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Zehntes Kapitel.

Das Kind mit dem Blumenball war von dem Gipfel des Hügels verschwunden, die Rosenwolken am Horizont waren verblichen und die Nacht brach ein, als die drei Männer die Stadt betraten. Tom drang in Kenelm, ihn in das Haus seines Onkels zu begleiten, wo er ihm einen herzlichen Empfang und eine gute Aufnahme versprach, aber Kenelm lehnte es ab. Er war der festen Ueberzeugung, daß es für die von ihm erstrebte Wirkung auf Tom's Gemüth besser sei, ihn diesen Abend mit seinen Verwandten allein zu lassen, proponirte aber, sie wollten den nächsten Tag zusammen zubringen, und verabredete mit Tom, ihn am nächsten Morgen bei seinem Onkel abzuholen.

Als Tom sich an der Hausthür seines Onkels von 44 ihnen verabschiedet hatte, sagte Kenelm zum Troubadour: »Sie gehen vermuthlich in ein Hotel – darf ich mich Ihnen anschließen? Wir können zusammen zu Abend essen und ich möchte gern hören, was Sie noch weiter über Poesie und Natur zu sagen haben.«

»Ihr Anerbieten ist mir sehr schmeichelhaft, aber ich habe Freunde in der Stadt, bei denen ich wohne und die mich erwarten. Haben Sie nicht bemerkt, daß ich meinen Anzug verändert habe? Ich bin hier nicht als der wandernde Troubadour bekannt.«

Kenelm warf einen Blick auf die Garderobe des Mannes und bemerkte jetzt erst die Veränderung. Sein Costüm war in seiner Art noch malerisch, aber von der Art, wie es die vornehmsten Herren auf dem Lande tragen; es war ein Knickerbocker-Costüm, sehr sauber, sehr neu und complet bis herab zu den eckigen Schuhen mit ihren Riemen und Schnallen.

»Ich fürchte«, sagte Kenelm ernst, »daß die Veränderung Ihrer Toilette ein Zeichen der Nähe jener hübschen Mädchen ist, von denen Sie bei einer früheren Gelegenheit gesprochen haben. Nach der Darwin'schen Zuchtwahl-Doctrin werden schöngefiederte Vögel von hübschen Weibchen entschieden vorgezogen, nur wissen wir, daß schöngefiederte Vögel sehr selten auch ebenso gute Sänger sind. Es scheint mir unbillig gegen 45 Ihre Nebenbuhler, wenn Sie beide anziehende Eigenschaften in sich vereinigen.«

Der Troubadour lachte. »Im Hause meines Freundes ist nur ein Mädchen, seine Nichte, und diese ist sehr häßlich und erst dreizehn Jahre alt. Aber für mich ist die Gesellschaft von Frauen, gleichviel ob sie häßlich oder hübsch sind, unentbehrlich. Und ich habe mich so lange ohne diese Gesellschaft behelfen müssen und kann Ihnen kaum sagen, wie meine Gedanken den Staub der Reise von sich zu schütteln scheinen, wenn ich mich wieder berührt fühle von der Nähe des –«

»Weiberrocksinteresses«, unterbrach ihn Kenelm. »Nehmen Sie sich in Acht. Mein armer Freund, mit dem Sie mich gefunden haben, ist eine ernste Warnung vor dem Weiberrocksinteresse, von welcher ich zu profitiren hoffe. Er hat einen schweren Kummer durchzumachen, und es hätte zu etwas Schlimmerem als zu Kummer kommen können. Mein Freund wird in dieser Stadt bleiben. Wenn Sie auch hier bleiben, so lassen Sie ihn, bitte, etwas Ihre Gesellschaft genießen. Es würde ihm unaussprechlich gut thun, wenn Sie ihn aus diesem realen Leben in die Gärten des Dichterlandes locken könnten; aber Sie dürfen ihm von Liebe weder singen noch reden.«

»Ich ehre alle Liebenden«, sagte der Troubadour 46 in einem wahrhaft zärtlichen Ton, »und würde gern dazu behülflich sein, Ihren Freund aufzumuntern oder zu trösten, wenn ich könnte; aber mich rufen Verpflichtungen anderswohin und ich muß Luscombe, das ich nur in Geschäften – in Geldgeschäften – besuche, schon übermorgen wieder verlassen.«

»Das muß ich auch. So schenken Sie uns beiden wenigstens morgen einige Stunden.«

»Herzlich gern. Von Mittag bis Sonnenuntergang werde ich als reiner Müßiggänger umherschweifen. Wenn Sie mich beide begleiten wollen, so wird mir das großes Vergnügen machen. Abgemacht! Gut, dann werde ich morgen um zwölf Uhr in Ihrem Hotel bei Ihnen vorsprechen und ich empfehle Ihnen das Hotel da vor uns, das goldene Lamm. Ich habe es wegen seiner höflichen Bedienung und seiner guten Verpflegung rühmen hören.«

Kenelm fühlte, daß er damit seinen Abschied erhielt, und begriff vollkommen, daß der Troubadour ihm die Adresse der Familie, deren Gast er war, nicht nannte, weil er das Geheimniß seines Namens zu bewahren wünschte.

»Noch ein Wort«, sagte Kenelm. »Ihr Wirth oder Ihre Wirthin werden sich, wenn Sie hier wohnen, ohne Zweifel nach Ihrer Schilderung des kleinen 47 Mädchens und ihres Protectors, des alten Mannes, die Adresse des Kindes verschaffen können. Wenn das der Fall ist, so würde ich es gern sehen, wenn sich mein Begleiter mit ihr befreundete. Hier wird das Weiberrocksinteresse wenigstens unschuldiger Natur und ungefährlich sein. Und ich kenne nichts, was ein großes leidenschaftliches Herz, wie das Tom's, das jetzt unter einer furchtbaren Leere leidet, so sicher zu beschäftigen, zu beschwichtigen und auf reine und sanfte Wege zu leiten geeignet wäre, wie ein zärtliches Interesse an einem kleinen Kinde.«

Der Troubadour wechselte die Farbe und fuhr zusammen.

»Herr, sind Sie ein Zauberer, daß Sie mir das sagen?«

»Ich bin kein Zauberer, aber ich schließe aus Ihrer Frage, daß Sie selbst ein kleines Kind haben. Desto besser für Sie, das Kind kann Sie vor vielem Unheil bewahren. Erinnern Sie sich des kleinen Mädchens. Guten Abend!«

Kenelm trat in das goldene Lamm, ließ sich ein Zimmer geben, säuberte sich und beorderte und verzehrte mit seinem gewöhnlichen Eifer sein Abendbrod. Dann verfiel er in jene melancholische Stimmung, die er in so sonderbarer Weise als mit herculischen Constitutionen 48 verbunden betrachtete, raffte sich aber bald wieder auf und schlenderte, um sich von seinen Gedanken abzuziehen, durch die gasbeleuchteten Straßen.

Es war eine große, schöne Stadt, schöner als Tor-Hadham, wegen ihrer Lage in einem von waldigen Hügeln umgebenen und von dem schönen Fluß, den wir früher als Bach kennen gelernt haben, bewässerten Thal, schöner auch, weil sie sich einer herrlichen Kathedrale rühmen konnte, deren Schönheit durch den Reiz der Lage noch erhöht wurde und die von ehrwürdigen alten Häusern, den Wohnungen der Geistlichkeit oder ruheliebender adliger Familien mit mittelalterlichen Neigungen, umgeben war. Die Hauptstraße war gedrängt voll von Vorübergehenden, theils ruhig vom Abendgottesdienst nach Hause zurückkehrenden, theils jüngeren Leuten, die behaglich mit ihrem Schatz oder ihrer Familie lustwandelten oder Arm in Arm miteinander gingen, wie Junggesellen oder ledige Mädchen es zu thun pflegen. Durch diese Straße wanderte Kenelm mit zerstreuten Blicken. Eine Querstraße zur Rechten brachte ihn nach der Kathedrale und ihren Umgebungen. Hier war Alles einsam. Das behagte ihm und er verweilte lange bei der Betrachtung der herrlichen Kirche, die ihre Thürme und Thürmchen zu dem tiefblauen, sternhellen Himmel aufsteigen ließ.

49 Dann schlenderte er nachdenklich weiter, durch ein Labyrinth enger und finsterer Gäßchen, in welchen, obgleich die Läden geschlossen waren, manche Thüren offen standen, in denen Männer der arbeitenden Klasse, ihre Pfeife rauchend, lehnten, während die Frauen schwatzend auf den Treppenstufen saßen und lärmende Kinder in der Gosse spielten oder sich zankten. Das Ganze gewährte nicht gerade ein rosiges und angenehmes Bild englischer Sabbathsruhe. Mit etwas beschleunigten Schritten trat Kenelm in eine breitere Straße, in die ihn unwillkürlich ein helles Licht im Mittelpunkt derselben lockte. Als er sich dem Licht näherte, fand er, daß es von einem Branntweinpalaste ausstrahlte, dessen Mahagonithüren sich bei dem Ein- und Austritt der Gäste fortwährend öffneten und schlossen. Es war nächst der Kathedrale das schönste Gebäude, welches Kenelm auf seinem Wege bisher gesehen hatte. »Die neue Civilisation gegen die alte«, murmelte Kenelm. Während er diese Worte vor sich hinsprach, legte sich eine Hand mit einer Art von schüchterner Unverschämtheit auf seinen Arm. Er blickte herab und sah ein junges Gesicht vor sich, das aber nicht mehr jung aussah; die Züge waren verlebt und hart und das scheinbar frische Roth war kein natürliches.

50 »Bist Du mir gut?« sagte eine heisere Stimme.

»Dir gut?« fragte Kenelm in einem tieftraurigen Ton mit sanftem Blick. »Dir gut! Ach meine arme sterbliche Schwester! Wenn Mitleid Güte ist, wer kann Dich sehen und Dir nicht gut sein?«

Das Mädchen ließ seinen Arm los und er ging weiter. Sie stand einige Augenblicke still und sah ihm nach, bis er ihr aus dem Gesicht gekommen war, dann fuhr sie sich mit der Hand plötzlich über die Augen und fand sich, als sie weiter ging und an dem Branntweinpalast vorüberkam, von einer Hand, die rauher als die ihrige war, festgehalten. Sie schlug die Hand mit leidenschaftlichem Hohn zurück und ging geradeswegs nach Hause. Nach Hause! Ist das das richtige Wort? Arme sterbliche Schwester! 51


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