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Zweites Kapitel. Zusammentreffen mit einer alten Liebe

Sie begab sich hierauf die Treppe hinauf nach ihrem Zimmer: einem behaglichen, üppig ausgestatteten kleinen Räume neben den Zimmern, die Mrs. Despard bewohnte. Ein helles, lustiges Feuer brannte auf dem Roste, und ihr tiefer, zum Schlafen so recht animierender Lehnstuhl war dicht vor das Feuer gerückt. Als sie ihren Hut abgenommen und sich ihres Überwurfs entledigt hatte, trat sie zu diesem Stuhle hin und setzte sich hinein. Dann zog sie den aus Pen'yllan eingetroffenen Brief aus der Tasche und legte ihn auf ihren Schoß und ließ ihn dort liegen, während sie die Hände faltete und sich zurücklehnte, träumerisch in das Feuer starrend und ihren Gedanken nachhängend.

In Wahrheit verhielt es sich so, daß dieser Brief, dieser »artige«, »aller Aufregung bare«, altmodische Brief von Miß Clarissa das weltlich gesinnte, selbstsüchtige Mädchen, das sie nun einmal war, schier um alle ihre Ruhe brachte. Vor drei Jahren würde sie sich nicht viel um seinetwillen gehärmt haben: aber »sich in der Welt umsehen« – ja! diese Welt, die hatte ihr Lektionen gegeben. Sie hatte unter der Führung von Mrs. Despard ein gutes Stück von dieser Welt gesehen. Sie war in ganz wunderbarer Weise herangereift; sie war um ein Dutzend Jahre älter geworden; sie hatte gelernt, besser zu sein, und hatte sich einen klaren Blick angewöhnt – und nun vollzog sich in ihr ein merkwürdiger geistiger Prozeß.

»Wir werden niemals aufhören, meine Teure,« schrieb Miß Tregarthyn, »Deine Abwesenheit zu verspüren. Wirklich! wir sagen manchmal zu einander, daß wir sie mit jedem Tage stärker empfinden; gleichzeitig können wir uns aber der Einsicht nicht erwehren, daß unser Leben nicht dem Leben entspricht, das ein so jugendliches und mit so großem Liebreiz ausgestattetes Wesen zu führen berechtigt ist. Es war kein Leben, das unserm armen alten Philipp genehm war, und wie konnte es seiner Tochter genehm erscheinen? Und wenn wir mit einem kleinen Opfer unsere teure Lisbeth glücklich machen können, sollten wir dann nicht mehr als gewillt sein, uns zu diesem Opfer zu bequemen? Wir sind so stolz auf Dich, mein Schatz! und daß Du Dich selbst freust und glücklich schätzest, und soviel Verehrung und Bewunderung einheimsest, entzückt uns so sehr zu vernehmen, daß wir alles andere vergessen, wenn wir einen Brief von Dir empfangen. Meinst Du, daß Du im Sommer eine Woche für uns erübrigen kannst? Wenn Du's kannst, dann wird es uns herzlich freuen, Dich zu sehen, das weißt Du, und wenn es auch nur auf eine kurze Spanne Zeit möglich werden sollte,« u. s. w., u. s. w., etwa ein halbes Dutzend Seiten lang.

Und dieser Brief lag nun, wie wir gesagt haben, auf Lisbeths Schoß, während sie verstimmt und launisch über seinen Inhalt grübelte.

»Ich kann nicht einsehen,« sagte sie schließlich, »kann nicht einsehen, was bloß an mir ist, daß sich die Menschen so um mich haben.«

Eine Flechte ihres Haares, die sich gelöst hatte, fiel ihr über Schulter und Busen herab, und sie griff nach dieser weichen und dichten schwarzen Masse und fing an, sie mit einer närrischen Art von halb und halb rachsüchtiger Energie um ihr schlankes Handgelenk zu schlingen. »Wo steckt denn dieser Zauber in mir?« fragte sie, wie man hätte meinen können, das Feuer. »An meiner persönlichen Liebenswürdigkeit liegt es doch nicht, an meinen ›seltsamen schönen Augen und meiner seltsamen weichen Stimme‹, wie Mrs. Despard sich ausdrückt, liegt es doch auch nicht, daß mich diese drei alten Tanten lieben und sich zu meinen Füßen strecken. Wenn sie noch Männer wären,« redete sie voll Verachtung weiter, »dann könnte man's verstehen. Aber Frauen!? Ist's deshalb, weil sie um soviel besser find als ich bin, daß sie nicht anders können, als ein Wesen mit ihrer Liebe bedenken – und wenn auch ich es bin? Ja, ja! Das ist's!« sagte sie trotzig. »Ja, ja! Das ist's!«

Sie war ärgerlich, und all ihr Ärger richtete sich wider sie selbst oder zum mindesten wider das Schicksal, das sie zu dem, was sie war, gemacht hatte. Lisbeth kannte sich selbst besser, als die Menschen sie kannten. Es war ein Schicksal, sprach sie bei sich. Sie war so geboren worden, ihr kaltes Blut und ihre Unnahbarkeit hatte sie mit auf die Welt bekommen, und daran war nun einmal nichts zu ändern. Aber sie verwahrte und wehrte sich niemals dagegen, wenn andere sie dessen ziehen; sie würde alles andere eher gethan haben als das. Bloß gegen ihre eigenen heimlichen, unruhigen, inneren Anschuldigungen hielt sie es der Mühe wert, sich zu verwahren. Es war charakteristisch von ihr, daß sie den Meinungen anderer trotzig die Stirne bot und unter dem Druck ihrer eigenen sich rebellisch aufbäumte.

Was Lisbeth Crespigny insgeheim von Lisbeth Crespigny dachte, das mußte sein Gewicht, seine Bedeutung haben.

Zuletzt erinnerte sie sich des Kleides, das auf dem Bett lag – des Kleides, das Lecomte eben nach Hause gesandt hatte. Sie hatte eine leidenschaftliche Vorliebe für Roben, besonders für einen gewissen fesselnden, dabei doch künstlerischen Schnitt, und zwar wegen ihres ungewöhnlich wirksamen Gesichts und ihrer nicht minder wirksamen Gestalt. Sie wendete sich nun zu dieser neuen Robe, gewissermaßen, um bei ihr Zuflucht vor sich selbst zu finden.

»Ich darf sie doch jetzt ganz ungeniert anziehen,« sagte sie. »Es ist jetzt sieben Uhr, und wenn man sich zu so etwas reichlich Zeit läßt, so ist das doch gewiß kein Schade.«

Sie stand auf und machte sich mit Muße an ihre Toilette. Sie fand es ganz und gar nicht unangenehm, sich selbst zuzusehen, wie sie sich nach und nach aus ihrer Hülle entpuppte. Sie fand sogar ein ziemlich energisches Vergnügen daran, in dem strahlenden Licht vor dem Spiegel zu stehen, langmütig mit den weichen, wolkengleichen Massen ihres Haares hantierend, bis sie dasselbe in irgend eine neuartige, anmutige, phantastische Form gedreht und geflochten hatte. Und doch entsprang diese Regung kaum einer Eitelkeit dieses Charakters, wie sie anderen Frauen zu eigen ist.

Als sie angekleidet war, begab sie sich nach dem Wohnzimmer hinunter. Sie wußte, daß sie brillant aussah, ohne daß es ihr gesagt worden war. Das blaßgraue Gewebe – blaß wie ein grauer Nebel über dem Meere – die purpurnen Stiefmütterchen mit dem goldenen Herzen, mit denen es schwach übersäet war und die sie sich ins Haar und an den Busen gesteckt hatte und in den Händen hielt, übten eine Wirkung so unbedingt seltsamen Charakters, wie ihr nichts besser zu Gesicht stehen konnte. Ihre Augen desgleichen, diese fremdartigen, weichen, tiefen, geheimnisvollen Augen unter ihren hängenden, kräftigen, dunklen Wimpern – nun: Lisbeth Crespignys und keines anderen Geschöpfes Augen!

»Auf den ersten Blick möchte ich sagen, wer die Zeichnung zu dieser Robe gemacht hat,« tief Mrs. Despard – »Lecomte nicht – Sie selbst sind's gewesen – man erkennt Sie selbst aus jeder Falte und jeder Farbe!«

Lisbeth hatte gelächelt – und während sie die ganze Länge des Raumes herniedersah, wo sie stand und an dessen Ende ein Spiegel ihre Gestalt zurückwarf, da schlug sie ihren Fächer, einen vergoldeten Fächer, der dick mit ihren purpurnen Stiefmütterchen bestreut war, auseinander: aber sie sagte kein einziges Wort darauf.

Eine Glasthür in dem Wohnzimmer führte nach einem Musikzimmer, das von Licht und Blumen förmlich erglühte, und in diesem Musikzimmer stand sie eine halbe Stunde später, als die ersten Gäste sich einfanden. Die Thür, eine Flügelthür, stand weit offen, und sie neigte sich, mitten zwischen Blumen-Rabatten und Blumenständern, über eine Vase voll Heliotropen und sang leise ein Verschen vor sich hin:

»Duft kann die Rose einen Tag nur spenden,
Es muß im Mai der schönste Frühling enden,
Bei Dir und mir hat's damit sein Bewenden.
Ade! Ade! Ade!«

Sie sang es eben etwas lauter – und hielt jäh inne. Eine von den beiden Personen, die eingetreten waren, sprach mit Mrs. Despard. Sie konnte das Gesicht der Person nicht sehen, weil eine hohe Lilie mit mächtigen Tropenblättern sich zwischen ihr und der Person befand. Aber die Stimme berührte sie unangenehm.

»Wer ist dieser Mann?« sprach sie bei sich selbst. »Wer ist dieser Mann?« Und dann ließ sie, ohne einen weiteren Augenblick zu verziehen, die Heliotrope im Stich und schritt auf die Glasthür zu.

Mrs. Despard sah sie zuerst, wie sie dastand, gleichsam an den Boden gewurzelt.

»Ach, Lisbeth,« sagte sie und dann drehte sie sich mit schwachem Lächeln nach dem Herrn herum, der ihr zunächst stand. »Da ist ein alter Freund,« setzte sie hinzu, als Lisbeth einen Schritt vortrat – »Sie sind Herrn Lyon für das Vergnügen, Herrn Anstruthers wieder zu sehen, zu tiefem Dank verpflichtet.«

Lisbeth trat vorwärts. Sie hatte die Empfindung, als wenn sie in unmittelbarer Gefahr stünde, ihrer guten Laune verlustig zu gehen.

Was machte Hektor Anstruthers denn hier? Was wollte er? War er hirnverbrannt genug, mit irgendwelcher verschrobenen Phantasie hierher zu kommen, daß er – daß er etwa imstande sei – aber ihr von Zorn diktiertes Zaudern führte sie nicht weiter als bis hierher. Der junge Mann trat ihr tatsächlich auf halbem Wege entgegen mit der größten Selbstbeherrschung, die sich irgend vorstellen läßt.

»Das ist ein unvermutetes Vergnügen,« sagte er, ihr frei und offen seine Hand hinhaltend. »Ich hatte keine Ahnung, als Lyon mich zu seinem Freunde führte, daß ich Sie hier finden würde.«

Alles dies wurde in einem Tone gesprochen so mild und ungezwungen, als wenn er das Wort an irgend welches andere Weib auf Erden richtete; als wenn jene kleine Affaire von vor ein paar Jahren in viel zu großem Maße Bagatelle wäre, als daß sie der Erinnerung irgendwie wert sei; als wenn seine Knabenpassion und alles Elend, alles Weh, das mit ihr im Zusammenhang gestanden, gänzlich aus seinem Geiste gewichen sei.

Mrs. Despard lächelte wieder und blickte ihre jugendliche Freundin scharf an.

Wenn aber auch Lisbeth zusammengeschreckt und durch die allzu sichtbare Wandlung betroffen war, so war sie doch zu gescheit, sich selbst zu gefährden oder etwas vorzumachen.

Sie war eine junge Person von scharfem Verstände, die ihre Zunge und ihre Empfindungen scharf in Kontrolle zu halten verstand.

Sie streckte ihm ihre Hand entgegen mit einem ihr eigenen Lächeln – einem langsamen, wohlerzogenen, nicht sonderlich ausdrucksamen Lächeln, einem Lächeln, das nichts weniger als überschwenglich war.

»Entzückt, ganz ohne Frage entzückt,« sagte sie. »Ich habe einen Brief von Tante Clarissa gelesen – er hat mich natürlicherweise vorbereitet, doppelt erfreut zu sein über den Anblick eines ihrer bevorzugten Lieblinge.«

Hierauf nahm die Unterhaltung einen allgemeinen Charakter an. Anstruthers wußte es irgendwie einzurichten, daß er die Führung des Gesprächs in die Hand bekam.

Lisbeth schlug die Augen auf. War das der junge Mensch, den sie in Pen'yllan beim Mondschein den Rücken gewandt hatte? Der junge Einfaltspinsel, der auf dem Sande vor ihr auf den Knieen gelegen hatte, seiner poetischen Ader Luft machend, der sie verehrt und angebetet und sich zu ihrem dankerfüllten Sklaven gemacht hatte? Der stürmische, beschwerliche Bursche, der rot geworden bis hinter die Ohren, der gerast und geseufzt und es zuletzt soweit gebracht hatte, daß er ihr so vollständig zuwider wurde?

Drei Jahre hatten einen Unterschied bewirkt. Hier stand ein stolzer junger Machthaber, der sich in geradezu wunderbarer Weise verändert hatte und ganz ohne Frage von wunderbar stattlichem Aussehen war.

Der Schnurrbart, über den sie in seiner knospenden Jugend heimlich Glossen gemacht hatte, war lang, seidig, braun – thatsächlich schön: das schmale, lange Gesicht hatte sich zu dem schönsten Ebenmaß entwickelt: die tadellose Frische der Farbe war verblichen und hatte einer interessanten, sozusagen markanten Blässe Platz gemacht. Nachdem er so lange ein Junge gewesen war, schien er ganz mit einem Mal ein Mann geworden zu sein: und wie er so dastand, im Gespräch begriffen mit Mrs. Despard, und sich von Zeit zu Zeit einmal mit einem Wesen, halb beschützet-, halb gönnerhaft, nach Lisbeth umdrehte, da lieh seine kühne, mit Freimut gepaarte Fröhlichkeit des Wesens ihm thatsächlich Ansehen und Würde.

War es möglich, daß er wußte, was er sagen mußte? Es schien so. Er wurde nicht rot: seine Hände und seine Beine schienen ihm offenbar gar keine Unbequemlichkeit oder Beschwerde zu bereiten. Er plauderte lebhaft und mit der Miene eines Mannes von Welt. Er brachte Mrs. Despard zum Lachen, und in dem, was er sagte, sprühte dann und wann ein recht heller Sarkasmus auf, der aber niemals auch nur im entferntesten gegen die gute Sitte verstieß.

Bah! er war weit älter als sie. Und doch konnte sie ihn, so wenig sich das mit den Thatsachen zu vertragen schien, deshalb kaum irgendwie besser leiden.

»Wie lange,« fragte sie plötzlich Bertie Lyon, »ist Herr Anstruthers in London gewesen?«

Lyon, dieser strahlende junge Geck, fühlte sich fast versucht, sie wie von Sinnen anzugaffen.

»Bitte um Verzeihung!« sagte er. »Fragten Sie, wie lange?«

»Ja.«

Der junge Mann gelangte allmählich wieder zur Fassung. Vielleicht war sie über Anstruthers eben so ununterrichtet, wie sie es überhaupt zu sein schien, und es war keine von ihren »vertrackten, spitzfindigen Redeweisen«. Er war natürlich heute klug und gescheit genug, und Mrs. Despard war eine Dame ganz darnach, daß ein junger Mann immer froh war, wenn er zu ihren Gesellschaften geladen wurde; aber genau zu der Klasse, zu welcher Anstruthers gehörte, und von der er selbst ein leuchtendes Mitglied darstellte, gehörten die beiden Damen denn doch nicht.

»Nun sehen Sie,« sagte er, »er hat den größeren Teil seines Lebens in London zugebracht: aber erst vor drei Jahren hat er angefangen, sich um das, was man Gesellschaft heißt, zu bekümmern. Er ist dann zu seinem Gelde gekommen, als sich der junge Scarsbrook zufällig in Schottland erschoß, und seit jener Zeit hat er ziemlich rapide gelebt,« – was er mit einem harmlosen Glauben an Miß Crespignys Fähigkeit, sogar ein bescheidenes Bröckchen Straßenjargon zu verstehen, sagte – »er ist ein ganz riesig talentierter Kerl, dieser Anstruthers – malt und schreibt und versteht alles anzufassen. Er schreibt Kunstkritiken für den ›Cyniker‹, und die Welt redet über alles, was er macht, umsomehr, weil er's nicht nötig hat, etwas zu machen: und das macht ihn natürlich ganz unheimlich populär.«

Lisbeth lachte – es war ein Lachen von einer ziemlich hinterwäldlerischen Art, wenn es auch immerhin musikalisch zu nennen war.

»Was macht Ihnen denn solchen Spaß?« fragte Lyon. »Doch hoffentlich nicht Anstruthers?«

»O nein!« antwortete die junge Dame. »Nicht dieser Anstruthers hier, sondern ein anderer Kavalier desselben Namens, den ich vor langer Zeit einmal gekannt habe.«

»Vor langer Zeit einmal?« sagte der junge Mann ritterlich, wenn auch nicht mit auffälliger Weisheit. »Wenn es eine lange Zeit her ist, dann müssen Sie, sollte ich meinen, so jung gewesen sein, daß Ihre Bekanntschaft kaum imstande gewesen sein dürfte, irgendwelchen Eindruck auf Sie zu machen, einen spaßigen oder sonst was für einen.«

Denn er war auch eins von den Opfern und hatte demzufolge nichts dawider, selbst eine Äußerung zu thun, die von alberner Höflichkeit war.


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