Laurids Bruun
Oanda
Laurids Bruun

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Das Licht

I.

Am nächsten Morgen nahm der Advokat Oanda in seinem Auto mit. Beim Gericht stieg er aus und sagte dem Chauffeur, daß er Oanda bis zu Nellys Haus fahren und sie bis an die Tür hinaufbegleiten solle; er solle mit dem Auto unten warten, und falls sie nach einer halben Stunde nicht zurückgekommen sei, hinaufgehen und melden, daß es Zeit sei zu fahren, weil Frau Tillny auf das Auto warte.

Das Automobil erregte großes Aufsehen in der Straße. Der Chauffeur, der sie die Treppen hinaufbegleitete, mußte sich durch eine doppelte Reihe von zerlumpten, unterernährten Kindern einen Weg bahnen; Oanda wollte stehen bleiben und sich mit ihnen unterhalten, der Chauffeur aber ging so schnell und bestimmt weiter, daß sie ihm folgen mußte.

Oanda klopfte an die Tür. Als niemand antwortete, öffnete sie leise und ging hinein.

Nelly schlief und atmete stöhnend durch die Nase. Das Kind lag in ihrem Arm, den Kopf an ihrer mageren Brust geborgen; ihre Finger zitterten auf seinem mageren Rücken.

Oanda wollte sie nicht wecken. Sie betrachtete das verheerte Gesicht mit den großen, schweren Lidern, unter denen die Augäpfel im Schmerz bebten; bei jedem Atemzug ging ein nervöses Zittern über die leidenden Züge.

Sie stand und dachte an alles das, was sie von diesem armen Wesen wußte, das ohne Schuld litt und in der Dunkelheit treu die Liebe bewahrte. Trotz des Schmerzes lag über ihrer Stirn ein Schimmer von Verklärung.

Nelly seufzte tief. Es zuckte in ihren Brauen. Sie befeuchtete ihre Lippen, und ihre linke Hand griff tastend zur Seite.

»Pat,« flüsterte sie.

Als sie keine Antwort erhielt, schlug sie die Augen auf, die schwer und umnebelt waren von dem Schlafmittel, das Nomura ihr gegeben hatte.

Sie blickte Oanda mit einem Blick an, der fern und suchend war. Darauf dämmerte es ihr langsam auf, daß sie das junge Gesicht dort kannte, mit dem hellen Haar, das Stirn und Ohren umbrauste, und dem blauen, aufrichtigen Blick. Sie sah vor sich eine grüne Wiese, wo sie als Kind gespielt hatte, und einen Himmel von treibenden Wolken, als die Welt noch voller Licht für sie war, und ein barmherziger Gott ihr Bestes wollte.

Oanda setzte sich auf die Kante ihres Bettes und nahm ihre Hand.

»Geht es dir jetzt besser?« fragte sie.

Nelly rang nach Luft und strich sich über die Stirn.

»Ich habe die ganze Nacht geschlafen,« antwortete sie.

»Und ich hab' wach gelegen.«

»Warum?«

Sie war jetzt bei klarem Bewußtsein und sah Oanda mit einem fragenden Blick an.

»Ich mußte immer daran denken, wie es möglich ist, daß du so unglücklich geworden bist – du, mit deinem guten Gesicht. Zu Hause auf meiner Insel geht es nur dem schlecht, der selbst schlecht ist. Hast du etwas Böses getan?«

Nelly dachte nach; eine leise Röte stieg ihr vom Ohr über die Wange, während sie in ihrem Gedächtnis suchte.

»Ich habe oft mit Joe gescholten,« sagte sie, »wenn er nach Hause kam und den halben Taglohn vertrunken hatte. Ich habe immer gut für ihn gesorgt, und meine Schuld war es nicht, daß er nach Klondyke reiste. Pat habe ich nie etwas Böses getan, und gegen seine Kinder bin ich gewesen, als ob es meine eigenen wären.«

»Du sagtest gestern, daß es in der Hölle nicht schlimmer sein könnte, als hier auf Erden. Was ist Hölle?«

»Dort kommen die Bösen hin, wenn sie tot sind. Das sagen die Priester, aber es ist Lüge. Denn wenn ich sterbe, bekomme ich Ruhe, dann hat Not und Schmerz ein Ende, dann ist es mit allem Elend vorbei.«

»Hölle – das heißt also dort, wo das Licht nicht hinreicht?«

»Ja, wie dort unten im Hof. Weshalb aber sollen wir, die nichts Böses getan haben, in die Hölle kommen, wenn die, für die wir schuften, im Ueberfluß leben?«

»Meinst du Ralph Cunning?«

»Ja, er ebenso wie die andern.«

Oandas Lippen öffneten sich schmerzvoll; Nelly aber sah es nicht; sie zog die Schultern hoch und fuhr mit einer Stimme fort, die leise und unsicher war, während sie so ungewohnte Worte formte:

»Wenn es einen guten und edlen und mächtigen Gott gäbe, würde er sich in all dieses nicht finden. Warum leuchtet er nicht in die Herzen derjenigen, die die Macht haben, so daß sie sehen können wie schlecht das Leben ist.«

Oanda beugte sich zu ihr und ihre Stimme bekam denselben leisen, vertraulichen Klang:

»Darüber habe ich ja die ganze Nacht nachdenken müssen; darum konnte ich nicht schlafen.«

Sie nahm Nellys Hand in ihre beiden und sagte innig:

»Aber du darfst nicht zweifeln. Glaube mir, eines Tages wird alles anders werden.«

Und flüsternd fügte sie hinzu:

»Mutter sagt, wenn die Dunkelheit auf Erden überhand genommen hat, dann wählt das Licht sich einen Menschen aus und füllt ihn mit Licht von seinem Licht und sendet ihn zur Errettung der Menschheit.«

Nelly zog ihren Kopf zurück und fragte mit einem großen und nachdenklichen Blick:

»Woher sollte dieser Mensch kommen?«

»Er wird geboren, wie du und ich,« – Oanda sah mit einem Blick voller Feierlichkeit vor sich hin, »das Licht in ihm aber ist so stark, daß die Dunkelheit weicht, wohin er immer kommt. Und das Licht wird von neuem im Herzen der Menschen aufglühen und eine neue Zeit beginnen.«

Sie schwieg und atmete tief auf. Nelly sah sie an, ohne sich zu rühren und Oanda fuhr fort.

»Ich habe mich noch nie so gefürchtet wie heute nacht,« – sie faltete die Hände vor der Brust, und es bebte um ihren Mund. – »Es war, als ob der Taifun in der Luft ist, und das Unwetter jeden Augenblick kommen kann.«

Nelly empfand die Angst mit ihr und blickte sich unwillkürlich um.

Oanda beugte sich näher zu ihr und flüsterte:

»Du sagtest gestern, wenn es einen Gott gäbe, dann wäre er schlecht. Diese Worte haben mich so geängstigt.«

Sie hielt inne, blickte Nelly tief in die Augen und sagte, während ihre Seelen sich trafen:

»Ich kann das Licht in deinem Herzen sehen; und dennoch zweifelst du, daß es da ist. Ich habe die ganze Nacht mit deinem Zweifel gekämpft und jetzt weiß ich, daß ich keine Ruhe bekomme, bevor ich gesehen habe, daß das Licht in dir siegt, so daß du nicht mehr zweifelst, – und in Ralph Cunning und in eurer ganzen Welt hier drüben, wo es so dunkel ist, daß ich fast ersticke.«

Nelly betrachtete sie lange. Darauf berührte sie ihre Hand und fragte:

»Was willst du tun?«

Oanda saß in tiefen Gedanken; es dauerte eine Weile, bevor die Frage ihr ins Bewußtsein drang, dann antwortete sie mit ihrer gewohnten Stimme:

»Ich will zu dem gehen, der über alle herrscht. Zum Präsidenten.«

»Was kann das nützen?«

»Er steht so hoch, daß die Dunkelheit ihn nicht erreicht.«

Nelly lachte höhnisch.

»Er ist wie die Reichen, die nur immer mehr und mehr an sich raffen wollen.«

Oanda ereiferte sich:

»Wenn die Reichen das Licht sehen könnten, dann würden sie ihm folgen, wie alle Menschen dem Licht folgen, das ihnen in der Dunkelheit leuchtet.«

»Nein, sie würden es auslöschen, wenn sie es könnten. Denn in der Dunkelheit können sie besser an sich raffen.«

Oanda blickte sie traurig an.

»Schwester,« sagte sie, »ich glaube nicht, daß ein Mensch schlecht ist. Wie kann er schlecht sein, wenn er mit dem Licht im Herzen geboren wird?«

Nelly schloß die Augen.

»Wie bist du glücklich,« sagte sie müde, »daß du daran glauben kannst!«

Oanda ergriff ihre Hand und sagte:

»Ich gebe mich nicht zufrieden, bevor du wie ich glaubst.«

Nelly wandte den Kopf ab.

»Ich glaube nur, was ich selbst sehe und fühle.«

Oanda aber ließ sich nicht beirren; sie nahm Nellys Kopf zwischen ihre Hände und wandte ihr Gesicht zu sich um.

»Du sollst es selbst sehen und fühlen,« sagte sie, »alle sollen es fühlen!« sagte sie mit tiefer Ueberzeugung. »Und haben die Reichen erst das Licht in ihrem eigenen Herzen gefühlt, dann ist die Dunkelheit überwunden und sie tun nur das Gute.«

Sie zwang Nellys Blick zu sich und entzündete ihren Willen darin.

»Was werden sie dann tun?« fragte Nelly.

»Euch aus der Hölle erlösen und einen Platz in der Sonne geben, draußen auf den grünen Wiesen, wo ich heute morgen vorbeifuhr.«

Der Blick in Nellys Augen veränderte sich, er wurde klar und sehnsuchtsvoll.

»Auf grünen Wiesen,« flüsterte sie und gedachte ihres Traumes.

»Ja, und sie werden euch von ihrem Ueberfluß geben, Nahrung und Kleidung.«

»Auch Wärme,« sagte Nelly mit Sehnsucht in den Augen, »denn Kälte ist doch das Schlimmste.«

»Auch Wärme. Und es wird keine bösen Menschen mehr geben, weil das Licht gesiegt hat, und die ganze Erde wird glücklich sein, wie van Zantens Insel.«

Nelly wagte nicht mehr zuzuhören, denn das alles war ja nur Einbildung! – Sie warf sich auf die Seite und sagte zornig:

»Warum füllst du mich mit schönen Worten, während ich hier liege und es mir so schlecht ergeht? Wenn ich dir glaubte, würde ich nur enttäuscht werden, und dann wäre die Dunkelheit noch schwerer zu ertragen als vorher. Und dann wärst auch du böse, und ich würde die Stunde verfluchen, in der du kamst.« Sie hielt inne, um Atem zu schöpfen. Darauf sagte sie klagend: »Was kann es nützen, daß du es gut meinst, wenn niemand nach deiner Meinung fragt?« Sie richtete sich auf dem Ellenbogen auf und ihr Blick wurde fieberdunkel.

»Ich will nicht glauben,« sagte sie zornig, »ich will nicht hoffen, hörst du? Da es mir im Leben nun einmal so schlecht geht, will ich wenigstens Frieden in meinem Gemüt haben.«

Sie sank müde zurück und die Lider senkten sich über ihre brennenden Augen.

Oanda hatte sie erstaunt angesehen, als ihre Stimmung umschlug. Ihr Staunen aber verwandelte sich in Mitgefühl, Sie empfand ihre Ohnmacht wie eine Wunde im Herzen; und als Nelly schwieg, sah sie sie lange an, wie sie dort mit den geschlossenen Lidern lag, im Innern mit sich kämpfend.

»Gibt es dir Frieden, wenn du zweifelst?« fragte sie sanft.

»Ja.« Nellys Stimme klang wie gebrochen vor Müdigkeit. »Nichts glauben, ist ebenso als wenn man tot ist. Der Tod ist Frieden für Leute unseresgleichen.«

»Warum lebst du denn?« fragte Oanda nach einer Weile.

Nelly öffnete die Augen einen Spalt breit und sah sie fragend an.

»Warum stürzt du dich nicht von einem eurer hohen Häuser herab?«

Nelly blickte sie erstaunt an, als ob sie ihr einen Ausweg gewiesen habe; sie prüfte ihn in Gedanken und sagte darauf zögernd:

»Was sollte dann aus ihm werden?« Sie drückte das Kind fester an sich und blickte auf die geballten Fäustchen und den großen Kopf herab. »Er hat ja keinen andern in der ganzen Welt als seine Mutter.«

»So nimm ihn mit dir!«

Nelly blickte ihr forschend in die Augen, in denen ein Ausdruck war, der sie ängstigte.

»Das sagst du?« fragte sie leise.

»Ja – wenn der Tod besser ist als das Leben.«

Nelly zögerte mit der Antwort.

»Ich weiß ja nicht, was das Leben meinem Kind noch bringen kann.«

»So hoffst du also doch noch!« sagte Oanda.

»Darf ich die Verantwortung für einen anderen Menschen übernehmen?« Aus ihrer Stimme klang eine ängstliche Bitte.

Oanda aber wollte ihr nicht zu Hilfe kommen.

»Warum nicht – wenn du dein Kind dadurch retten kannst?«

Nelly zögerte wieder, bevor sie antwortete.

»Wenn es aber einen Sinn hat, daß er in die Welt gesetzt worden ist, kann seine eigene Mutter seinem Leben doch kein Ende machen?«

»Du glaubst also doch!«

»Man kann nie wissen,« murmelte Nelly und sah zur Seite.

»Du zweifelst an deinem eigenen Zweifel,« Oanda beugte sich über sie und lächelte. »Siehst du, Schwester, gestern warst du verzweifelt, weil alles Not und Dunkelheit war und man Pat entlassen hatte. Mitten in der Not aber kam die Hilfe, und schon heute geht es dir besser. Du sollst sehen, bald wird alles hell und gut.«

»Ich will es erst sehen, bevor ich es glaube.«

»Hat man dir nicht eine bessere Wohnung versprochen! Pflege für dich und das Kleine und Arbeit für Pat und die Kinder?«

»Ich glaube nicht an Versprechungen.«

»Wenn du es aber siehst,« Oanda nahm ihre Hand und zwang sie, sie anzusehen, »wirst du dann glauben, daß das Licht in der Dunkelheit zu dir kam?«

Nellys Augen wurden groß und klar, dann flüsterte sie:

»Ich will glauben, daß du gekommen bist und meine Not gesehen hast.«

Sie führte Oandas Hand an ihre Lippen, ließ sie dann los und wandte sich hastig ab, um ihre Augen zu verbergen.


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