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6. Die Korrespondenz des Grafen mit der Herzogin Charlotte und mit dem Geistlichen des Dorfes. Politische Ansichten, wissenschaftliches Leben.

Nur mit drei Personen in der Umgegend ist der Graf in schriftlichen Verkehr getreten. Die erste Annäherung dieser Art fand mit der damaligen Herzogin Charlotte von Hildburghausen statt, ganz im Anfange des Aufenthalts des Grafen in Eishausen. Diese geistreiche und hochgesinnte Fürstin interessierte sich lebhaft für die Unbekannten. Ein Wunsch des Grafen in Bezug auf die von ihm gemieteten Lokalitäten des Eishäuser Schlosses kam durch den Geistlichen, den frühern Lehrer der herzoglichen Prinzessinnen, zu den Ohren der Fürstin. Diese benutzte die Gelegenheit, um in einem kurzen, artigen französischen Handbillet dem Grafen zu sagen, daß sie sich freue, ihm die Erfüllung seines Wunsches von seiten des Herzogs zusagen und dabei einen Dank aussprechen zu können, für die Wohlthaten, die er im Lande verbreite. Dieser Brief setzte den Grafen in heftige Aufregung; doch die Höflichkeit nötigte ihn zu einer Antwort. Er schrieb einen französischen Brief, ein Muster von Artigkeit, reiche Gedanken in wenige Zeilen gefaßt, aber so, daß auch kein Häkchen aufzufinden war, an das sich eine Antwort hätte anknüpfen lassen. Er hoffe, so schrieb er, später noch das Glück zu haben, ihrer Hoheit sich persönlich nähern zu dürfen. Die Handschrift war wunderschön, aber, wie sich später ergab, nicht die des Grafen. Die Unterschrift war unleserlich. Dies ist die einzige Berührung, in welche der Unbekannte mit dem herzoglichen Hause trat, und alles, was von einer vertraulichen Mitteilung des Grafen an den Herzog oder die Herzogin erzählt und seiner Zeit selbst in einem, angeblich von einem Vertrauten des Grafen herrührenden Artikel der Allgemeinen Zeitung behauptet worden, ist unwahr, oder beschränkt sich auf das eben Mitgeteilte. Längere Zeit nach dem Tode der Herzogin richtete die Erbprinzessin von Hildburghausen mit einigen schriftlichen Worten an den Grafen die Bitte um einen Beitrag zum Ankauf eines Hauses für die Industrieschule. Eine Stunde nach Empfang des Briefes erhielt der Pfarrer zehn Louisdor zu dem bezeichneten Zwecke, mit der Bitte, den Grafen bei ihrer Hoheit zu entschuldigen. Unwohlsein halte ihn vom Schreiben ab.

Es mag übrigens gleich hier erwähnt sein, daß die herzogliche Familie mit zartester Schonung die Zurückgezogenheit des Unbekannten ehrte. Nicht selten besuchten Glieder des herzoglichen Hauses das Pfarrhaus in Eishausen; sie gingen auch wohl in und bei dem Dorfe spazieren; aber niemals traten sie in die Umgebung des geheimnisvollen Schlosses.

Mit dem oben erwähnten Geistlichen des Dorfes stand der Graf in einem langjährigen, höchst merkwürdigen und seltsamen schriftlichen Verkehr, über dessen Entstehen und Verlauf ich hier einiges Nähere beibringen muß. Der Graf hatte dem Geistlichen, als dieser (im Jahre 1812) seine Stelle in Eishausen antrat, einige politische Zeitungen zum Lesen anbieten lassen; es waren deutsche und französische und zeitweise auch englische Blätter durchgehends legitimer Tendenz, welche der Graf las. Das Anerbieten wurde dankbar angenommen. Und von nun an fand der Pfarrer jeden Morgen beim Aufstehen eine sorgfältig couvertierte Zeitung vor, die gewöhnlich vor dem Öffnen des Hauses durch eine Spalte unter der Hausthüre eingeschoben worden war. Bald ließ der Graf, der sich – es war gerade in den verhängnisvollen Jahren des Befreiungskrieges – aufs Lebhafteste für die Politik interessierte, dem Pfarrer einzelne Bemerkungen über Zeitungsartikel mündlich (durch die »Bötin«) mitteilen, und sein tiefer politischer Blick und seine umfassende und eindringliche Kenntnis der politischen Verhältnisse äußerte sich hier in erstaunenswerter Sagacität. Bald wünschte der Graf auch Bücher aus der Bibliothek, oder durch Vermittlung des Pfarrers. Nach vergeblichen Versuchen, durch den Mund der Bötin über zum Teil lateinische oder französische Titel sich zu verständigen, sah sich der Graf genötigt, den Titel des fraglichen Buches auf ein Blättchen zu schreiben. Aber nicht ein solcher Titel durfte in der Hand des Geistlichen bleiben; die Bötin, die ihn – immer mit weißen Glacéhandschuhen – überreichte, hatte gemessenen Befehl, ihn stehenden Fußes wieder zurückzubringen.

Bald wurden indes auf solchen Blättchen auch einzelne Bemerkungen des Grafen an den Geistlichen gebracht und allmählich ging dieser Verkehr in eine ununterbrochene Korrespondenz über, in welcher ein fast täglicher Ideenaustausch über Politik, Litteratur und Kunst, und in späteren Jahren selbst ein wahrhaft gemütlicher Verkehr sich fortgesponnen hat. Keine wichtige Erscheinung ging über den Markt des öffentlichen Lebens oder der Wissenschaft, ohne auch zwischen Schloß und Pfarrhaus in geheimnisvollen Briefen zu kursieren; kein freudiges oder trauriges Ereignis traf das Pfarrhaus, ohne daß der Geheimnisvolle im Schlosse es mit zarter Teilnahme begleitete; kein Familienfest wurde bei dem Pfarrherrn gefeiert, das nicht der Familien- und Namenlose erkundet und mitgefeiert hätte. Für das Leben des Geistlichen wurde die Korrespondenz, obschon mit bedeutenden Aufopferungen verbunden, doch ein reicher geistiger Gewinn, und dieser Gewinn wurde um so reiner genossen, als auch der Charakter des Grafen sich seinem Korrespondenten immer und stets in sehr achtungswertem Lichte darstellte.

Aber es ist eben so gewiß, als es fabelhaft klingt: der Geistliche hat aus einer vierzehn- bis fünfzehnjährigen täglichen Korrespondenz auch nicht eine Zeile von der Hand des Unbekannten in seinen Händen behalten; jeder Brief oder Zettel wurde sogleich, nachdem er gelesen war, von der Bötin wieder zurück an den Grafen gebracht. Auch trugen die Briefe niemals eine Namensunterschrift, niemals ein Datum. Der Graf schrieb stets mit lateinischen Lettern und wünschte, daß auch ihm so geschrieben werde. Seine Blätter waren gewöhnlich mit Oblaten couvertiert. Das Petschaft war ein karriertes, nur zweimal unter vielen hundert Fällen fand der Geistliche ein charakterisiertes Siegel. Dieses war auffallend. Obschon es nicht ganz ausgeprägt war, so glaubte doch der Geistliche mit Gewißheit drei Lilien im Felde zu entdecken.

Auch der Geistliche schrieb, wie der Graf, ohne Anrede, ohne Unterschrift, meist auf einzelne Blättchen. Zu einer Zeit wurde ihm ein ganzes Paket seiner Blätter zurückgegeben.

Niemals haben die beiden Männer sich gesprochen. Vierzehn Jahre lang, mit einer einzigen Unterbrechung, schreiben sie sich fast täglich, sie fassen ein Herz zu einander; ihr Verkehr wird Bedürfnis ihres Lebens; nicht selten entspinnt sich eine förmliche hitzige Disputation; die Bötin eilt mit Thesen und Antithesen sechs bis zehnmal an einem Vormittage zwischen dem Schlosse und dem Pfarrhause hin und her; aber selbst diese Korrespondenz geht nur durch die Bötin, die dazu 1½ Stunde weit von der Stadt herauskommen muß; ohne ihre Vermittlung kann der Pfarrer keine Nachricht ins Schloß gelangen lassen; er darf die Frau selbst nicht anreden, wenn sie auf ihrem Wege von der Stadt vor seinem Fenster vorübergeht; er muß warten, bis der Graf von freien Stücken sie sendet; er darf die Aufträge, die ihm der Graf nach der Stadt giebt, nicht der gräflichen Bötin mitgeben, die täglich ins Pfarrhaus und in die Stadt kommt, sondern er muß neben der Bötin einen expressen Boten senden. Aus ihren Fenstern hätten die beiden Männer, wenn sie wollten, sich sehen und mit Hilfe eines Glases erkennen können; aber der Pfarrer hat sich zu hüten, daß er einmal nach dem Schlosse blickt. Wenn der Graf vor dem Fenster des Pfarrhauses vorüberfährt, biegt er sich aus dem Schlage und grüßt; wenn der Pfarrer zu Pferde, der Graf zu Wagen sich im Freien begegnen, so ziehen sie höflich voreinander den Hut. So begegnen sich die Männer, die vielleicht eben im Eifer ihrer Korrespondenz die Pferde auf sich haben warten lassen. Sie grüßen sich stumm und fremd und eilen nach Hause – um sich zu schreiben. Sie sprechen sich nie.

Der Graf schloß seinem Freunde seine Gedanken auf; er zeigte ihm seine äußere Persönlichkeit; was konnte er für Gefahr laufen, wenn er auch seine Stimme ihn hören ließ?

Als die Verbündeten siegreich in Frankreich einrückten, hatte der Graf dem Geistlichen wissen lassen: »Wenn Friede wird, so werde ich das Vergnügen Ihrer persönlichen Bekanntschaft suchen.« Aber der Friede wurde geschlossen, und die beiden Männer sprachen sich nie.

Und doch empfand der Graf selbst, wie sehr ihm die Brücke eines persönlichen Verkehrs fehlte. Er selbst schrieb an den Geistlichen: »Manches im Leben läßt sich bei weitem besser mündlich, als schriftlich behandeln; ja es bedarf sehr häufig erst eines durch persönliches Zusammensein zuwegegebrachten Berührungs- und Anknüpfungspunktes.« Die Unmöglichkeit einer mündlichen Verständigung erhöhte für den Geistlichen die Schwierigkeit der Korrespondenz mit einem Manne von reizbarem und leicht aufwallendem Temperamente, wie der Graf war. So sehr dieser die Opposition in der Theorie achtete und selbst liebte, so leicht empfindlich war er, wenn er Widerspruch gegen Willen, Bekämpfung seiner Gemütsstimmung erfuhr, oder Verletzung schonender Rücksichten, die er forderte, argwöhnte. Und so wurde die Korrespondenz manche Woche mit Diskussionen der Empfindlichkeit, wie sie sich in den Briefen eifersüchtiger Freunde nicht schöner finden können, vergeudet. Einmal als der Geistliche einen Mann, von dem sich der Graf hart beleidigt glaubte, mit Nachdruck verteidigt hatte, ging die Empfindlichkeit des Letzern so weit, daß er auf längere Zeit die Korrespondenz ganz abbrach und sie erst wieder anknüpfte, als seine Teilnahme für eine längere Krankheit des Geistlichen ihn zur Rückkehr trieb. »Rechnen Sie,« so schrieb er selbst später einmal, »zu meiner natürlichen Anlage meine gänzliche Entfernung von der Außenwelt, meine Erfahrungen, und Sie werden meine Reizbarkeit entschuldigen.«

Daß er übrigens von seinen Geheinmissen auch dem Geistlichen nichts vertraute, vielmehr, daß seine Korrespondenz mit der größten Vorsicht für die strenge Bewahrung dieses Geheimnisses geführt wurde, erhellt schon aus dem Vorstehenden. Über die Grenzen jener (man kann sagen mißtrauischen) Vorsicht ist der Graf auch nicht einmal hinausgegangen. Der Geistliche hätte die Briefe aller Welt vorlesen können, vom Geheimnis des Grafen hätten sie nichts verraten.

Der Inhalt der Korrespondenz war übrigens sehr verschieden. Neben der vorherrschenden Diskussion über Gegenstände der Politik, Wissenschaft und Kunst kamen Klagen über Bedrohung der Ruhe und Stille des Schlosses und Bitten um deren Abstellung; da wird hin und her geschrieben über Rüben, die auf dem Gutshofe verfaulen und die Luft des Schlosses verpesten; – über Tauben, die auf dem Schlosse sich eingenistet haben, über welche der Gutspächter sich unbillig beschwert haben soll; über Verletzungen, die der Graf dabei von der Domainenverwaltung erfahren haben will und welche ihn zu der Erklärung drängen, daß er Eishausen verlassen werde, wenn ihm nicht eine rücksichtsvollere Behandlung werde; – über die wachsende Vergnügungssucht der Bauern; über des Müllers schöne Tochter, die zum Kirmestanz gegangen und mit den wilden Burschen zu tanzen keinen Anstand genommen habe; – über die »Löwin des Dorfes,« die noch schönere Tochter deß Schulmeisters (und beide hatte der Graf natürlich nur durch sein Fernrohr beobachtet); – über andere Vorfälle des Dorfes; über Arme und deren zweckmäßigste Unterstützung u. s. w.

Die Korrespondenz des Grafen zeugte von umfassenden und gründlichen Kenntnissen, von einem scharfen Urteil überhaupt und von tiefer politischer Einsicht insbesondere, von einer lebendigen, selbst in der größten äußern Abgeschlossenheit nie rastenden, nie in vorgefaßten Meinungen erstarrenden Teilnahme an Wissenschaft, Kunst und Politik, von einem staunenswerten Gedächtnis, das sich namentlich in reichen und treffenden Citaten aus französischen, englischen italienischen, lateinischen und deutschen Schriftstellern äußerte.

Schon seine Wahl von Zeitschriften deutete auf eine überwiegend legitimstische und konservative Ansicht in der Politik. Er hatte bei mehreren Veranlassungen eine Sympathie für die Bourbons geäußert, die mehr als eine nur politische zu sein schien. Mit dem größten Interesse kam er wiederholt auf die Erwähnung und Beurteilung der französischein Revolution zurück. Mit Spannung verfolgte er die Verhandlungen in Frankreich über die Frage der Entschädigung für die Emigranten und war unwillig über den Vorschlag, diese Entschädigung auf den alten Hofadel zu beschränken. Das Schicksal Karls X. erkannte er zwar als eine politische Notwendigkeit, widmete ihm aber die schmerzlichste Teilnahme.

Für das russische Kaiserhaus zeigte er wiederholt die lebhafteste Sympathie und auch die russische Politik verteidigte er vielfach in seinen Korrespondenzen. Daß er den Kaiser Alexander persönlich gekannt und im Jahre 1805 von Frankfurt zu einer Zusammenkunft mit dem Kaiser nach Wien gerufen worden sei, erklärte er bei einer später zu erwähnenden Gelegenheit selbst. Hiernach ist die von einem sonst wohl unterrichteten Korrespondenten in der Allgemeinen Zeitung vom Jahre 1845 veröffentlichte Nachricht zu berichtigen, welche behauptet, der Graf sei zu der Zeit, als die Verbündeten am Rhein standen, zu einer Konferenz mit dem Kaiser Alexander nach Frankfurt eingeladen worden und sei dieser Einladung wirklich gefolgt. – So lange der Graf das Schloß zu Eishausen bewohnte, hat er es nie über Nacht verlassen. Der Geistliche war einige Zeit zu der Annahme geneigt, daß der Graf ein Kurländer sei.

Bei Gelegenheit der Truppendurchzüge im Jahre 1814 oder 1815 war ein Russe als Deserteur in der Umgegend von Eishausen zurückgeblieben und hatte sich später als Knecht zu dem Kammergutspächter verdingt. Der Hof des Kammerguts lag unmittelbar vor dem Schlosse. Einst wird der Russe in diesem Hof von zwei andern Knechten gemißhandelt. Da reißt der Graf das Fenster auf, und (wie die Knechte erzählten) mit der Pistole in der Hand, im höchsten Zorn, mit einer Flut von Worten (aber keinem einzigen Schimpfworte) droht er, denjenigen niederzuschießen, der noch eine Hand an den Russen lege. Die Knechte wichen erschrocken zurück. Der Russe erfuhr von nun an mehrfach die Gnade des Grafen. – Ob indes dieser Zug aus eine politische Sympathie deutet, oder nur die Empörung über eine Unmenschlichkeit überhaupt ausdrückte, muß dahingestellt bleiben.

Der Graf führte, so seltsam es auch klingt, ein rastlos thätiges Leben. Er legte sich früh zu Bette, stand aber täglich um 3 oder 4 Uhr auf. Man sagt, die Gräfin selbst, so lange sie gelebt, habe ihm jeden Morgen in seinem Zimmer den Kaffee bereitet. Wenn es die Witterung nur einigermaßen erlaubte, so ging er jeden Vormittag ins Freie – seit er nicht mehr Equipage hatte, in seinen Garten. Der Nachmittag war einem unausgesetzten Studium gewidmet; »nur eine Stunde des Tags,« schrieb er, »gönne ich mir, um bloß zu meinem Vergnügen zu lesen.« – Ich erinnere mich, daß er einmal seine tägliche Korrespondenz nach dem Pfarrhause aussetzte, »weil dringende Geschäfte seinen ganzen Tag in Anspruch genommen.«

Neben der Politik müssen ernstere Studien den Grafen beschäftigt haben. Nach den Büchern, die er lieh, läßt sich z. B. annehmen, das; er mehrere Jahre hintereinander Naturphilosophie (französische und deutsche) studierte und hierauf christliche Ketzer von den ältesten Zeiten an und christliche Kirchengeschichte überhaupt. Mit Vorliebe wendete er sich den älteren französischen Philosophen zu. Voltaire schätzte er sehr hoch. Er war, was man sagt, ziemlich bibelfest; doch in Sachen des Glaubens stand er mit Lessings Nathan auf einer Linie. Er las David Strauß mit großem Interesse. »Zur katholischen Religion erzogen,« so schrieb er einst, »wurden doch in meiner Jugend deren Grundpfeiler gerade so tief erschüttert, daß sie nie wieder fest standen.« – Er ging nie in die Kirche.

Französische, englische, deutsche, lateinische und griechische Klassiker scheint er in wohlgeordneten Studien durchlesen zu haben. »Können Sie eine Vorstellung davon haben,« sagte er in spätern Jahren, »welches Glück ich auch in meiner Einsamkeit genossen habe? Wo hätte ich sonst diesen stillen Frieden genossen, wo sonst die Muse gefunden, die Klassiker von vier Nationen der Reihe nach zwei- und dreimal zu lesen?« Er pflegte, wenn ihm in seiner Korrespondenz der ganz entsprechende deutsche Ausdruck zu fehlen schien, ihn durch parenthetische, lateinische, englische, französische oder italienische Ausdrücke zu erklären. – Auch für die neuere und neueste Litteratur interessierte er sich lebhaft; er verfolgte alle neuen Erscheinungen auf diesem Gebiete, las namentlich Politisches, Biographisches, Physikalisches, nie aber, so viel man weiß, bloße Unterhaltungsschriften, und auch die neueren philosophischen Systeme nach Kant und Schelling scheint er nur durch Relationen kennen gelernt zu haben. Wieland las er gern; Börne und Heine schätzte er, obgleich deren destruktive Richtung den politisch konservativen Grundsätzen des Grafen hätte verhaßt sein müssen. Die Briefe welche zwischen dem Schlosse und dem Pfarrhause hin- und hergingen, waren fortlaufende litterarische Konversationsblätter. So finden wir, wie eigentümliches Interesse oder die Tageslitteratur gerade den Stoff darboten, in dem Zeitraume eines Jahres die Korrespondenz über tierischen Magnetisinns, über Locke, Kant, Schelling, Schleiermacher, de Wette; spezielle Vorsehung, Unsterblichkeit, positive Religion, Stolbergs Übertritt, Reform des Universitätswesens, Ursprung der alten Ägypter, neben andern Tagesfragen sich verbreiten.

Meteorologie nannte der Graf sein Steckenpferd. Die Bauern richteten sich mit ihren Feldarbeiten nach den Wetterprophezeiungen, die sie durch Vermittelung des Kammerdieners, oder später des Pfarrers, aus dem Schlosse erhielten. – Medizinische Kenntnisse soll er in einem nicht unbedeutenden Umfange besessen und mit Hilfe einer kleinen Hausapotheke auch ausgeübt haben. Er konsultierte bis in die letzten Jahre seines Lebens nie einen Arzt, selbst nicht während einer sehr bedeutenden Krankheit im Jahre 1830, in der er selbst und seine Diener an seinem Wiederaufkommen zweifelten; doch soll er mehrere Male selbst Recepte geschrieben und in einer Apotheke zu Koburg haben machen lassen. Erst nach dem Tode der Gräfin und später wieder einmal, kurz vor seinem eigenen Tode, ließ er einen Arzt zu sich kommen.

Bis zu seinem Tode behielt er eine bewundernswerte Geistesfrische und Vielseitigkeit. Welch ein Geist mußte das sein, der in vierzigjähriger Abgeschiedenheit von den Menschen nie in Schlaffheit, Teilnahmlosigkeit, oder Einseitigkeit versank.

Man wird vielleicht meinen, der Graf sei Sonderling oder Misanthrop gewesen; aber dem letztern widersprechen diejenigen, mit denen er in nähere Berührung getreten ist, aufs Bestimmteste, und das erstere läßt sich kaum beweisen! (Daß es nicht das Motiv seines Einsiedlerlebens war, ergiebt sich von selbst.) Er soll sich nie trübsinnig oder lebensüberdrüssig gezeigt haben. Bei einer ganz objektiven Auffassungsweise zeigte er doch auch die Seite eines Gefühlsmenschen, und bei seiner heftigen Gemütsart blickte doch immer ein natürliches Wohlwollen durch. Ein köstlicher Humor war ihm eigen. Die ihm zunächst liegenden Begebenheiten und Familienverhältnisse des Dorfes, von denen er sich auf wunderbare Weise in Kenntnis zu setzen wußte, verstand er, ohne je zu ihnen herabgezogen zu werden, in den Mitteilungen an seinen Korrespondenten mit liebenswürdiger Laune aufzufassen, teils zu idealisieren, teils zu persiflieren. Witz und Satire liebte er.

Der Geistliche starb im Februar 1827 plötzlich in der Nacht. Am Morgen verkündigte das Geläute der Glocken der Gemeinde den Tod des Seelsorgers. Der Gras fragte nicht nach der Bedeutung des Geläutes; aber er befahl, ihm die Zimmer einzurichten, welche abgewendet vom Pfarrhause lagen. In diese begab er sich. Die Bötin brachte die Morgenzeitung uneröffnet aus dem Pfarrhause zurück. Der Graf fragte nicht, die Bötin sagte nicht, warum. Aber sie sah Thränen in seinen Augen. – Einige Jahre früher, meinte sie, habe sie den Grafen ebenso in Thränen getroffen; damals habe er gesagt, ein großer Fürst sei gestorben. Ob damit vielleicht der Herzog von Berry († 1825) oder der Kaiser Alexander († 1825) gemeint war, ließ sich nicht erraten; von letzterem schrieb der Graf einmal: »es war ein wahrhaft guter und liebenswürdiger Mann.«

Der Witwe des Pfarrers bezeigte er seine Teilnahme; aber, »mit dem Pfarrer sei das letzte Band mit der Welt für ihn gerissen,« ließ er sagen; – und er schien kein neues wieder anknüpfen zu wollen. Erst in späterer Zeit trat er auch mit der Witwe, die sich in Hildburghausen niederließ, in Korrespondenz und setzte diesen Verkehr in gleich geheimnisvoller Weise wie mit dem Verstorbenen, mit ihr bis zu seinem eigenen Tode fort. Viele seiner Wohlthaten gingen durch ihre Hand.


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