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9. Tod der Gräfin.

Am meisten gefährdet erschien das Geheimnis des Grafen Im Jahre 1837. In diesem Jahre starb die Gräfin.

Im Herbste des Jahres hatte der Graf, in einem Briefe an seine langjährige Korrespondentin gegen die er noch nie eine Äußerung von der Anwesenheit einer Dame im Schlosse hatte fallen lassen, zum erstenmal »seiner Lebensgefährtin« erwähnt und zugleich mit Besorgnis von der Abnahme ihrer Kräfte gesprochen. Es sah aus wie eine Vorbereitung auf den Fall, der wenige Tage später eintrat und freilich das längere Ignorieren der Gräfin unmöglich machte. Am 25. November starb die Dame. Die Arme, seit ihrer Jugend aus der Welt Geschiedene, war ohne ärztliche Hilfe, von niemandem gepflegt, als von dem Gefährten ihrer Einsamkeit, aus dieser Welt geschieden. Keiner geringern Gewalt als der des Todes, war es gelungen, die seit dreißig Jahren verschlossenen Gemächer zu öffnen. Das erste Geleite, das die lebendig Begrabene wieder unter Menschen führte, war ihr Grabgeleite. Der Graf ließ die Dame in dem Berggarten begraben, den er in der Umgebung von Hildburghausen besaß, und in dem, wie er sagte, die Verstorbene einige Mal mit Freuden verweilt habe. Die Leiche wurde nach Mitternacht mit Fackeln von Eishausen abgeführt; die Diener des Grafen, mehrere Handwerker und Bauern vom Dorfe geleiteten, sie; eine Anzahl Neugieriger erwartete, trotz der tiefen Nacht, die Leiche an dem Begräbnisplatz; der Sarg wurde von der Dienerschaft geöffnet; der Graf selbst hatte es so befohlen; die Tote war in weißen Atlas gekleidet; Alle, die sie sahen, waren ergriffen von der rührenden Schönheit, die hier der Erde übergeben wurde.

Im Publikum aber kam bald die Sage in Umlauf, es sei eine Wachspuppe begraben worden und die Gräfin selbst sei nächtlicher Weise aus dem Schlosse geführt worden und von der nächsten Station aus mit Extrapost abgefahren.

Noch vor dem Begräbnis hatte die Geistlichkeit den Grafen um die Personalien seiner »verstorbenen Gemahlin« gebeten. Zu allgemeinem Erstaunen erwiderte der Graf: »die Verstorbene war nicht meine Gemahlin; ich habe sie nie dafür ausgegeben!« Und erst auf wiederholtes Andringen ließ er sich bereit finden, die Personalien der Verstorbenen zu geben, gegen das Versprechen des Geistlichen, daß die Angabe bis zum Tode des Grafen verschwiegen gehalten werde. Später ergab sich, daß die ganze Mitteilung sich auf die Worte beschränkte: » Sophia Botta, ledig, bürgerlichen Standes, aus Westphalen, achtundfünfzig Jahre alt

Indessen hatte auch das herzogliche Kreisgericht eine Erklärung über die Verstorbene gefordert und war, als der Graf eine solche schlechthin verweigerte, sofort zur Versiegelung des Nachlasses der Verstorbenen geschritten. Die seit dreißig Jahren unzugängliche Gemächer, in denen solange das Geheimnis ungestört gelebt hatte, mußten dem Willen des Gerichts sich öffnen. Man fand, außer einer reichen Garderobe, gegen hundert neue Goldstücke, wie Spielwerk in verschiedenen Beutelchen in Winkeln herumliegend. Auch ein katholisches Gebetbuch fand man, aber keine Papiere. So nachsichtig bisher die Verwaltung gewesen war, so bestimmt forderte jetzt die Justiz, daß das Recht seinen ungestörten Gang gehe. Sie drang mit Entschiedenheit auf Mitteilung der Personalien der Verstorbenen; der Graf erklärte ebenso entschieden, daß keine Gewalt der Erde diese ihm entreißen werde. Durch diese Weigerung wurde die Verwickelung noch unangenehmer und das entschiedene Vorgehen des Gerichts noch nötiger. Der nächste Schritt, der nach dem Gesetze gefordert wurde, war der Erlaß eines öffentlichen Aufrufs an alle, welche Erbansprüche an den Nachlaß der unbekannten Dame im Schlosse zu Eishausen zu machen hätten. Aber auch diese Alternative, obschon sie den Grafen in die höchste Aufregung setzte, brach seinen Widerstand nicht. Ein wohlmeinender Mann, dessen Worten einiger Einfluß auf den regierenden Herzog von Meiningen zuzutrauen war, ließ durch die Korrespondentin des Grafen diesem seine Vermittlung anbieten. Aber der Graf antwortete: »Ich habe nichts in Meiningen zu erbitten ... Meine Maßregeln sind auf alle Fälle getroffen und können in der Folge durch nichts erschüttert werden. Herrn N. N. verbindliches Anerbieten darf und kann ich nunmehr nicht annehmen und für dasselbe nur meinen innigsten Dank sagen.«

Wirklich hatte der Graf seine Maßregeln getroffen; es war alles zu seiner Abreise aus dem Laude gerüstet. Ob auch bereits, wie damals erzählt wurde, die Regierung eines benachbarten Landes für die Aufnahme des Auswanderers bereitwillige Konzessionen gemacht hatte, ist nicht erwiesen.

Doch es gelang noch einmal, zwischen den Forderungen der Justiz und den menschlichen Wünschen aller Teilnehmenden eine Vermittelung zu finden und so den Unbekannten den Rest seines Lebens in Frieden beendigen zu lassen. Der Graf hinterlegte den Schätzungswert des Nachlasses der Verstorbenen, im Betrag von eintaufendvierhundertsiebzig Fl., und diese Summe wurde » bis auf weiteres,« d. h. bis zum Tode des Grafen, gerichtlich deponiert. So sehr war man damals von der Schuldlosigkeit des Einsiedlerlebens überzeugt, daß die Milde eines wohlmeinenden Regenten und die Gewissenhaftigkeit einer umsichtigen Justiz mit diesem Auswege gleich einverstanden waren und daß er den ungeteilten Beifall der öffentlichen Meinung erhielt.

Der Schmerz und Sturm jener Tage scheint den greisen Mann im innersten erschüttert zu haben. Er, dessen Ruhe seit dreißig Jahren stets mit der zartesten Rücksicht geschont worden war, fühlte jetzt durch die Strenge des Gerichts sich aufs tiefste verletzt, und er ertrug diese Verletzung vielleicht nur, weil ein noch tieferer Schmerz die Oberhand behauptete. Es ist mir erlaubt, hier einen Brief des Grafen (wenige Tage nach dem Tode seiner Lebensgefährtin geschrieben) im Auszug zu geben.

»Meine Lage,« schrieb er, »wird immer unerträglicher; es ist keine getrennte Ehe; es ist mehr, es ist eine Zerreißung eines zusammengewachsenen Geschwisterpaares; das eine kann nicht ohne das andere fortleben. – Der Nachlaß wurde gestern mit unendlicher Mühe in einem Zimmer aufgehäuft. Sie können denken, daß viele wertvolle Stücke, besonders aus früheren Zeiten, – seidne Oberröcke, Shawls etc. wovon die meisten nie gebraucht, darunter sind. Es fanden sich in einem seidenen Beutelchen zwanzig Louisdor, in einer Schachtel zehn bis zwölf Dukaten und vielleicht ein paar Dutzend Kronthaler. Sie hat seit dreißig Jahren keinen Heller auszugeben Gelegenheit gehabt, zeichnete ihre Wäsche nur mit Bleistift auf, konnte auch an niemand schreiben, da sie keine Bekannten hatte ... Ich habe immer, wie mit religiöser Scheu, ihre vielen Kommoden betrachtet, nie sie berührt; ich wußte nicht, wie viel schöne, ihr aufgedrungene Sachen sie enthielten. Die Versiegelung ist still vor sich gegangen ... – – Ich habe mich dem Gesetz unterworfen. – Ich lege mich öfters des Tages nieder, doch vergeblich; die Gicht läßt meinem Körper so wenig Ruhe, als die mich umgebenden Gegenstände meinem Geiste. Das Haus ist wie verödet. – Hätte man nicht versiegelt, der ganze Nachlaß würde der Armenverwaltung überlassen worden sein, mit Ausnahme von einigen Dutzend Hemden und einigen Roben.«

Seine Dankbarkeit gegen diejenigen, welche sich damals bemühten, ihn vor einer weiteren gerichtlichen Verfolgung der Angelegenheit zu bewahren, trug den Ausdruck tiefer Empfindung. Noch ehe jene Bemühungen ein Resultat gewonnen – in jenen Tagen, da er noch mitten im ersten Schmerz über den Verlust seiner Lebensgefährtin sich rüstete, sein Asyl in Eishausen auf immer zu verlassen, schrieb er, mit der Bemerkung, daß es auf seine eigenen Empfindungen passe, folgendes Gedicht: Abschied eines alten Dresdener Hospitaliten bei dem Umzüge nach Hubertusburg.

Lebt wohl, ihr Räume, die mich lang geborgen.
Geliebtes treues Stübchen, lebe wohl!
Hier schwanden mir die bangen Erdensorgen,
Hier fühlt' ich mich so heimisch und so wohl.
Hier sah ich langsam meine Haare bleichen,
Mein greises Haupt sich hin zur Grube neigen.

Oft wandelt' ich nach jenen grünen Räumen,
Die treulich bergen unser letztes Haus,
Und suchte mir dort unter Blütenbäumen
Zu meinem Grab ein stilles Plätzchen aus.
Und vor mir lag im milden Abendscheine
Die Vaterstadt, mit der ich's redlich meine.

Es war ein Traum, er ist schon ausgegeben – –
So schön er war, so schnell löst er sich auf:
Ich muß hinaus in ein nur fremdes Leben,
So spät trifft mich des Schicksals harter Lauf;
Gleich einem Baum, der Wurzeln tief geschlagen,
Werd' ich in fremden Boden fortgetragen.

Vor mancher Stelle bleib' ich zitternd stehen.
Das Auge still die bittre Zähre weint;
Es ist so schwer, vom Freunde wegzugehen
Der treu und redlich es mit uns gemeint;
Und traurig sinkt das müde Haupt mir nieder:
Lebt ewig wohl, wir sehn uns nimmer wieder.

Und alles, alles, was ich nur erblicke.
Erinnert mich an die vergangne Zeit;
Hier träumte ich von längst genossnem Glücke,
Dort von empfundnem schweren Herzeleid,
Und jeden Gang durch die belaubten Gassen
Hat die Erinn'rung mir zurückgelassen.

Und brächt' ich auch im freundlichsten Asyle
Die letzten Tage meines Lebens zu,
Das eine miss' ich immer und ich fühle.
Man bringt mich bald zur stillen Grabesruh.
Dann mag von mir ein schlichtes Kreuz euch sagen:
Ein tiefes Leid hat ihn ins Grab getragen.

Von nun all gab er seiner Korrespondentin hin und wieder noch Andeutungen über seine Lebensgefährtin. »Sie war eine arme Waise,« sagte er, »die alles, was sie besaß, mir verdankte, aber mir das tausendfach vergolten hat.« – »Meine Verbindung mit ihr hatte etwas Romantisches, einer Entführung Ähnliches.« – »Ich war nie verheiratet.« – Selbst einen Brief, wie er sagte, von der Hand der Verstorbenen und an ihn gerichtet, aber ohne Namensunterschrift, teilte er mit. Der Brief war deutsch geschrieben, nicht ganz orthographisch, aber voll Gefühl der Liebe und Dankbarkeit gegen den Mann, »der aus großer Gefahr und Unglück sie errettete.« – »Ich weiß es,« schrieb sie, »daß du, geliebter Ludwig, um meinetwillen vieles hingabst, und nur mit meiner Liebe kann ich deine tausend Opfer vergelten.« – Auch der verstorbene Kammerdiener hatte einst gesagt: »Sie hat kein Vermögen, aber – sie ist die Herrin über alles.«

»Muß man denn ein Gut erst verlieren, um seinen ganzen Wert zu empfinden?« so schrieb der Graf in jener Zeit. »Ich möchte hinaus ins Freie, auf die Höhen der Berge; da nur, meine ich, könne mir leichter werden.« Körperliches Leiden und die Jahreszeit (Ende November) hinderten auch diesen Versuch. Er schrieb mit Wehmut davon, wie die beiden Lieblingskatzen der Verstorbnen, obgleich aufs sorgsamste gepflegt, dieser in wenig Tagen nachgestorben seien, wie der Hund des Pächters täglich zur gewohnten Stunde winselnd unter dem Fenster des Schlosses sitze, aber von keiner Hand Speise annehme, da die, welche sie ihm bisher gereicht, nicht erscheine. – Seine Wohlthätigkeit wurde noch reger. – »Schreiben Sie mir nur von dem Glücke anderer,« sagte er, »damit ich, des eignen entbehrend, daran mich erheitere.«

In jener Zeit, da das innerste Leben des Grafen durch den Tod des einzigen Wesens, das es mit ihm geteilt hatte, erschüttert schien, und da er zugleich aus seinem dreißigjährigen stillen Frieden herausgeschreckt werden sollte, ließ er einen Arzt zu sich bitten, der ihm bereits litterarisch bekannt war und mit dem er schon früher in mannigfachen indirekten Verkehr getreten war. Dieser fand den Grafen zu Bette liegend, körperlich leidend, aber noch mehr geistig. Doch der Graf wollte keinen ärztlichen Rat, sondern menschlichen. Der siebenzigjährige Greis erschien wie ein schwer getroffener Löwe. Im Gespräch entzündete sich das ganze Feuer seines reichen Geistes; er sprach ohne Zorn, ohne Sentimentalität, in überwältigender Beredsamkeit; ein tiefer Schmerz war zu erkennen, aber keine Spur von Kleinmut; – ungebrochene Willenskraft, bereit, das Äußerste zu wagen zur Bewahrung seines Geheimnisses, – der geistige Blick so frei und beweglich, wie der eines Mannes, der eben erst von dem dichtesten Marktgewühle des politischen und wissenschaftlichen Lebens heimkommt. So traf der Arzt den seit länger als dreißig Jahren von der Welt geschiedenen Einsiedler. Er durfte den Grafen zweimal besuchen.

Auf des Arztes Bemerkung, daß er den Mangel an Verkehr mit Menschen für nicht gut und namentlich auch für die Gesundheit nicht förderlich halte, erwiderte der Graf: alle seine Verwandten seien in jungen Jahren gestorben, und er, bei seinem heftigen Temperament, habe wohl ein ähnliches Schicksal erwarten müssen, wenn er sich nicht von der Welt zurückgezogen hätte. – Dies war wohl nur eine Ablenkung von dem eigentlichen Herd des Geheimnisses.

Doch die Aufregung, in der sich der Graf befand, mochte ihn fast über die Schranken seiner Vorsicht führen. Wenigstens schrieb er später in Beziehung auf des Arztes Besuch: »Es geht mir wie den Nonnen: wenn sie einmal sprechen dürfen, sprechen sie zu viel.« Es entfielen ihm Andeutungen, daß er die Glieder der Bourbonischen Familie genau gekannt; daß er bei einer Gesandtschaft in Paris und (vielleicht in ähnlicher Eigenschaft) auch in London gewesen sei, daß er in Paris mit Lafayette und Benjamin Constant verkehrt habe, – am Hofe in Weimar mit Liefländern und Kurländern zusammengetroffen, in Jena zur Zeit Schillers gewesen sei und dort Loder genau gekannt habe. Auch seiner Reise nach Wien zum Kaiser Alexander erwähnte er: »Denken Sie,« sprach er, »damals war die Dame schon bei mir; ich mußte unaufhaltsam mit Kurierpferden reisen; die Dame konnte ich nicht verlassen, sie mußte mich begleiten, und niemand durfte ihr Dasein ahnen. Denken Sie, welche Verlegenheit!« Als der Arzt äußerte, es sei doch zu bedauern, wenn die Erinnerungen eines so reichen Lebens für die Welt verloren gehen sollten; vielleicht werde der Graf seine Memoiren hinterlassen; – da erwiderte der Graf lächelnd: »Memoiren hinterlassen; – in meinem Nachlasse wird man nichts finden, als einige Küchenzettel.«

»Ich wollte für die Kranke Sie als Arzt rufen lassen,« sagte er im Verlaufe des Gesprächs; »doch sie wollte das nicht; auch hätte sie Opfer von Ihnen verlangt.« – Und als der Arzt, den Sinn der Worte deutend, sagte: ein Arzt sei gewohnt, Geheimnisse zu bewahren, fuhr der Graf auf: »Herr, Sie wissen gar nicht, welche Verantwortung Sie auf sich genommen hätten, wenn ich Sie zu dieser Dame geführt hätte?« – »Wenn,« so äußerte er, » ein Mann etwas früher gestorben wäre, so würde ich in die Welt zurückgekehrt sein.« Nunmehr, da die Dame gestorben (so schien er anzudeuten), verlohne es sich nicht der Mühe. In demselben Sinne schrieb er später, kurz Vor seinem eigenen Tode; »Meine Zurückgezogenheit war lange eine gezwungene; in letzter Zeit aber war sie freiwillig.«

Im Frühling nach der Dame Tod besuchte der Graf ihr Grab in dem erwähnten Berggarten. Als er später diesen Garten durch seinen Agenten in einer gerichtlichen Schenkung an den jüngeren Schmidt abgab, ließ er die Bedingung niederschreiben: daß ihm selbst sein Grab an der Seite der Dame bereitet werde, und daß bis auf zehn Jahre nach seinem Tode der Garten zu keinem öffentlichen Vergnügungsorte (was er früher gewesen war) benutzt werde. – Am Jahrestage des Todes der Gräfin schenkte er der Armenkasse in Eishausen fünfzig Gulden und würde diese Schenkung wiederholt haben, wenn nicht die Art des öffentlichen Dankes für diese Gaben ihn zu unangenehm berührt hätte. »Überhaupt,« schrieb er einst »würde ich gern solche kleine Gaben öfters, mir zur Freude, senden, Ware nicht solch laute Bescheinigung mir unerträglich.«


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