sich, als könnte es ihr entrissen werden.

»Mir kann es am Ende gleich sein,« sagte sie, »was Sie antrieb, einer durch meinen Bevollmächtigten unterstützten Erneuerung meines Begehrens zuvorzukommen.«

»Das war gar nicht meine Absicht, namentlich wenn Sie unter Ihrem Bevollmächtigten Herrn von Tonner verstehen. Die Nachricht von Ihrer Verlobung erhielt ich soeben erst hier. Hätte ich darum früher gewußt und um seine Anwesenheit in der Stadt, wäre mir dadurch der Weg hier heraus erspart worden und –« erst nach einer kleinen Pause setzte er leise aber mit einem Anklange von Bitterkeit, der ihrem Ohre nicht entging, hinzu: » diese Begegnung. – Ich hatte keinen Anlaß, dieselbe zu suchen,« fuhr er dann fort, »obwohl es mir leid gethan hat, daß Sie gestern im Unwillen schieden. Ich hätte sie sogar vermieden, weil ich der Meinung war, daß sie Ihnen nicht erwünscht kommen dürfte. Darum wollte ich nur Franz aufsuchen und in seine Hände das mir anvertraute Gut zurücklegen, dessen Verwaltung ich so wie so nicht mehr zu führen in der Lage war, selbst wenn die räumliche Entfernung unserer künftigen Wohnsitze nicht allzuviele Unzukömmlichkeiten mit sich brächten.« Abermals trat eine kurze Pause ein, er wollte gehen, aber das tiefe Gefühl seines Herzens war mächtiger als sein Stolz und siegte im Kampfe, so that er denn einige Schritte auf Hilda zu und bot ihr die Hand. »Sie hatten recht, ich durfte Ihnen die freie Verfügung nicht schmälern. Es gibt Lagen, wo man einzig und allein dem Impulse seines Herzens folgen muß, wo jede andre Entscheidung ein unsühnbares Unrecht gegen dasselbe ist. Ich selbst hätte Ihnen vertrauen sollen; aber man irrt eben, oft bei den besten Intentionen. Ich hoffe, diese Erklärung genügt, daß wir nicht in Unfrieden scheiden. Möge Ihnen alles – alles zum Glück ausgehen und grüßen Sie mir recht herzlich Ihren Bruder. Gern hätte ich ihn noch einmal gesehen, aber meine Abreise drängt und er kommt wohl bald einmal nach Wien.«

»Sie gehen fort?« rief sie betroffen und stand plötzlich wieder auf ihren Füßen. Hatte sie schon Rührung bei den ersten Worten seiner Abbitte ergriffen, so war jetzt mit einemmale, gleich dem so sehnlich herbeigewünschten Gelde, das unbetrachtet zur Erde fiel, auch alles andre vergessen, das zu demselben in Beziehung stand. Jetzt war es nicht mehr der übermütige Tyrann voll verletzender Anmaßung, sondern nur noch der alte liebe Freund, der vor ihr stand, derselbe, der er eigentlich immer gewesen, wenn ihn ihre leidenschaftliche Aufregung für einen Moment auch mit allen bösen Eigenschaften eines Feindes ausgestattet hatte. Und nun war er da, um Abschied von ihr zu nehmen. So unvorbereitet! so plötzlich! War es denn möglich?

»Heute noch,« beantwortete er ihre Frage, indem er das Paket aufhob und auf den Tisch legte. »Ich habe mich nach reiflicher Ueberlegung denn doch für den Antrag des Ministers entschieden. Er drängt und so habe ich die telegraphisch geführten Verhandlungen mit der Zusage abgeschlossen, noch diesen Abend abzureisen. Meine Geschäfte sind bereits übergeben und mein kleines Hauswesen kann später leicht aufgelöst werden. Die Raschheit erleichtert mir den Abschied.«

»Wann haben Sie denn diesen Entschluß gefaßt?«

»Gestern. Und es war, wie ich sagen muß, ein guter Genius, der mir ihn eingab.«

Sie hörte nur das erste Wort. Sie verstand, daß sie es war, die ihn dazu getrieben und eine Last fiel ihr aufs Herz.

»Aber Sie sagten doch – nur ein Wunder –« doch da stockte sie wieder.

»Ein Wunder!« wiederholte er mit eigentümlicher Betonung und wehmütig lächelnd sah er vor sich hin auf den Fußboden. Es war ja auch eins eingetroffen, wenngleich nicht gerade jenes, welches er dabei im Sinne gehabt. Er nickte und gab dann eine beiläufige Erläuterung. »Nur unter gewissen Verhältnissen konnte mir mein Verbleiben wünschenswert erscheinen, da tritt eine Aenderung leicht ein. Als Opfer empfindet man dann, was man für kein solches gehalten. Nehmen Sie an, ich sei ehrgeizig geworden, das ist ja die letzte Leidenschaft, die sich beim alternden Manne einstellt.«

Für den Scherz hatte sie kein Ohr. Er verletzte sie fast, jetzt, wo ihr Herz so gepreßt war.

»Sie können uns verlassen?« sagte sie vorwurfsvoll.

»Gehen Sie denn nicht auch?« entgegnete er.

Hilflos sah sie ihn an.

Erst in diesem Momente ward es ihr klar, als hätte er ihr etwas Neues gesagt. Jetzt wußte sie wieder, was geschehen war und wie es sich Ring an Ring gefügt. Der Schreck krampfte ihr die Brust zusammen und sie glaubte vergehen oder bei Meinhard Zuflucht suchen zu müssen; bei ihm war sie doch eines aufmunternden Wortes oder wenigstens eines Trostes gewiß, und gerade das blieb ihr versagt, denn sie selbst war es ja, die alles herbeigeführt, die sich ungebärdig gegen seine wohlwollende Fürsorge aufgelehnt, die ihn beschimpft hatte und ihn wieder, wie schon einmal, von dannen trieb.

Sie faltete die zitternden Hände und drückte sie an die Brust.

»O, was hab' ich Ihnen gethan!« stammelte sie. »Und Sie sind so gut – so gut und lassen es mich nicht mit einem Worte empfinden. Sie hätten ein Recht, mich zu verachten, mich in den Staub zu demütigen, daß ich Sie wie eine Wahnsinnige beleidigte. Ich weiß, daß Sie mir niemals verzeihen können –«

»Machen Sie mir den Abschied nicht schwer,« unterbrach er sie. »Hätte ich noch einen Groll gegen Sie gehegt, so würde ich hier nicht eingetreten sein und nicht so gesprochen haben, wie ich es that. Noch einmal wünsche ich dasselbe. Ein Sturm umtobte Sie – da griff –« er hielt inne, »Ihre Hand wohl fehl« hätte er beinahe gesagt, und dabei wäre dann auch sein fürsorglich bewegtes Gemüt schwerlich stehen geblieben, doch erinnerte er sich der im Anfange erhaltenen Zurückweisung – es blieb ja auch besser, nicht abermals auf denselben Gegenstand zurückzukommen und an einer entschiedenen Sache mit seinen Bedenken zu rütteln. So Glück wünschen hieß ein Glück trüben, das war so recht Freundesgeschäft nach Weltart, aber nicht das seine.

Er mußte seinem eigenen Herzen zuvorkommen und dieser Szene ein Ende machen. Ohnehin vermochte er nicht länger in die thränenerfüllten, flehend auf ihn gerichteten Augen zu blicken, vor denen er seine ganze gewaltsame Fassung hinschwinden sah.

»Sagen Sie mir ein kurzes herzliches Lebewohl,« bat er; als er jedoch ihre noch immer gefalteten Hände erfaßte, da übermannte ihn sein Gefühl, er schlang den Arm um sie, zog sie an sich heran und küßte ihre Stirne. »Soviel wird ja dem Freunde nicht verwehrt sein,« murmelte er mit erstickter Stimme. »Lebwohl, Hilda!«

Und wieder beugte sich Meinhard zu Hilda herab, diesmal aber hob sich ihr Köpfchen und sein Mund berührte nicht die Stirn, sondern die ihm entgegengebrachten Lippen. Es war ein inniger, ein unsäglich schmerzlicher Kuß. Dann riß er sich los; sein Herz zitterte dabei, wie wenn es stille stehen sollte; der letzte Rest von Bewußtsein sagte ihm, daß er nicht länger bleiben dürfe, schon standen seine Augen voll Thränen und so eilte er hinweg.

Wie vom Blitze getroffen wankte Hilda. Sie wollte sprechen, Meinhards Namen rufen und vermochte es nicht, es kam nur ein Ton aus ihrer Brust, wie das Girren einer Taube. Sie wollte die Arme ausstrecken und statt dessen sanken sie gelähmt an ihr nieder. Der vernichtende Strahl, der sie aus ihrem bisherigen Dasein riß, hatte mit feuriger Zunge die Schleier verzehrt, von welchen ihr Blick umhüllt gewesen. Staunend, selig und doch zugleich entsetzt erwachte sie in einer andern Welt.

Da stand alles in einer schattenlosen blendenden Klarheit und das Leben, Denken und Empfinden von Jahren drängte sich in einen einzigen Augenblick zusammen. Ihr eignes Innere lag wie von diesem Zauberlicht erhellt vor ihr. Ueberall, wo sie hinblickte, trat ihr ein und dasselbe Bild entgegen; die Züge waren unverwischbar. Sie wußte jetzt, daß sie niemand auf Erden hatte, der ihr teurer war, sie wußte, daß sie mit ganzer Seele ihm gehörte, daß alle ihre Gedanken nur auf ihn gerichtet waren, daß jeder Schlag ihres Herzens zitternd nach ihm rief, – und in dem Momente, wo in ihr diese Erkenntnis aufflammte, ging er, mit dem ihr ganzes Leben seit der Kindheit unauflöslich verflochten war, hinweg – unwiderruflich getrennt von ihr durch ihren eigenen unseligen Entschluß.

Noch sah sie sein mildes liebevolles Auge, noch fühlte sie die brennenden Lippen, den Arm, der sie erdrückte. O, daß er es gethan hätte! Warum nicht so hinschwinden und vergehen?

»Bruno!« Ach er war fort und sie allein! – allein!

Das also war's? – Ja, jetzt war auch über sie jener wunderbare Schauer hinweggegangen, aber ganz anders war seine Wirkung: sie fühlte sich nicht unaussprechlich glücklich, – sondern nur unaussprechlich unglücklich – unglücklich zum Sterben! –


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