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15. Schlußbetrachtung.

So scharfsinnig und anziehend auch die vorstehende Darstellung und so sehr sie auch dem, nach einer schauerlichen Lösung des Rätsels gelüstenden Leser zusagen mag, so kann ich ihr doch nicht das letzte Wort in dieser Schrift lassen.

Der Verfasser meint, daß der schlaue Einsiedler auch sterbend nur die erste Hälfte des von ihm gespielten Dramas enthüllt habe. Ich glaube, daß er den Vorhang nur geöffnet hat, um durch den sichtbaren Auftritt das Auge des Zuschauers weiter von dem wahren Hergang abzuleiten.

Die Unbekannte in Ingelfingen soll die schöne Agnés Berthelmy gewesen sein, die geraubte Gattin eines französischen Offiziers, die der kühne Entführer ängstlich vor dem rachsüchtigen Gatten verbirgt. Ich frage: wozu diese Entführung? wozu dieses Wagnis, vor dessen Entdeckung, wie es den Anschein hat, die beiden Schuldigen ihr ganzes Leben hindurch zittern mußten? – Der Mann hat ja selbst der Frau ledig sein wollen; er selbst hat auf Scheidung gedrungen; diese muß also wohl auch durch die Konfessionsverhältnisse gestattet gewesen sein, zumal in den neunziger Jahren in der französischen Republik. Die Frau geht auf die Scheidung nur deshalb nicht ein, weil sie auf Versöhnung mit ihrem Manne hofft und eine Pension für ihr Kind verlangt. Aber was in aller Welt kann einer Frau die sich von einem Geliebten ihrem Manne entführen läßt, an der Versöhnung mit diesem gelegen sein? und wie mag sie um eine Pension für ihre Tochter feilschen, wenn der reiche Entführer ihr die Hand bietet? Warum nimmt sie nicht ganz einfach die Scheidung an? Dann hat sie ihre Freiheit und kann ungefährdet mit ihrem Geliebten in die Welt gehen, braucht nicht ihm und sich die Last eines Verbrechens aufzubürden, die zwar der »Epikuräer« vielleicht von dem Gewissen wegphilosophieren kann, aber deren furchtbarer Druck noch wie ein Alp auf seinem ganzen Leben lastet. Der Referent liest in den Briefen die Erwiderung einer tiefen Leidenschaft der Liebe. Aber der schriftliche Ausdruck trügt; er steigert gewöhnlich die Empfindungen des Schreibenden, und nun vollends der galante französische Stil. Kein einziger Ausdruck enthält einen entschiedenen Beweis eines zwischen den Korrespondenten bestehenden, sträflichen Liebesverhältnisses.

Der Referent nimmt an, daß der Entführer auch die Tochter seiner Geliebten in den Bann seines Geheimnisses hineingezogen habe – Das, wenn wirklich die schöne Agnés bei ihm lebte, scheint nur nicht unglaublich; sondern nur darüber wundere ich mich, daß er das Kind nicht Zugleich mit der Mutter zu sich genommen, sondern daß die zärtliche Mutter ihr Kind verlassen, man kann sich nicht denken, wem und mit welchen Subsistenzmitteln hinterlassen hat. Und hat sie fliehend ihr geliebtes Kind verlassen, wer anders wird sich dessen angenommen haben, als der Vater, und dieser soll die Tochter später dein Entführer seiner Frau nachgesendet, oder auch sie sich haben entführen lassen?

Und wenn wirklich der Graf auch die Tochter in seine Einsamkeit zu sich und ihrer Mutter genommen hat, ist es irgend denkbar, daß er sie, deren Schönheit er noch nie gesehen, gleich in der vorbedachten Absicht habe kommen lassen, um seine Agnés gelegentlich abzuthun und ihr die jugendliche Tochter zu substituieren? Hat er deshalb die, seine ganze Reputation bedrohende Gefahr auf sich genommen, daß, neben der schon geheimnisvollen Dame, noch ein zweites eingeschmuggeltes weibliches Wesen bei ihm entdeckt würde? Wollte er die Tochter zu sich nehmen, so konnte er es ohne Verheimlichung ihrer Person thun. Dies war offenbar das Sicherste.

Und war es selbst die entführte Agnés, die er bei sich hatte, und hat er selbst auch die Tochter neben ihr gehütet, so war diese auffallende, mehr verdächtigende, als sichernde Verheimlichung immer nur barer Unsinn. Die würdige Matrone. in deren Haus er in Hildburghausen wohnte, die ehrsamen Bäuerinnen im Dorfe Eishausen würden wahrhaftig nicht dem rachsüchtigen Berthelmy in Frankreich seine Beute verraten haben.

Vollends die Wahrheit der schauerlichen Hypothese angenommen, daß Leonardus Cornelius seine einst geliebte Agnés heimlich begraben und für seine Liebe ihre jugendliche Tochter substituiert habe, ist es dann irgend denkbar, daß er die Briefe, die steten Ankläger während seines Lebens und die Verräter nach seinem Tode, aufbewahrt und sterbend selbst dem Gerichte überliefert haben sollte?

Die Aufbewahrung spricht nur dafür, daß die Briefe ihm vielleicht als eine alte, nicht mehr in sein jetziges Leben greifende Erinnerung, besonders lieb waren, oder daß sie mit seinem Geheimnis nicht in Verbindung standen und in dieser Beziehung ihm ganz unwichtig erschienen. Das Gericht hat diese Umstände wohl erwogen, und der Referent des vorstehenden Aufsatzes gesteht wenigstens dieses zu, daß die entführte Agnés und die im Berggarten begrabene Gräfin nicht ein und dieselbe Person sein können.

Übrigens behauptet die oben mitgeteilte Korrespondenz aus Heidelberg ausdrücklich, daß die Tochter der Agnés Berthelmy, wahrscheinlich noch lebend, in Rheinbayern verheiratet war. Warum hat sich kein Glied der Familien Berthelmy oder Daniels zur Erbschaft in Eishausen gemeldet? Ganz einfach aus dem Grunde, weil sie wissen mußten, daß die Dame im Schlosse weder ihre Agnés noch deren Tochter sein könne, da beide ihnen nie verloren gegangen waren.

Übrigens möchten wir in dem Charakter des Grafen selbst den gewichtigsten Grund gegen die Deduktion des Referenten finden. Ein junger Mann, der sich in fast jugendlichem Lebensalter aus dem bewegten, glänzenden und ihm günstigen Leben von Paris in die Einsamkeit zurückzieht, zeigt nicht eben die Neigung eines Lüstlings. Als ein solcher zeigt er sich auch nachgehends in keinerlei Weise. Ein Mann, dessen eiserne Konsequenz durch ein vierzigjähriges Leben der Entsagung bewiesen ist, sieht nicht danach aus, daß er eine Geliebte, für die er eben seine ganze Existenz aufgegeben hat, bald wieder beiseite werfen könnte. Und hatte er die Natur der Veränderung suchenden Liebe, so wäre er wohl nicht bei dem zweiten Gegenstande derselben stehen geblieben. Und wir haben doch bereits genugsam erwähnt, daß dem Grafen in einem vierzigjährigen Leben keinerlei Unsittlichkeit zur Last gelegt werden konnte, obschon die Einsamkeit und andere Umstände leicht dazu locken mochten. Endlich sieht der kühne Widerstand des Grafen gegen die Forderung des Gerichts, sein entschiedenes Ablehnen aller Winkelzüge und jeder, auf dem Wege der Bitte zu ermöglichenden Vermittelung wahrhaftig nicht aus, wie die Angst eines vor der Entdeckung eines Verbrechens zitternden Gewissens.

So stehen wir denn am Schlusse unserer Geschichte wieder am Anfang derselben. Alle Fäden, die wir in die Hand nahmen, um den geschürzten Knoten des Geheimnisses zu entwirren, verknoten sich zu neuen Schwierigkeiten.

Das Rätsel ist ungelöst.

Doch halten wir eine endliche Lösung für möglich, ja für wahrscheinlich und geben eben diese Blätter auch mit dem Wunsche hinaus in die Welt, daß sie an den rechten Pforten die Lösung des Geheimnisses suchen. Nachteilig kann eine solche Enthüllung des Geheimnisses, dessen Anfang und Motiv nunmehr ein halbes Jahrhundert hinter uns liegt, gewiß für niemand sein. Diejenigen aber, die sich berufen finden, der Lösung nachzugehen, möchten wir bitten, daß sie ihre Forschung und Kritik auch nach einer Seite hin wenden, die bis jetzt noch kaum betreten worden ist, – sie mögen einmal nachsehen, ob die großartige Weltentsagung, die dort im Schlosse zu Eishausen vierzig Jahre lang geübt wurde, vielleicht nicht nur in einem großen politischen Verhängnisse ein trauriges, sondern auch in einer bewundernswerten Aufopferung der Freundschaft, der Liebe, oder des Patriotismus das edelmütigste Motiv hatte. Wir unsers Teiles hoffen, daß, wenn über dem Grabe des Einsiedlers des Schlosses von Eishausen die noch festgeschlossene Knospe des Geheimnisses sich öffnet, die erschlossene Blüte es zeigen wird, wie sie aus einem reinen, grossen, aber vielleicht unglücklichen Leben hervorgetrieben ist, und daß die Dankbarkeit nicht wird erröten müssen, wenn sie diese Blüte auf dem Grabe der verstorbenen pflegt.

 

Ende


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