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Vierzehntes Kapitel. »Trink' mir allein zu!«

Er hatte in letzter Zeit sich in Gedanken viel mit ihr beschäftigt und an seiner Besuchsreise nach Pen'yllan war ihm thatsächlich sehr viel gelegen, und zwar, wie er zu sich selbst meinte, aus keinem anderen Grunde, als weil er sie hier sehen und ihre süße Stimme hier wieder hören würde.

Und jetzt war er gekommen und sie hatte ihn bewillkommnet – und jetzt wanderten sie nebeneinander über die Dünen.

Und doch – und doch –

War es denn möglich, daß er sich unruhig und unzufrieden fühlte mit den Empfindungen, die ihn erfüllten?

War es möglich, daß die Wonne, die er sich in London auszumalen versucht hatte, hier draußen in Pen'yllan so wonnig nicht war?

Konnte es denn der Fall sein, daß er sie im Grunde noch immer bloß in zärtlich-brüderlicher Weise bewunderte und verehrte, wie er es allezeit gethan – sie von Herzen bewunderte und verehrte als das liebste, hübscheste, wahrhaftigste Mädchen, das er jemals gekannt hatte?

Seit langem, wenn er sich aus der Zeit jener alten Narretei einer gewisser wonnigen Empfindung erinnerte, die ihn durchbebte, wenn ihm erlaubt worden war, ein Stündchen mit dem geliebten Wesen zu verleben, seit langem erinnerte er sich dann auch immer des herben Beigeschmacks der Freude, womit ein einziger Blick aus gewissen großen grausamen dunklen Augen ihn erfüllt hatte; er erinnerte sich, wie der Klang einer mädchenhaften Stimme die Macht besessen hatte, jeden Tropfen Blut in seinen Adern zum Hämmern zu bringen.

Er war so ruhig, wie er je im Leben gewesen war, während er mit Georgy Esmond am Strand entlang wanderte; er konnte dem Blick ihrer hellen Augen begegnen, ohne daß ihn auch nur eine Idee von Zittern oder Beben befiel.

Er hatte nichts als grausame Freude empfunden sogar dann, wenn er ihre weiche Hand beim Gruße faßte.

Würde es denn immer so sein?

Wäre es denn am besten, daß es so sein sollte?

Vielleicht!

Und doch ruhte in den Tiefen seines Herzens ein seltsames Sehnen nach einem Hauch, und wär's ein einziger nur, von jenem alten Delirium – nach einer Empfindung, und wär's eine einzige nur, des alten, bittersüßen Schmerzes.

»Da!« rief Georgy, seinem Traum ein Ende machend – »da steht sie! Dort auf dem Felsen! Sehen Sie das dunkelblaue Band dort flattern?«

Es war seltsam genug, daß ihm das Herz in demselben Augenblick, als seine Augen auf die Stelle fielen, wohin Georgy seine Aufmerksamkeit gelenkt hatte, einen so heftigen Ruck gab, daß er förmlich zusammenfuhr.

Dann war's aber wiederum vielleicht auch nicht zu verwundern, in Anbetracht dessen nämlich, wie vertraut ihm die Scenerie war, die seinen Blicken sich darbot.

Vor Jahren war es ihm zur Gewohnheit geworden, zu diesem selben Orte hin zu kommen und in diesem selben Felseneckchen eine schlanke, zierliche Gestalt stehen zu sehen; eine schlanke Mädchengestalt in einem prall sitzenden blauen Matrosenkleid, von deren Haupt herab eine Wolke herrlichen Haars auf die Taille niederwallte, während dunkelblaue Bänder von einem kleinen modischen Matrosen-Strohhut in die Luft hinaus flatterten.

Und dort stand die nämliche Gestalt in ganz der nämlichen Kleidung und mit ganz dem nämlichen Zubehör, dasselbe üppige Haar wallte nieder auf ihre Taille, dieselben blauen Bänder wallten von dem kleinen Strohhut in die Luft hinaus – Meer und Himmel und Strand waren genau dieselben.

Einen Augenblick lang verhielt er sich so still und schweigsam, daß Georgy, nachdem sie den veränderten Ausdruck seines Gesichts mit jähem Blick umfaßt, neuerdings das Wort an ihn richtete.

»Sehen Sie denn nicht, daß es Lisbeth ist?« rief sie lachend. »Sie verhält sich ja außerordentlich still und ruhig, aber am Leben ist sie trotzdem. In einer Minute werden wir sie erreichen. Mir scheint, sie beobachtet die Möven. Daß wir sie hier finden würden, dachte ich mir schon. Der Ort hier ist ihr Lieblingsplätzchen.«

Lisbeth beobachtete augenscheinlich irgend einen Gegenstand oder befand sich in einer sehr gedankenvollen Stimmung. Sie rührte sich nicht, noch schien sie sich der Annäherung irgend welchen Wesens bewußt zu werden – bis endlich Georgy sie »Lisbeth! Lisbeth!« anrief – dann erst blickte sie sich, zusammenschreckend, um.

»Was!« rief sie. »Ihr beide seid es! Wie habt Ihr mich erschreckt! Ihr kommt ja zum Vorschein wie Gespenster! Und Mr. Anstruthers,« setzte sie hinzu, den jungen Mann, mit raschem Blicke messend – »hat ganz das Aussehen wie ein Gespenst. Er ist so blaß!«

»Ich habe ein Gespenst gesehen,« lautete die Antwort die er gab.

»Das freut mich zu hören,« sagte Lisbeth kühl. »Gespenster machen einen Platz interessant.«

Sie ist so ganz die alte, so ganz im Besitz der Herrschaft über sich, so ganz die Lisbeth Crespigny, wie sie sowohl die Gesellschaft als auch Mrs. Despard kennt, daß sie ihn vollständig aufweckt aus der Art von Betäubung, in die er auf die Dauer eines Momentes gesunken war. Sie streckt ihm die Hand hin zum Händedruck, und gewährt ihm die Gunst eines starren, nicht allzu begeisterten Lächelns.

Sie ist höflich in der Art ihrer Begrüßung und trägt den Pflichten, die sie einem Gaste gegenüber zu haben meint, in schicklicher Weise, so daß sich nichts dawider sagen läßt, Rechnung; aber sie scheint von der Macht ihrer Empfindungen nicht überwältigt zu werden.

»Nehmen Sie Platz,« sagt sie, »und ruhen Sie ein Weilchen aus! Wir haben reichlich Zeit, vor Essenszeit nach Hause zu kommen; und wenn es uns an Zeit hierzu fehlte, so würde das auch nicht viel auf sich haben. Meine Tanten sind gewöhnt daran auf mich zu warten; sie sind zu nett und lieb, als daß sie mich hartherzig an Regeln binden sollten.«

So setzen sie sich zusammen nieder, und dann befindet sich Anstruthers wieder, trotz der krassen Wirklichkeit ihres Wesens und Benehmens, wiederum in einer Traumwelt. Wenn Lisbeth spricht, führt ihre Stimme ihn zurück in die Vergangenheit.

Unbewußt ist sie in eine Haltung verfallen, die ihm so vertraut ist wie die ganze Umgebung: ihre Hände lagen gefaltet auf ihrem Schoße, ihr Antlitz wendete sich hinaus nach der See.

Der Seegeruch liegt in der Luft; der Klang der plätschernden Wogen erfüllt ihm die Ohren.

Die Farbe auf der wie immer hellen, bleichen Wange ist die Farbe, die er immer mit solcher, echt liebhabermäßigen Überschwänglichkeit zu bewundern pflegte – eine rein rosa Farbe, hell und rar.

Sie scheint wieder in ihr Alter von siebenzehn Jahren zurückgetreten zu sein, und er – er ist mit ihr wieder jung geworden – er ist der Jüngling wieder wie damals, zur Zeit der alten Narretei.

Als sie endlich aufstehen, um den Weg zurück nach Hause zu machen, da schwebt er noch immer in diesem Traume, und auf dem ganzen Wege ist er sehr still und schweigsam.

Wie sie zum Gartenthor herantreten, sehen sie Miß Clarissa am Fenster stehen.

Sie sieht ihnen entgegen, ganz so, wie sie es damals in der goldenen Zeit, zum häufigen Ärger Lisbeths, zu thun pflegte.

Und Lisbeth hemmt ihren Schritt am Thore, um eine große rote Rose zu pflücken.

»Die Rosen stehen in Blüte,« sagt sie, »gerade wie damals, als ich mit Mrs. Despard wegreiste. Ich könnte mir fast einreden, als sei ich überhaupt nicht fort gewesen.«

Die sammetblätterige rote Rose saß als sie in Dinertoilette herunterkam, zwanglos in ihrem Haar, und ihr schwerer Duft umschwebte sie.

Sie trug eine ihrer niedlichsten Toiletten, sah so vorzüglich aus wie kaum je vorher und befand sich in vortrefflicher Stimmung.

Demzufolge fanden die drei Misses Tregarthyn die völlige Ruhe ihres Herzens wieder und fühlten sich wieder froh und glücklich.

Es wäre klar und deutlich, dachten sie, daß Miß Esmond recht gehabt hatte, und daß keine Ursache zur Furcht vorlag.

O, so wie an diesem Abend hatte sich das Altjungfern-Terzett noch niemals in ihrem ganzen Leben gefreut! ganz gewiß nicht!

»Einstmals war's Deine Gewohnheit, uns ein paar hübsche Lieder vorzusingen, mein Herzchen,« sagte Miß Clarissa. »Sage mal, besinnst Du Dich noch auf jenes Liedchen, das Hektor so gerne hörte? Es war etwas so recht süßes, handelte vom Trinken, daß man jemand zutrinkt mit den Augen, und daß ihn dann nach keinem Weine mehr verlangt – ich habe den Rest wirklich ganz vergessen.«

Lisbeth, die vor einem Stoß alter, vergilbter Noten saß, blickte Anstruthers an mit einem verbindlichen, hämischen Lächeln.«

»Habe ich das ›Trinke mir, allein mir zu?‹ wirklich gesungen?« rief sie fragend – »und war es ein Lieblingslied von Ihnen. Na, da bin ich doch neugierig, ob das Lied da ist? Wie nett, daß Tante Clarissa uns daran erinnern mußte!«

Sie zog in der nächsten Minute das alte, vergilbte Blatt unter den übrigen Noten hervor, und in ihrem Lächeln ward ein Hauch geistiger Freude deutlich erkennbar. Wie oft sie es vor einigen Jahren so recht aus Herzensgrund verwünscht hatte!

»Ich bin neugierig, ob ich es noch werde singen können,« sagte sie, und getrieben von irgend einem rasenden Dämon, setzte sie sich an das Klavier und sang das Lied vom Anfang bis zum Ende. Aber jetzt hatte sie die letzte Taste angeschlagen, und da, mit einem Male, änderte sich ihre Stimmung. Sie stand auf; ihre Stirn war in leichte Falten gelegt, und sie sah Anstruthers mit keinem Blicke an.

»Bah!« sagte sie – »was ist das für albernes Zeug!« und sie schob das arme, alte verblichene Blatt ungeduldig beiseite.

Anstruthers trat einen Schritt vorwärts und legte die Hand darauf.

»Wollen Sie es mir geben?« fragte er mit verhaltener Kraft in seinem Benehmen, die ganz neu an ihm war.

»Warum?« fragte sie gleichgültig.

»Um einer Schrulle willen,« gab er zur Antwort – »vielleicht fällt's mir einmal ein, es auswendig zu lernen.«

Sie zog die Augenbrauen hoch und zuckte die Achseln, von leichtem Verdruß erfüllt.

»Sie sollen es haben,« erwiderte sie. »Es ist ja keine Sache von Wert.«

»Danke,« sagte er ziemlich satirisch und faltete das Blatt zusammen, um es in die Tasche zu stecken.

Das Leben, das sie in Pen'yllan führten, bot kaum Anlaß zu Aufregungen; aber trotz alledem fanden sie es durchaus nicht unerfreulich, selbst dann nicht, als die ersten acht oder zehn Tage es ihnen zur Gewohnheit gemacht hatten.

Sie unternahmen lange Spaziergänge; sie sonnten sich im Sande; sie ruderten hinaus aufs Meer und lasen sich wechselseitig in Augen und Herzen und studierten einander im geheimen.

Georgy, die sich bald mit Lisbeth, bald mit Anstruthers eingehend beschäftigte, machte die Bemerkung, daß sie mit letzterem bessere Fortschritte machte als mit ersterer. Lisbeth, in deren Gemüt man niemals leicht lesen konnte, war sogar schwerer zu verstehen und zu durchschauen als je. Sie nahm teil an allen Zerstreuungen, die man sich schuf und war immer mit neuen Vorschlägen hierzu bei der Hand; aber ihr Benehmen gegen ihren einstigen Anbeter war ausschließlich höflich und aufmerksam, wie man es einem Gaste gegenüber sein soll, und gab zu irgend welcher Ermutigung nicht die geringste Veranlassung.

Für ihre Freundin war es ein Benehmen von einfach unverständlicher und unergründlicher Art.

»Kann sie sich überhaupt um etwas Kummer machen?« fragte sich Georgy. »Sie sieht nicht darnach aus, als wenn sie je im Leben Herzeleid kennen gelernt hätte – und doch hat sie heute geweint!«

Mit Anstruthers war die Sache anders. Er war nicht im stande, streng bei seinem Verhalten zu beharren, ohne von Zeit zu Zeit einen Stich im Herzen zu fühlen.

Zuerst hielt er sich wohl ziemlich scharf im Zaume und gab den Umständen nach keiner Seite hin Raum, kam auch fast kaum einmal aus der Ruhe.

Dann kamen die Stiche, die er im Herzen fühlte, erst in seltenen Zwischenräumen: gar bald aber fanden sie sich häufiger ein.

Er war schließlich doch nicht so verhärteten Herzens und spürte, daß es weit schwieriger war, seine Unruhe zu verbergen als irgend eine alte, ihm mit jäher Gewalt aufgedrängte Erinnerung.

Solche Erinnerungen fingen an, bittere rebellische Stimmungen mit sich zu bringen, und ein paarmal offenbarten sich solche Stimmungen in bitteren Reden.

Manchmal verhielt er sich schweigsam und in einer halb und halb düsteren, fast unheimlichen Laune. Manchmal wieder war er in geradezu bodenloser Weise lustig und vergnügt.

Immer aber hielt er sich Georgy als eine Art von persönlicher Leibgarde.

Wie auch seine Stimmung gerade war, aus ihrer Gegenwart zog er immer Trost und Linderung. Sie gab ihm ein Bewußtsein von Sicherheit.

Diese kleine, gütige Hand hielt ihn vor mancher Unvorsichtigkeit zurück.

Sicherlich war der Tag im Herannahen, wo er ihr sein Herz erschließen, wo er sie bitten konnte, die gütige jugendliche Hand für immer seine Schützerin sein zu lassen.

Er fühlte manchen Tag eine schmerzliche Versuchung im Herzen, das letzte Wort in diesem Sinne zu sprechen; aber immer gelangte er, bald so bald so, zu dem Endresultat: »Noch nicht! Für jetzt noch nicht!« Aber die zärtliche Bewunderung, die er für sie im Herzen trug, zeigte sich von selbst in so unverhüllter Weise bei jeder Handlung, daß die Misses Tregarthyn ganz entzückt dreinschauten.

»Ich weiß ganz bestimmt, daß zwischen ihnen ein Einvernehmen besteht,« bemerkte Miß Millicent.

Miß Hetty nickte beifällig in behaglicher Stimmung.

»Ach ja, freilich!« sagte sie. »Man kann das leicht sehen. Was denkst denn Du, mein Herzchen?« Diese Frage richtete sich an Lisbeth, die still daneben saß und in einem Buche las.

Lisbeth schlug jäh ihr Buch zu, stand auf und trat zu dem Fenster.

»Was sprecht ihr da?« fragte sie in einer Weise, wie wenn sie eben aus einem Schlafe oder einer tiefen Träumerei aufgewacht wäre – »ich glaube, ich habe nicht recht gehört, was ihr da redetet.«

»Wir sprachen von unseren jungen Freunden im Garten,« sagte Miß Millicent. »Schwester Hetty meint, und stimmt in dieser Meinung mit mir überein, daß Hektor sich sehr für Miß Esmond interessiert.«


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