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Fünfzehntes Kapitel. »Alles was mir war, hab' ich gegeben.«

Lisbeth blickte in den Garten hinaus, wo die beiden zusammen standen, Georgy errötend und lächelnd, so frisch und duftig, wie eine von Miß Clarissas vielen Blumen – Hektor, voll Freude und Behagen sich weidend an ihrer Schönheit und Jugend und mit ihr plaudernd.

»Sich für sie interessieren?« sagte sie zerstreut – »wer interessiert sich denn nicht für sie?«

»Aber weißt Du,« setzte Miß Hetty auseinander – »interessieren meinen wir doch in einem anderen Sinne.«

Sie hatte die Hand auf Lisbeths Schulter gelegt, und jetzt war's ihr, während sie redete, zu Mute, als ob sie einen schwachen Ruck erlitte: aber die Stimme des Mädchens war wieder ganz fest und gemessen, als sie in der anderen Minute weiter redete.

»O!« sagte sie, leise lachend – »ihr meint, er sei verliebt in sie. Ich bezweifle durchaus nicht, daß ihr recht habt, wenn ich auch – auch kaum bis jetzt einen solchen Gedanken gehabt habe. Die Männer verlieben sich ja immer in jemand, und wenn er sich in Georgy verliebt, so gereicht ihm das mir zur Ehre. Ich dachte gar nicht, daß er so guten Geschmack hätte.«

Thatsache war indessen, daß die Idee so halb und halb ein neues Licht war, das in ihrem Geiste aufdämmerte.

Sie war nämlich durchaus nicht so blind gewesen, um nicht an dergleichen zu denken.

Es hatte ihr vielmehr tatsächlich vor Augen geschwebt.

»Du bist ein Schaf gewesen,« war ihre ungeschminkte Rede im Geiste über ihre eigene Thorheit und Blindheit. »Du hast so viel an Dich selbst gedacht, daß Du gar nichts gesehen hast. Hektor Anstruthers ist der Mann, der sie an ihrer schwachen Seite getroffen hat. Sie hatte weder Zweifel an sich noch an ihm, als sie ›nicht so glücklich‹ war. Und dies ist das Ende von der Sache – das Ende. Gut denn!«

Vielleicht fühlte sie sich erleichtert, vielleicht war es ihr tröstlich: denn sie hatte sich niemals unterhaltsamer und zu Ziel und zu Zerstreuung geneigter gezeigt als jetzt, wo sie sich zu dem Paare im Garten gesellte.

Zwielicht herrschte bereits, als sie den Fuß aus dem Hause setzte: und wie sich dann die Dämmerung niedersenkte, weilten sie noch immer im Garten.

Die Luft war warm und balsamisch. Miß Clarissas Blumenbeete hauchten starken Duft; das Flüstern der Wogen am Strande drang bis zu ihnen herüber: der Mond stieg am Himmel herauf, feierlich, achtsam und silberhell.

»Wer möchte wohl gern zurück zur Erde und wieder hinein in die Stuben?« rief Georgy. »Hier ist Arkadien – das schweigsame, duftige, süße Hirtenland. Laß uns hier weilen, Lisbeth!«

So schlenderten sie denn hierhin und dorthin, bis sie müde waren, und dann fanden sie unter einer Hängebirke ein Ruheplätzchen.

Hektor Anstruthers warf sich ins Gras und lag dort, die Hände unter dem Kopfe gefaltet, in voller Länge da, den Blick nach Lisbeth hingerichtet und das Herz erfüllt von neuer Bitterkeit und Unzufriedenheit.

Unzufriedenheit? Ach! und wie unzufrieden er war! Was für eine Bitterkeit! Am Abend erreichte sie ihren Höhepunkt.

War er wirklich ein Mann, oder war er wieder verfallen in Kindheit und jene alte Narretei, über der seine Jugend zum Scheitern gekommen?

Mondschein paßte so recht zu Lisbeth! stand ihr so vorzüglich zu Gesicht!

Er lieh ihrem farblosen Gesicht die Weiße des Lilienblattes und ihren großen Augen neue Tiefe und neuen Schatten.

Sie sah dann immer am schönsten aus, und im gegenwärtigen Augenblick noch schöner denn je, wie es ja Gewohnheit von ihr war, in allen ungelegenen, gefährlichen Momenten immer ihr schönstes Aussehen zu zeigen.

Georgy stand, in stilles Träumen versunken, wider den Stamm der Hängebirke gelehnt und zerstörte dadurch, daß sie die Freundin anredete, die Schmerzen, die, wenn auch nur im Geiste vorhanden, ihm nichtsdestoweniger das Gemüt zerrissen.

»Singe doch, Lisbeth,« sagte sie. »Du siehst ganz so aus, als wenn Du Lust dazu hättest.«

Lisbeth lächelte – es war ein mattes Lächeln, nicht ungleich dem Mondschein.

Sie war in einer Stimmung zu singen: sie war aber auch in einer phantastischen, halb melancholischen Stimmung. Vielleicht war dies der Grund, weshalb sie ein ziemlich melancholisches Lied sang.

Sie schlug die Hände über ihrem Knie zusammen, in jener von ihr so sehr beliebten Weise – der Weise, deren Anstruthers sich so gut erinnerte – und fing zu singen an:

Ach, alles, was mir war, hab' ich gegeben –
Ade! Ade! Ade!
Nun liegt die Liebe nach so kurzem Leben
Bereits im Grabe;
Versunken ist der Schatz, den ich zu heben
Getrachtet habe.
Ade! Ade! Ade!

Wie Deine Augen brennen! Nimm sie fort!
Ade! Ade! Ade!
Auch uns bleibt nicht erspart des Schicksals Tort!
Es naht die Stunde,
Wo nur entschlüpfen wird das eine Wort
Aus beider Munde.
Ade! Ade! Ade!

Das andre liegt bereits im Schoß der Zeiten!
Ade! Ade! Ade!
Die goldnen Tage, die so reißend gleiten
Und nimmer kehren,
Die Tage, die zu hohe Lust bereiten,
Um lang zu währen.
Ade! Ade! Ade!

Ein schöner Lenz wird rasch vorüber sein.
Ade! Ade! Ade!
Die allerschönsten Rosen gehen ein
Nach kurzen Tagen.
Und beide können wir – ergieß Dich drein –
Nur Eines sagen:
Ade! Ade! Ade!

»Ach, Lisbeth!« rief Georgy, als Lisbeth aufhörte. »Was für ein traurig' Lied! So habe ich Dich noch nie zuvor singen hören!«

»Nein,« gab Lisbeth zur Antwort, »ich glaube selbst nicht, das mich irgendwer je zuvor das Lied hat singen hören! Es ist eine Nachahmung eines kurzen deutschen Liedes, das ich irgendwo einmal gehört oder gelesen habe. Ich kann mich wirklich nicht erinnern, wo. Ich kann mich auf nichts besinnen als auf den Refrain »Ade! ade! ade!« und daß mir dieser Refrain lange Zeit hindurch nicht aus dem Sinn kam – und die Worte, die ich eben jetzt gesungen habe, sind diesem Liede entsprungen.«

Anstruthers sagte nichts. Er hatte ihr, während sie sang, in die Augen geblickt und beinah alle Herrschaft über sich verloren – wie es ihm in der jüngsten Zeit oft schon gedroht hatte. Was für eine vollendete Schauspielerin war doch dieses Mädchen!

Das traurige kleine Lied war über Lippen gegangen, so süß und so traurig, als wenn die Worte sowohl als auch die Musik aus einem zarten, geprüften, weichen Herzen geströmt wären. Ein unschuldiges Mägdelein von sechzehn Jahren könnte ein ganz ebensolches Lied in ganz ebensolcher Stimme gesungen haben, wenn sie ihren Liebsten verloren hätte.

Einmal war er thatsächlich durch die Einbildung erschreckt worden, daß die großen, weichen, dunklen Augen voll von Thränen gewesen seien!

Er war vorher ziemlich ruhigen Gemüts gewesen, aber nachdem das Lied verklungen war, sprach er kein Sterbenswort mehr, sondern lag still und schweigsam im Grase, bis sie den Rückweg nach Hause antraten.

Georgy stand zuerst auf, und nach ihr Lisbeth. Zuletzt er selbst. Aber Georgy ließ sie, indem sie vor ihnen entlang ging, einen Augenblick zusammen allein, und als sie über die Grasfläche schritten, blieb Lisbeth stehen, bückte sich über ein Lilienbeet, um eine geschlossene weiße Knospe zu pflücken, und sang in leisem Tone, wie halb sich ihrer selbst nicht bewußt, den letzten Vers:

Ein schöner Lenz wird rasch vorüber sein,
Ade! Ade! Ade!
Die allerschönsten Rosen gehen ein
Nach kurzen Tagen.
Und beide können wir – ergieb Dich drein –
Nur Eines sagen:
Ade! Ade! Ade!

Als sie sich aufgerichtet hatte, da sah sie Auge in Auge mit einem Gesichte so blaß und so erregt, daß sie um ein Stück zurückfuhr.

»Ich wünschte, Gott hätte gefügt,« stieß er hervor, »Gott hätte gefügt, daß Sie ein besseres weibliches Geschöpf wären!«

Sie blickte zu ihm auf, eine Sekunde lang, mit einem kalten und fremden und bitteren Lächeln.

»Ich wünschte selbst, Gott hätte das gefügt!« sagte sie, und ohne ein weiteres Wort, drehte sie sich von ihm fort und ging weiter, die geschlossenen Lilien, die sie in der Hand trug, auf das tauige Gras hin werfend.

Als sie am folgenden Tage über die Wiese hin wanderten, lagen die Lilien dort, und ihre wachsfarbenen Blumenblätter bräunten und welkten in der heißen Sonne. Georgy blieb stehen und hob eine auf.

»Wie schade!« sagte sie; »Heute würden sie so schön gewesen sein! Ich möchte wohl wissen, wer sie gepflückt hat.«

Lisbeth bedachte die arme kleine braune Knospe mit einem wunderlichen Lächeln.

»Ich habe sie gepflückt,« sagte sie. »Es scheint recht kläglich – fast grausam; nicht? Aber so machen's die Menschen nun einmal immer! Zuerst pflücken sie die Blumen und nachher haben sie Mitleid mit ihnen.« Dann streckte sie die Hand aus. »Gieb sie mit,« sagte sie; und als Georgy ihr das welke Ding reichte, nahm sie es noch immer mit jenem halben, verwunderlichen Lächeln. »Ja,« sagte sie; »heute hätte sie sehr süß sein können. Es war nutzlose Grausamkeit, sie so früh zu töten. Nun wird sie niemals eine Blume werden. Du siehst, meine liebe, herzige Georgy,« setzte sie trocken hinzu – »wie leid thut's mir um meine Knospe – nachher! Laß Dir's von mir aus zur Lehre dienen, Georgy, und pflücke niemals Blumen zu früh. Denn morgen können sie ja doch so süß, so zuckersüß sein!«

Sie hatte nicht oft in letzter Zeit in dieser leichten, satirischen Weise gesprochen, aber Georgy machte die Bemerkung, daß sie von jetzt ab in diese Gewohnheit zu verfallen schien. Sie hatte seltsame Launen und war nicht ganz so offen und ehrlich, wie ihre jugendliche Verehrerin sie gern gesehen hätte.

Und etwas berührte auch Georgy so seltsam. Sie machte die Wahrnehmung, daß sie selbst jetzt weit öfter mit Hektor allein war.

Auf den Spaziergängen und Kahnfahrten, die sie zusammen unternahmen, während der kurzen Momente, die sie im Garten verweilten, war's nunmehr Ausnahme statt wie früher Regel, daß Lisbeth sich zu ihnen gesellte.

Wie durch Zufall schien sie es immer zu unterlassen, sich in ihrer Gesellschaft einzufinden: aber es kam schließlich auf dasselbe hinaus.

Georgy sann im Stillen mit großer Beunruhigung über die Sache nach.

Sie fing jetzt wirklich an, die Empfindung zu bekommen, als wenn sich irgend etwas Seltsames zugetragen hätte. War etwa irgend ein neuer Zwist vorgefallen? Hektor war verstimmt und launischer als je vorher oder nachher.

Manchmal sah er so elend und blaß aus, daß sie nicht ganz frei von Furcht war.

Wenn er sprach, war er herb und bitter, und wenn er sich schweigend verhielt, so war sein Schweigen tragischen Charakters.

Aber er war gegen sie noch ebenso nett und lieb, wie er es immer gewesen war.

Ja, er schien sogar noch größere Stücke auf sie zu halten und erpichter daraus zu sein, daß er sich allezeit in ihrer Nähe verhielt.

»Ich bin kein sehr unterhaltender Gesellschafter, meine liebe Georgy,« pflegte er zu sagen, »aber Sie werden nicht allzu hart mit mir ins Gericht gehen, das weiß ich. Sie sind meine Hoffnung und meine Beschützerin, Georgy. Wollten Sie hart mit mir ins Gericht gehen: wer würde es dann etwa nicht wollen?«

Sie wunderte sich oft über seine Art und Weise, daß er von ihr als von seiner Beschützerin sprach.

Ja, er nannte sie nicht bloß seine Beschützerin, sondern zeigte durch seine Art und Weise, daß er zu ihr hinfloh als einer gewissen Zufluchtsstatt.

Als sie zusammen einmal eine Zeitlang stillschweigend gesessen hatten, ergriff er plötzlich ihre Hand und küßte sie leidenschaftlich und verzweiflungsvoll.

»Georgy,« sagte er, »wenn ich eines Tages zu Ihnen käme und Sie bitten würde, mich aus einer großen Gefahr zu erretten, würden Sie sich wohl Bemühen, nach meinem Wunsche zu handeln?«

Sie zog ihre Hand nicht fort, sondern ließ sie in der einen ruhen, während sie ihm Antwort gab mit ruhigem, halb traurigem Lächeln.

»Ich würde niemanden auf Erden, der sich in Gefahr befände, meinen Beistand verweigern – selbst einer Person nicht, die ich nicht leiden könnte,« sagte sie. »Und Sie wissen doch, Hektor, daß wir unser ganzes Leben zusammen Freunde gewesen sind.«

»Aber wenn ich nun eine große Gunst von Ihnen erbitten würde,« beharrte er, »eine große Gunst, deren ich nicht würdig wäre, die aber das einzige wäre, was mich vom Ruine retten könnte?«

»Sie müssen diese Bitte erst an mich richten,« sagte sie – und dann zog sie, wenn sie es auch sehr behutsam und sehr zart that, ihre Hand aus der seinen.


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