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Neunzehntes Kapitel.

An demselben Abend nach Tische – während dieses lieblichen Sommermonats wurde in Neesdale-Park zu einer unfashionabel frühen Stunde zu Mittag gegessen – bestieg Kenelm in Begleitung von Travers und Cecilia eine sanfte, hinter dem Garten liegende Anhöhe, auf welcher sich einige malerische epheubewachsene Ruinen einer alten Abtei befanden und von der aus man die schönste Aussicht auf einen herrlichen Sonnenuntergang und die unten liegende, von einem Bach durchschlängelte Thal- und Waldlandschaft mit fernen Hügeln hatte.

»Ist der Naturgenuß wirklich, wie einige Philosophen behaupten, eine erworbene Gabe?« fragte Kenelm. »Ist es wahr, daß kleine Kinder und rohe Wilde keinen Sinn dafür haben, daß das Auge erzogen sein 122 muß, um die Reize der Natur zu verstehen, und daß das Auge nur durch den Geist erzogen werden kann?«

»Ich glaube, Ihre Philosophen haben Recht«, sagte Travers. »In meiner Schulzeit fand ich keine Landschaft so schön wie einen flachen Cricketrasen; als ich in Melton zu jagen pflegte, schien mir diese unmalerische Gegend schöner als Devonshire. Erst seit wenigen Jahren finde ich ein bewußtes, von angelernten Vorstellungen unabhängiges Vergnügen an Landschaften um ihrer selbst willen, ohne Rücksicht auf den Nutzen, den sie uns verschaffen.«

»Und was sagen Sie, Fräulein Travers?«

»Ich weiß kaum, was ich sagen soll«, antwortete Cecilia nachdenklich. »Ich kann mich keiner Zeit erinnern, wo ich nicht mit Entzücken betrachtete, was mir landschaftlich schön schien, aber ich fürchte, ich hatte eine sehr schwache Vorstellung von dem Unterschiede einer Art von Schönheit von einer andern. Eine gewöhnliche Wiese mit Gänseblümchen und Butterblumen erschien mir damals schön und ich zweifle, ob ich Sinn für die größere Schönheit einer weiten Landschaft hätte.«

»Es ist wahr«, sagte Kenelm, »in früher Jugend richten wir den Blick nicht auf das entfernter Liegende. Wie der Geist, so das Auge. In früher Kindheit tummelt sich der Geist vergnüglich in der Gegenwart und 123 das Auge erfreut sich der nächstliegenden Dinge am meisten. Ich glaube nicht, daß wir in der Kindheit

Den Sonnenuntergang mit Sehnen uns beschaun.«

»O welch eine Welt von Gedanken liegt in dem Worte Sehnen!« murmelte Cecilia vor sich hin, während ihr Blick sich auf den westlichen Himmel heftete, nach welchem Kenelm, als er sprach, hingedeutet hatte und wo die halbe Scheibe der im Untergehen größer erscheinenden Sonne am Rande des Horizonts zu ruhen schien.

Sie hatte sich auf ein Stück der Ruine vor einen zertrümmerten Bogen gesetzt. Die letzten Strahlen der Sonne spielten noch einen Augenblick auf ihrem jugendlichen Gesicht und verloren sich dann in dem Dunkel der hinter ihr liegenden Bogenöffnung. Während die Sonne versank, herrschte ein minutenlanges Schweigen. Rosige Wolken umfluteten in dünnen Flocken noch einen Augenblick verbleichend den Horizont und der Abendstern drängte sich hervor, hell und einsam, nein, nicht einsam, diese Himmelswache hatte eine ganze Schaar geweckt.

Plötzlich ließ sich eine Stimme vernehmen. »Noch keine Spur von Regen, Herr! Was soll aus den Rüben werden?«

»Da haben wir wieder das reale Leben. Wer 124 kann ihm entgehen?« murmelte Kenelm, als sein Blick der wohlbeleibten Gestalt des Verwalters begegnete.

»Heda, North!« rief Travers. »Was bringt Sie her? Hoffentlich keine schlimme Nachricht?«

»Ja doch, Herr. Der Durhamer Stier –«

»Der Durhamer Stier! Was ist mit dem? Sie erschrecken mich.«

»Er hat einen schlimmen Anfall von Kolik!«

»Entschuldigen Sie mich, Chillingly«, rief Travers, »ich muß fort. Ein höchst werthvolles Thier, dessen ärztliche Behandlung ich Niemand anders anvertrauen darf als mir selbst.«

»Das ist gewiß wahr!« sagte der Verwalter im Ton bewundernder Anerkennung. »Es gibt keinen Thierarzt in der Grafschaft, der es mit dem Squire aufnehmen könnte.«

Travers war schon fort und der Verwalter hatte Mühe, ihm keuchend nachzukommen.

Kenelm setzte sich neben Cecilia auf das Fragment der Ruine.

»Wie ich Ihren Vater beneide«, sagte er.

»Warum muß Papa grade jetzt fort? Weil er den Stier zu kuriren versteht?« fragte Cecilia mit einem anmuthigen leisen Lachen.

»Nun, das ist es eben, was ich beneide. Es ist 125 ein Vergnügen, ein Geschöpf Gottes, und wäre es auch nur ein Durhamer Stier, von Schmerzen befreien zu können.«

»Das ist wahr. Und ich habe Ihren Verweis verdient.«

»Im Gegentheil, Sie haben Lob verdient. Ihre Frage gab mir statt des egoistischen Gefühls, das mich beherrschte, ein liebenswürdiges Gefühl an die Hand. Ich beneidete Ihren Vater, weil er sich selbst so viele Gegenstände des Interesses schafft und, während er den rein sinnlichen Genuß einer Landschaft und eines Sonnenuntergangs zu schätzen weiß, zugleich eine geistige Erregung in der Beschäftigung mit Rübenernten und Stieren findet. Glücklich, mein Fräulein, ist der praktische Mann!«

»Ich bin überzeugt, daß mein lieber Vater, als er so jung wie Sie war, Herr Chillingly, nicht mehr Interesse an Rüben und Stieren nahm, als Sie es thun. Ich zweifle nicht, daß Sie eines Tages in dieser Beziehung ebenso praktisch sein werden wie er.«

»Glauben Sie das aufrichtig?«

Cecilia antwortete nicht.

Kenelm wiederholte seine Frage.

»Gewiß, aufrichtig. Ich weiß nicht, ob Sie genau an denselben Dingen, die meinen Vater interessiren, 126 Interesse nehmen werden. Aber es gibt außer Rüben und Vieh noch andere Dinge, welche zu dem, was Sie das praktische Leben nennen, gehören, und an diesen werden Sie Interesse nehmen, wie Sie es an dem Geschick von Will Somers und Jessie Wiles genommen haben.«

»Das war kein praktisches Interesse. Es hat mir nichts eingebracht. Aber selbst wenn es ein praktisches Interesse gewesen, ich meine, wenn es productiv gewesen wäre, wie Vieh und Rüben, so ist doch nicht auf eine Aufeinanderfolge von Menschen wie Will Somers und Jessie Wiles zu rechnen. Die Geschichte wiederholt sich nie.«

»Darf ich Ihnen in aller Demuth antworten?«

»Fräulein Travers, der weiseste Mann, der je gelebt hat, war doch nicht weise genug, um die Frauen zu kennen; aber ich glaube, die meisten Männer von durchschnittlicher Weisheit werden darin übereinstimmen, daß Frauen keineswegs demüthige Geschöpfe sind und daß sie, wenn sie sagen, sie wollen in aller Demuth antworten, nicht meinen, was sie sagen. Erlauben Sie mir, Sie zu bitten, mir sehr hochmüthig zu antworten.«

Cecilia lachte und erröthete. Ihr Lachen klang wie Musik. Ihr Erröthen war – was war es? Ich 127 möchte den Mann sehen, der, wenn er bei sternenhellem Dämmerlicht neben einem Mädchen wie Cecilia sitzt, für ein solches Erröthen die rechte Bezeichnung fände. Ich verzichte darauf, das richtige Epitheton zu finden. Sie antwortete mit anmuthiger, aber fester Stimme:

»Gibt es nicht sehr praktische Dinge, welche das Glück nicht eines einzelnen oder weniger Individuen, sondern vieler Tausender berühren, an welchen ein Mann wie Sie unfehlbar Interesse nehmen muß, auch wenn er noch lange nicht das Alter meines Vaters erreicht hat?«

»Verzeihen Sie mir. Sie antworten nicht, Sie fragen. Ich folge Ihrem Beispiel und frage: Was sind denn das für Dinge, für die ein Mann wie ich sich interessiren muß?«

Cecilia nahm sich zusammen, wie von dem Wunsche getrieben, in wenigen Worten viel zu sagen, und erwiderte dann: »Die Literatur als Ausdruck des Gedankens, die Politik als Eingreifen in das handelnde Leben.«

Kenelm Chillingly starrte Cecilia wie sprachlos an. Der größte Enthusiast für Frauenrechte hätte, glaube ich, nicht höher von der Begabung der Frauen denken können, als Kenelm es that. Der Lakonismus aber gehörte zu den Dingen, von denen er immer geglaubt hatte, daß sie den Frauen unerreichbar seien. 128 Keine Frau, pflegte er zu sagen, hat jemals ein Axiom oder ein Sprichwort erfunden.

»Fräulein Travers«, sagte er endlich, »bevor wir unsere Unterhaltung fortsetzen, haben Sie die Gewogenheit, mir zu sagen, ob Ihre sehr präcise Antwort ihren Ursprung einer augenblicklichen Eingebung verdankt, oder ob Sie dieselbe etwa einem Buche entlehnt haben, das ich zufällig keine Gelegenheit gehabt habe zu lesen?«

Cecilia dachte rechtschaffen nach und sagte dann: »Ich glaube nicht, daß ich es irgendwo gelesen habe; aber ich verdanke so viele meiner Gedanken Frau Campion und sie hat so viel in der Gesellschaft gescheidter Männer gelebt, daß –«

»Ich begreife vollkommen. Und ich acceptire Ihre Begriffsbestimmung, gleichviel auf wen ihr Ursprung zurückzuführen ist. Sie glauben, ich könnte ein Schriftsteller oder Politiker werden. Haben Sie je einen die treibende Kraft betitelten Essay gelesen?«

»Nein.«

»Der Zweck dieses Essays ist, nachzuweisen, daß ohne treibende Kraft ein noch so gebildeter und begabter Mann nichts Praktisches auszurichten vermag. Die Haupttriebfedern der treibenden Kraft aber sind: Mangel und Ehrgeiz. Und diese Triebfedern fehlen in 129 meinem Mechanismus. Infolge meiner zufälligen Geburt brauche ich nicht auf die Erlangung von Brod und Käse bedacht zu sein und infolge meines Temperaments und meiner philosophischen Bildung mache ich mir nichts aus Lob oder Tadel. Glauben Sie nun aber aufrichtig, daß ein Mann ohne das Bedürfniß von Brod und Käse und mit der verstocktesten Gleichgültigkeit gegen Lob oder Tadel irgend etwas Praktisches in der Literatur oder in der Politik leisten könnte? Fragen Sie Frau Campion.«

»Ich werde sie nicht fragen. Rechnen Sie das Pflichtgefühl für nichts?«

»Ach, unter Pflicht verstehen wir so verschiedene Dinge! An der Erfüllung dessen, was wir gewöhnlich unter Pflicht verstehen, werde ich es, glaube ich, so wenig wie andere Männer fehlen lassen. Was aber die gehörige Entwickelung alles Guten, was in uns liegt, anlangt, glauben Sie, daß wir da verpflichtet wären, einen Weg einzuschlagen, gegen den sich unser innerstes Herz empört? Können Sie zum Schreiber sagen: Sei ein Dichter! und können Sie zum Dichter sagen: Sei ein Schreiber? Es kann ebenso wenig zum Glück eines Menschen führen, ihn zu zwingen, eine Laufbahn zu verfolgen, wenn sein ganzes Herz an der Verfolgung einer andern hängt, wie es zu 130 seinem Glücke führen kann, ihn zu zwingen, ein Mädchen zu heirathen, wenn sein Herz sich einem andern Mädchen zugewandt hat.«

Diese Worte berührten Cecilia peinlich und sie blickte weg. Kenelm hatte mehr Takt, das heißt ein feineres Gefühl dafür, wenn ein Gegenstand besser unberührt blieb, als die meisten Männer in seinem Alter; daneben aber hatte er die unglückliche Gewohnheit, die Person, mit der er sich grade unterhielt, zu vergessen und mit sich selbst zu reden. Er hatte George Belvoir in diesem Augenblick völlig vergessen und sprach mit sich selbst. Ohne die Wirkung zu bemerken, die sein zur Unzeit aufgestelltes Dogma auf Cecilia hervorgebracht hatte, fuhr er fort: »Glück ist ein Wort, das von uns allen leicht ausgesprochen wird. Es kann wenig und es kann viel bedeuten. Ich würde unter dem Worte Glück nicht die augenblickliche Freude eines Kindes, dem man ein Spielzeug schenkt, sondern die dauernde Harmonie zwischen unsern Neigungen und unsern Zwecken verstehen. Und ohne diese Harmonie sind wir im Zwiespalt mit uns selbst, sind wir incomplete, verfehlte Existenzen. Und doch gibt es eine Menge Leute, die uns sagen: Es ist Pflicht, mit sich selbst im Zwiespalt zu leben. Ich aber leugne das.«

Bei diesen Worten stand Cecilia auf und sagte 131 mit leiser Stimme. »Es wird spät, wir müssen nach Hause gehen.«

Sie stiegen die grüne Anhöhe anfänglich schweigend und langsam hinab. Die Fledermäuse, die aus den epheunmrankten Ruinen aufflogen, schwirrten um sie her und jagten die Insekten. Ein Nachtfalter, der seinem Verfolger entkommen war, flog Cecilia, wie um sich zu flüchten, auf die Brust.

»Die Fledermäuse sind praktisch«, sagte Kenelm. »Sie sind hungrig und ihre treibende Kraft ist heute Abend sehr stark. Ihr Interesse ist ganz auf die Insekten, die sie jagen, concentrirt. Sie haben kein Interesse an den Sternen, aber die Sterne locken den Nachtfalter.«

Cecilia zog ihren leichten Shawl über dem Nachtfalter zusammen, damit er nicht wegfliegen und eine Beute der Fledermäuse werden könne. »Und doch« sagte sie, »ist auch der Nachtfalter praktisch.«

»Ja, eben jetzt, da er ein Asyl vor der Gefahr gefunden hat, die ihn in seinem Fluge zu den Sternen bedrohte.«

Cecilia fühlte ihr Herz, auf welchem der Schmetterling verborgen lag, klopfen. Glaubte sie, es liege in diesen Worten eine tiefere und zärtlichere Bedeutung, als sie äußerlich ausdrückten? Wenn sie das that, so 132 irrte sie. Sie näherten sich jetzt der Gartenpforte und Kenelm hielt inne, während er dieselbe öffnete. »Sehen Sie«, sagte er, »der Mond ist eben über jenen dunkeln Tannen aufgegangen und macht die stille Nacht noch stiller. Ist es nicht sonderbar, daß uns Sterblichen, die wir in beständiger Aufregung, in Tumult und Kampf wie in unserem natürlichen Elemente leben, daß uns bei den dem wirklichen Leben ganz entgegengesetzten Bildern, ich meine bei Bildern der Ruhe, ein Gefühl der Heiligkeit überkommt? Ich habe in diesem Augenblick, wo Himmel und Erde plötzlich noch ruhiger geworden sind, die Empfindung, als ob ich plötzlich besser geworden wäre. Ich bin mir jetzt einer reineren und ansprechenderen moralischen Anschauung bewußt, als sowohl ich wie Sie dem von Ihnen geschützten Nachtfalter abzugewinnen wußten. Ich muß mich der Worte eines Dichters bedienen, um meinem Gedanken Ausdruck zu geben:

Das Verlangen des Falters zum Stern,
Das der Nacht zu dem Morgen,
Ist Hingabe an etwas, das fern,
Aus der Sphäre der Sorgen.

O dieses Etwas, das fern, das nie auf dieser Erde erreicht werden kann, nie, nie!«

Es lag ein solches Weh in diesem Aufschrei, der 133 sich Kenelm's Brust entrang, daß Cecilia dem Antriebe eines göttlichen Mitleids nicht widerstehen konnte. Sie legte ihre Hand auf die seinige und blickte zu seinem milden, dunkeln, aufwärts gerichteten Antlitz mit Augen auf, die vom Himmel zu einem reichen Trost für bekümmerte Menschen bestimmt zu sein schienen. Bei der leichten Berührung dieser Hand fuhr Kenelm zusammen, blickte nieder und begegnete ihren besänftigenden Blicken.

»Ich habe meinen Durham glücklich gerettet«, rief plötzlich Herr Travers von der andern Seite des Gitters her. 134


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