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Zwölftes Kapitel.

Am nächsten Morgen früh besuchte Kenelm Tom im Hause seines Onkels. Das Innere des Hauses trug das Gepräge der Behaglichkeit und Respectabilität, wie das Haus eines wohlhabenden Besitzers. Der Thierarzt selbst war ein intelligenter und offenbar über die Anforderungen seines Berufes hinaus gebildeter Mann; er war ein kinderloser Wittwer zwischen sechzig und siebzig Jahren, der mit einer unverheiratheten alten Schwester lebte. Sie hielten offenbar viel auf Tom und waren entzückt von der Aussicht, ihn bei sich zu behalten. Tom selbst sah etwas traurig, aber nicht verdrossen aus und sein Gesicht klärte sich bei Kenelm's Anblick wunderbar auf. Dieser Sonderling gab sich in der Unterhaltung mit dem alten Wittwer und der alten Jungfer so angenehm und anderen 60 Menschen so ähnlich wie möglich und verabredete mit Tom beim Abschiede, daß derselbe ihn um ein halb ein Uhr in seinem Hotel abholen und den Tag mit ihm und dem Troubadour zubringen solle. Dann kehrte er nach dem goldenen Lamm zurück und erwartete hier zunächst den Troubadour. Der Jünger der Musen traf pünktlich um zwölf Uhr ein. Sein Gesicht sah weniger heiter und sonnig aus als gewöhnlich. Kenelm machte keine Anspielung auf die Scene, deren Zeuge er gewesen war, und der Troubadour schien nicht zu argwöhnen, daß Kenelm bei derselben zugegen gewesen, oder gar, daß er es gewesen sei, der die warnenden Worte gesprochen habe.

»Ich habe meinen Freund Tom Bowles gebeten, etwas später zu kommen«, sagte Kenelm, »weil ich wünschte, daß Sie ihm nützlich wären, und um Sie in den Stand zu setzen, das zu sein, möchte ich Ihnen vorschlagen, in welcher Weise das geschehen könnte.«

»Bitte, thun Sie das«, erwiderte der Troubadour.

»Sie wissen«, fuhr Kenelm fort, »daß ich kein Dichter bin, und ich hege auch für das Versemachen als reine Geschicklichkeit keine große Verehrung.«

»Ich auch nicht«, bemerkte der Troubadour.

»Aber«, fuhr Kenelm fort, »ich hege eine große Verehrung für die Poesie als ein Priesterthum. Ich 61 empfand diese Verehrung für Sie, als Sie gestern Abend zeichneten und priesterlich sprachen und meinem Herzen, ich hoffe für immer, solange es schlägt, das Bild des Kindes einprägten, wie es auf dem sonnenhellen Hügel stand, hoch über den Wohnungen der Menschen, und seinen Ball mit himmelwärts blickenden Augen himmelwärts warf.«

Die Wangen des Sängers überflog eine tiefe Röthe und seine Lippen bebten; er war empfänglich für Lob, wie es die meisten Sänger sind.

Kenelm hob wieder an: »Ich bin in der Schule des Realismus erzogen und bin unzufrieden mit dem Realismus, weil derselbe als Schule keine Wahrheit enthält. Er enthält nur ein Körnchen Wahrheit und zwar das kälteste und härteste Körnchen der Wahrheit, und der, welcher ein Körnchen von Wahrheit ausspricht und die übrige Wahrheit verschweigt, spricht die Unwahrheit.«

Mit schlauem Lächeln bemerkte der Troubadour: »Spricht vielleicht auch der Kritiker, der zu mir sagt: Besingen Sie das Beefsteak, weil der Appetit auf Nahrung das wirkliche Bedürfniß des täglichen Lebens ist., und singen Sie nicht von Kunst und Ruhm und Liebe, weil der Mensch im täglichen Leben ohne solche Ideen auskommen kann, spricht vielleicht auch dieser Kritiker Unwahrheit?«

62 »Ich danke Ihnen für diesen Verweis, den ich mir schon gefallen lassen muß«, erwiderte Kenelm. »Gewiß hätte ich die Unwahrheit gesprochen, wenn ich es mit meiner Empfehlung wirklich ernst gemeint hätte; und wenn ich es damit nicht ernst gemeint habe, nun –«

»So belogen Sie sich selbst«, unterbrach ihn der Troubadour.

»Sehr wahrscheinlich«, entgegnete Kenelm. »Ich trat meine Reise an, um allem Scheinwesen zu entfliehen, und jetzt fange ich an zu entdecken, daß ich selbst ein Scheinwesen par excellence bin. Aber ich stoße auf Sie, wie ein von seiner Syntax und seinen Zahlen gelangweilter Junge plötzlich auf ein hübsches Gedicht oder ein Bilderbuch stößt und seinen Geist erfrischt fühlt. Ich verdanke Ihnen viel, Sie haben mir unendlich wohl gethan.«

»Wie so denn das?« fragte der Troubadour.

»Sie haben mir gezeigt, wie der Realismus der Natur selbst Farbe und Leben und Seele gewinnt, wenn er von seiner idealen oder poetischen Seite angesehen wird. Es sind nicht gerade die von Ihnen recitirten oder gesungenen Worte, die mir gut thun, aber sie erwecken in mir neue Gedankenreihen, die ich zu verfolgen suche. Der beste Lehrer ist der, welcher mehr errathen läßt, als Lehrsätze aufstellt, und seinen Hörer 63 mit dem Wunsch erfüllt, sich selbst zu belehren. Deshalb freut es mich, welches auch immer der Werth Ihrer Gesänge in kritischen Augen sein möge, mich Ihrer Versicherung zu erinnern, daß Sie gern immer singend die Welt durchwandern würden.«

»Verzeihen Sie, Sie vergessen, daß ich hinzufügte, wenn das Leben immer jung und wenn es immer Sommer wäre.«

»Das vergesse ich nicht. Aber wenn Jugend und Sommer für Sie schwinden, so lassen Sie doch, während Sie Ihres Weges gehen, Jugend und Sommer hinter sich, hinter sich in Herzen, welche reiner Realismus immer alt machen und dahin bringen würde, ihre trägen Schläge unter einem grauen Himmel ohne Sonne und Sterne zu zählen; und darum bitte ich Sie zu erwägen, eine wie herrliche Mission die der Sänger ist, die, ihr Leben mit ihrem Gesang in Einklang zu bringen und ihre Blumen, wie es Ihr Kind thut, mit himmelwärts schaueuden Blicken himmelwärts zu werfen. Denken Sie nur daran, wenn Sie mit meinem bekümmerten Freunde reden, und Sie werden ihm wohl thun, wie Sie mir wohl gethan haben, ohne daß Sie im Stande wären, zu begreifen, wie ein auf der Spur nach der Schönheit Wandelnder, gleich Ihnen, uns auf seinem Wege mit sich führt, sodaß auch wir uns 64 nach der Schönheit umsehen und sie in den wilden Blumen erkennen, für die wir vordem blind waren.«

In diesem Augenblick trat Tom in das kleine sandbestreute Gastzimmer, wo diese Unterhaltung stattgefunden hatte, und die drei Männer brachen auf und schlugen den kürzesten Richtweg von der Stadt in die Felder und Waldungen ein. 65


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