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Sechzehntes Kapitel. Strafe

Lisbeth zog sich, nachdem sie ihre Pläne, die beiden Liebesleute sich selbst und ihrer Freude zu überlassen, kaltblütig in Scene gesetzt hatte, auf ihre Lorbeeren zurück mit der Absicht, Unterhaltung und Zerstreuung bei sich selbst zu suchen.

Es war ihr doch vordem leicht genug gefallen, Zerstreuung und Unterhaltung bei sich selbst zu finden: warum nicht neuerdings?

Natürlicherweise würden sie, da sie sich ineinander verliebt hatten, nach ihr kein Bedürfnis haben: selbst Georgy würde kein Bedürfnis nach ihr fühlen: und daß sie sich ineinander verliebt hätten, das wäre doch durchaus natürlich; denn sie wären gerade der Schlag Menschen, derartiges zu thun.

Und ein reizendes Weibchen würde Georgy abgeben und würde sich, auch wenn ihr Mann sich als ein Tyrann auswiese, noch immer in knieender Stellung verhalten und ihn verehren und lieben und dem Himmel danken für die Zuneigung und Liebe ihres »Prinzen« und für seine Talente und Vorzüge bis zum Ende ihrer unschuldigen Lebenstage.

Was sie selbst anbetraf, so wäre es, wenn sie ihrer Freundin gegenüber ihre Pflicht gethan, keine Sache, die sie anginge, oder mit der sie etwas zu thun hätte.

Das beste, was sie thun könnte, wäre, sie allein zu lassen: und sie ließ sie allein und gab ihnen jede nur mögliche Gelegenheit, sich als Liebesleute zu gebahren, sobald sie sich eben für diese Wandlung ihrer beiderseitigen Verhältnisse entschieden hätten.

Eines Tages aber schreckte Miß Clarissa, als sie von ihrer Näharbeit aufblickte, nervös zusammen infolge des plötzlichen Eindruckes, den ein bestimmter neuer Zug im Aussehen ihrer lieben, teuren Lisbeth auf sie machte.

»Meine liebe Lisbeth!« rief sie aus – »wie blaß und wie schlecht Du aussiehst!«

»Ich bin immer blaß,« sagte Lisbeth.

»Aber, mein Herzchen,« protestierte Miß Clarissa, »Du zeigst heute eine ganz andere Blässe. Du mußt leidend sein. Ach Du mein Gott! Du mein Gott! Wie unachtsam von uns, daß wir das nicht früher bemerkt haben! Ich glaube fast – ja gewiß, ich glaube wirklich, daß Du mager aussiehst, richtig mager!«

»Ich bin immer mager,« sagte Lisbeth.

Aber Miß Clarissa ließ sich durch keine solche Kälte im Benehmen trösten. Als sie noch einmal und schärfer hinsah, da war sie fest überzeugt, daß sie mit ihrer Rede, ihre liebe Lisbeth weise ganz deutliche, nicht mißverständliche Anzeichen auf, sich in einem schrecklichen Gesundheitszustande zu befinden, vollauf im Recht sei.

Sie verfiel zufolgedessen in einen tatsächlichen Zustand des Zitterns und Bebens, zu dem sich Gewissensbisse der heftigsten Art gesellten.

Sie war vernachlässigt worden, und zwar hatten die guten Tanten sie herzlos und achtlos vernachlässigt, weil sie nicht früher die Wahrnehmung gemacht und darauf geachtet hatten, daß sie nicht stark und kräftig wäre.

Da mußte gleich zugegriffen, mußte gleich etwas gethan werden.

Und wirklich, wenn Lisbeth nicht ganz entschieden und resolut aufgetreten wäre, so ist es ganz und gar nicht unwahrscheinlich, daß sie zu Bett gebracht und eingemummelt und mit Tränkchen und Arzeneien gefüttert worden wäre, und zwar von allen drei alten Jungfern auf einmal.

»Hoffentlich rührt Dein schlimmer Gesundheitszustand nicht daher, weil Dir etwa der Aufenthalt in Pen'yllan nicht gut bekommt,« stammelte Miß Hetty. »Wir haben immer gemeint, daß die Luft sehr frisch ist und sehr zehrt. Aber soviel steht fest, daß Du ganz und gar nicht mehr die Alte bist, Lisbeth.«

Das war auch die Wahrheit: sie sah ganz und gar nicht mehr so aus wie vordem.

Soviel sie auch gegen die Behauptung einwand und sich verwahrte, mager und blässer als gewöhnlich sah sie aus.

»Ich bin nicht krank,« sagte sie, »mag ich nun krank aussehen oder nicht. Mir war nie wohler zu Mute im Leben als jetzt. Ich habe in letzter Zeit nicht sehr gut geschlafen: das ist das ganze. Und dann muß ich Dich bitten, Tante Clarissa, mich in dem Falle ganz meinen Weg gehen zu lassen. Es ist ja alles ungereimtes Zeug. Verliere gar kein Wort über mich, darum bitte ich Dich flehentlich. Du würdest Georgy ihre ganze Liebesgeschichte verleiden und würdest Herrn Anstruthers in eine sehr ungemütliche Stimmung versetzen. Männern ist dergleichen Gefasel immer zuwider. Laß mich allein sitzen, wenn sie zu Hause sind – und wenn Du das versprechen willst, dann will ich im stillen alle Arzeneien schlucken, die Du mir bringst, wenn es auch alles, das versichere ich Dir, ungereimtes Zeug ist.«

Aber war es auch ungereimtes Zeug?

Ach! ich muß gestehen, wenn auch mit äußerstem Widerstreben, daß die Zeit herankam, wo die Unbezwingliche geschlagen würde, und wo sie fühlte, daß sie geschlagen würde.

Es war nicht ungereimtes Zeug.

Nachdem sie eines Nachmittags eine Stunde etwa an ihrem Schlafstubenfenster gesessen hatte, sich selbst vorredend, daß sie sich mit Lesen unterhielte, während Georgy und Anstruthers sich im tête-à-tête unten im Garten amüsierten, klappte sie plötzlich ihr Buch zu, stand vom Stuhle auf und fing an, sich für einen Ausgang zurecht zu machen.

Binnen fünf Minuten war sie unten auf der Treppe und draußen am Strande; und kaum einmal heraus aus dem Hause, so fing sie an zu laufen wie rasend.

Sie blickte weder nach rechts noch nach links auf ihrem ganzen Wege.

Sie war nicht in der Stimmung, sich von ihren Gedanken durch diese oder jene Schönheit des Meeres, Himmels oder Strandes ablenken zu lassen.

Sie erreichte das alte Rendezvous-Plätzchen unter den Felsen, ehe sie auch nur ein einziges Mal ihren Lauf unterbrochen hatte.

Als sie dort war, da gönnte sie sich Zeit, Atem zu schöpfen – und als sie Atem geschöpft hatte, da blickte sie zurück über die Fläche, die sie durchlaufen.

Es lag ein müder, abgespannter Ausdruck auf ihrem Gesicht – ein Ausdruck, wie ihn die Misses Tregarthyn niemals zuvor gesehen hatten, selbst dann nicht, als sie das Schlimmste von ihrer Gesundheit dachten.

Und doch lächelte sie wieder in der nächsten Minute, und zwar mit thatsächlichem Ingrimm.

»Ich bekomme jetzt meine Strafe,« sagte sie laut: »meine Strafe für alles, was ich je in meinem Leben verbrochen. Jetzt fängt mir an, das Verständnis aufzugehen.«

Ihre Seele wäre zerknirscht genug gewesen in diesem Augenblick, daß sie, wäre sie geneigt gewesen zu heroischen oder dramatischen Handlungen, zu ihren Füßen ihr Grab im Sande hätte scharren können.

Ja! das Verständnis fing an, ihr aufzugehen.

O! daß es hierzu gekommen war! Daß sie dies gelernt hatte!

Es war charakteristisch für ihre merkwürdige Natur – die jetzt eine unglückliche Natur war insofern, als sie eine neue Erfahrung durchlitt und sich im heftigen Kampfe gegen sie wehrte – es war charakteristisch für ihre merkwürdige Natur, sage ich, daß, als gleich darauf die Thränen ihre Augen füllten und über ihre Wangen zu rinnen anfingen, es bittere Thränen waren, entstanden infolge leidenschaftlicher Gewissensbisse und heftigen Verdrusses, untermischt mit Zorn.

Es hätte wenig gefehlt, so wäre sie imstande gewesen, aus purer Selbstverachtung, und purem Schamgefühl die Hand an sich zu legen.

»Was steckt für Vernunft darin?« sagte sie. »Keine. Was hat es mir gebracht? Nichts. Ist er so würdig jetzt, wie er es damals war? Nein! Ist's nicht schierer Wahnsinn? Ja' 's ist Wahnsinn – 's ist Wahnsinn!«

Sie redete auch die Wahrheit.

Es war keine Vernunft in dem allen. Es war Wahnsinn.

Er hatte nichts gethan, ihr Herz zu rühren, und machte keine Anstrengung, zu ihrem Herzen zu gelangen.

Und doch war er zu ihrem Herzen gelangt – und doch hatte er ihr Herz gerührt!

Es würde nicht ihre Sache gewesen sein, einen Mann um deswillen zu lieben, weil er gut war, weil er ihr seine Liebe erklärt hatte: tatsächlich nicht mit irgend eines Grundes willen.

Ihre Handlungen vollzogen sich im allgemeinen ohne irgend welchen anderen Grund als die augenblickliche gebieterische Eingebung ihrer Phantasie; und im gegenwärtigen Falle war irgend eine seltsame, plötzliche Laune von Ergriffenheit und Rührung so stark über sie gekommen, daß sie davon übermannt worden war.

Wie sehr sie gelitten, seitdem sie die Entdeckung ihrer Schwäche gemacht hatte, würde niemand je erfahren außer ihr selbst.

Sie hatte sich gekrümmt und gewunden darunter, hatte sich gebäumt dagegen, hatte geflucht und gewettert darüber – und war doch dadurch überwältigt, besiegt worden.

Fast jeder Grashalm auf Pen'yllans Fluren rief ihr irgend ein Unrecht in die Erinnerung, das sie dem freundlichen, stürmischen jungen Menschen zugefügt, der sie in vergangenen Tagen geliebt hatte.

Fast jedes Sandkörnchen auf Pen'yllans Wegen peinigte sie mit dem Gedanken an allerhand mutwillige Selbstsucht oder Grausamkeit, auf die sich der Mann besinnen mußte, der jetzt keine andere Empfindung als Groll wider sie im Herzen tragen konnte.

»Jetzt würde ich dankbar sein,« weinte sie bitterlich. »Ja! dankbar für ein Krümchen von dem, was ich einst mit Füßen getreten habe. Das ist eine nagende Rache!«

Sie konnte freilich der armen Miß Clarissa Schrecken einjagen durch ihre Blässe und durch ihr schlimmes Aussehen.

Der heftige Grad ihres Elends und ihrer Demütigung machte sie elend und raubte ihr Schlaf und Appetit.

Sie sehnte sich darnach, Pen'yllan zu verlassen; aber wie sollte sie das zur Sprache bringen? Wie konnte sie es zur Sprache bringen?

Georgy war so glücklich, sprach sie bei sich selbst mit rachsüchtiger Freude an ihrem Schmerz, daß es sich ja gar nicht hätte verantworten lassen, wenn man sie darin hätte stören wollen.

Sie wanderte eine halbe Stunde lang am Strande auf und nieder, ehe sie sich nach Hause zurück wandte; und als sie unterwegs war, da war sie so matt und müde, daß sie vor Erschöpfung kaum gehen konnte.

An der Nebenthür, durch welche sie in das Haus hereinging, traf sie Georgy, die in der Hand einen offenen Brief hielt.

»Von wem?« fragte Lisbeth, weil sie etwas anderes nicht zu sagen wußte.

»Von Mama,« lautete die Antwort des Mädchens. »Sie ist neugierig zu erfahren, wann wir nach Hause zu kommen gedenken; aber es gefällt mir so vorzüglich hier in Pen'yllan.«

Sie hielt inne und wurde rot.

Gerade in letzter Zeit war es ihr vorgekommen, als wenn es möglich sein könnte, daß Lisbeth das Verhältnis zu Hektor Anstruthers mißverstände, und ein Ausdruck in Lisbeths Gesicht veranlasste sie inne zu halten und trieb ihr die Röte auf die Wangen.

»Das Wetter ist so schön,« schloß sie, »daß ich den Wunsch zur Heimkehr noch nicht zu fühlen meine.«

Lisbeth lächelte, aber ihr Lächeln war von unklarer, zerstreuter Art.

»Nein,« sagte sie. »Wir wollen noch nicht fortreisen. Pen'yllan ist uns beiden wohlthätig und ist auch für Herrn Anstruthers wohlthätig. Wir wollen noch nicht gehen. Schreibe das Mrs. Esmond, Georgy.«

Und dann stieg sie mit ihrem unklaren, zerstreuten Lächeln die Treppe hinauf.


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