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XXI. Weltweihnacht

Im Speisezimmer eines der besten Hotels der Europäervorstadt im Norden Jerusalems saßen am folgenden Morgen zwei deutsche Kaufleute beim Frühstück. Der eine von ihnen, der im Knopfloch seines eleganten Reiseanzuges das Völkerbundsabzeichen trug, machte sich Notizen in seinem Durchschreibehefte.

»Die Bestellung darf ich also als fest annehmen, Herr Walther?« fragte er.

»Jawohl, Herr Müller, und ich bitte um Lieferung innerhalb eines Monats, denn da die Stadt dem Präsidenten keinen Widerstand zu leisten vermag, wird ja wohl bald alles wieder in Ordnung kommen.«

»Aber ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß sowohl der Lieferungstermin als die Preise freibleibend sind.«

»Es scheint ja mächtig zu kriseln, überall, wohin man hört, sind die Geschäfte flau und die Preise gehen wieder sprunghaft in die Höhe.«

»Ja, und dieses Mal nicht nur in Deutschland, wie nach dem großen Kriege, sondern in der ganzen Welt. Es ist ja auch nicht zu verwundern nach dem Untergange Konstantinopels. Von einem solchen Schlag kann sich die Weltwirtschaft nicht so schnell erholen.«

»Noch mehr hat aber der Weltpräsident selbst die Weltwirtschaft geschädigt.«

»Wodurch, wenn ich fragen darf?«

»Durch seine wahnsinnigen Verfolgungen der christlichen Kirchen und der messiasgläubigen Juden. Dadurch hat er gerade die tüchtigsten und zuverlässigsten Kräfte vernichtet oder kaltgestellt, so daß nun alles drunter und drüber geht. Treu und Glauben, früher die Grundlage des Geschäftslebens, ist nirgend mehr zu finden.«

»Sie werden doch nicht bestreiten wollen, daß das Christentum eine kulturfeindliche Macht ist und daß die christlichen Lehren durch die Wissenschaft als Ammenmärchen bloßgestellt sind?«

»Das bestreite ich allerdings, obwohl ich selbst kein Christ bin. Ich halte an der Häckelschen Weltanschauung, in der ich ebenso wie meine Eltern aufgewachsen und erzogen bin, fest, weiß aber von vielen Beispielen, wie im Christentum eine mir unerklärliche Macht liegt, aus verkommenen Menschen, mit denen niemand mehr etwas anfangen kann, noch etwas zu machen. Und denken Sie an die Liebe, die vom Christentum ausgegangen ist! Heute ist Weihnachtsabend. Welch ein Gemütswert war früher das christliche Weihnachten selbst für solche, die auf ganz anderem religiösen Boden standen! Sie sollten heute einmal Heiligabend in Jerusalem oder in Bethlehem mitmachen. Weshalb reisen Sie gerade heute ab?«

»Ich will von dem ganzen Kram nichts wissen. Gerade, weil heute Weihnachtsabend ist, reise ich ab.«

»Was hat Sie denn so gegen das Christentum aufgebracht? Diese Erbitterung muß doch persönliche Ursachen haben.«

»Ach, ich habe es zur Genüge erfahren, daß das Christentum eine lebensfeindliche Macht ist, die unsereinem das bißchen Lebensfreude mißgönnt.«

»Da bin ich aber gespannt.«

»Wissen Sie, wenn man viel auf Reisen ist, will man etwas Abwechselung haben. Wie so viele andere, halte auch ich mir in den Städten, wo ich oft länger zu tun habe, ein Mädchen, in deren Armen ich dann allen Geschäftsärger vergesse. Am meisten freute ich mich, wenn ich nach Stuttgart kam. Eines Tags finde ich das Nest leer. Als ich den Schaden besehe, da stellt sich heraus, daß der Pastor ihrer Heimatsgemeinde das Mädel bewogen hatte, zu ihren Eltern zurückzukehren. Bald darauf erschienen in verschiedenen frommen Blättchen entrüstete Artikel über die ›Haremswirtschaft‹ gewisser Lebemänner und mein Fall wurde als warnendes Beispiel für die jungen Mädchen breitgetreten.«

»Na, wissen Sie, ich will mich zwar nicht selbst als Tugendspiegel hinstellen, aber das muß ich doch sagen: Es könnte nur ein Gewinn für die Menschheit sein, wenn jene Warnung allgemein beherzigt würde. Man beginnt das auch in weiten Kreisen zu erkennen. Als ich im Frühjahr in Berlin war, habe ich oft das Urteil gehört: Was der Menschheit fehlt, ist allein der jetzt so geächtete und verfehmte Geist Jesu von Nazareth! Das Mitleid mit den verfolgten Christen verbreitet sich immer mehr und der Mißerfolg der letzten großen Christenverfolgung lag daran, daß Tausende von Häusern und Familien ihnen Schlupfwinkel boten, ohne der eigenen Gefahr zu achten. Ein Verwandter von mir hat in seiner Villa eine zehnköpfige Christenfamilie vierzehn Tage lang versteckt und unterhalten.«

»Sie scheinen mir von der jetzt modern werdenden Seuche der sentimentalen Schwärmerei für die ›verfolgten Christen‹ in hohem Grade angesteckt zu sein. Nun, das ist Ihr Privatvergnügen und geht mich ja nichts an. Der Zug nach Jaffa geht in einer Stunde. Der Wagen wartet schon, ich muß aufbrechen. Ihre Bestellung wird besorgt. Nun leben Sie wohl und feiern Sie Weihnachten nach Ihrem Geschmack.«

Er reichte Herrn Walther die Hand, bezahlte seine Rechnung und bestieg die Droschke, die ihn nach dem Bahnhof führte.

»Weihnachten feiern!« sagte der Zurückbleibende zu sich selber. »Es liegt eine merkwürdige Spannung in der Luft. Ich möchte wünschen, der heutige Tag wäre erst vorüber.« Dann kehrte er langsam in sein Haus zurück. Unterwegs traf er eine Schar von Christen, die singend in südlicher Richtung zogen, um den Weihnachtsabend in Bethlehem zu verbringen.

Um dieselbe Zeit waren Joseph und Hertha in einem der Wohnräume des statthalterlichen Palastes beisammen. Joseph stand im Reitkostüm zum Aufbruch bereit. Hertha hielt ihren Gatten zärtlich umschlungen und bat unter Tränen:

»Joseph, Liebster, laß mich nicht allein! Ein mir unerklärliches Grauen hat mich ergriffen und nur, wenn du bei mir bist, werde ich ruhig!«

»Es geht nicht, Herzchen, ich muß notwendig mich selbst überzeugen, wie es unseren Brüdern und Schwestern geht, die meinem Herzen jetzt ganz anders nahestehen, als sonst. Vor Gott bin ich für ihr Ergehen verantwortlich. Du und ihr alle bleibt hier unter des Herrn Schutz. Rubens Truppen können überhaupt heute noch nicht eintreffen, denn ich habe bestimmte Nachricht, daß sie noch in Ruhe lagern in der Ebene von Jesreel. Sei mein tapferes Frauchen und bezwinge diese törichten Furchtgefühle.«

»Es ist nicht kindische Furcht, es ist .... es ist .... ja, ich kann es nicht beschreiben. Joseph, verlaß mich nicht!« schrie sie schluchzend auf und warf ihre Arme um seinen Hals.

Sanft machte Joseph sich los, ergriff Hertha bei der rechten Hand und sagte: »Komm, wir wollen im Gebet vor den Herrn treten.« Er zog sie neben sich nieder auf die Knie und befahl dem Herrn sein Weib, sein Haus und alle die Ihrigen. Als sie sich erhoben, war Hertha ruhiger geworden.

Vor dem Palaste standen schon Arno, Elsbeth, Aaron und Sarah sowie Kahn mit Rebekka, um sich von Joseph zu verabschieden. Zwei Offiziere mit einem Zuge Berittener warteten.

Als Joseph und Hertha, letztere mit bleichem, ernstem Angesicht, heraustraten, äußerte Joseph scherzhaft:

»Ist das aber ein feierlicher Abschied! Gerade, als ob ich eine große Reise machen wollte! So Gott will, bin ich ja heute wieder daheim! Gott behüte euch!«

Noch einmal küßte er sein Weib und reichte den andern die Hand. Dann schwang er sich auf sein Pferd und es dauerte nicht lange, so waren die Reiter um eine Biegung des Weges verschwunden.

Der Reiterzug berührte die Stätte des alten Bethanien. Dahinter stieg das Gelände von neuem an. Von dieser Höhe führte ein steiler Abstieg zu einem tiefen, von Bergen eingeschlossenen Tale. Ein Brunnen mit einem kleinen Bassin, in dem sich Blutegel tummelten, stand am Wege, der einzige Quell zwischen Bethanien und dem Jordantale. Von hier zog sich die Straße zwischen trostlos öden Bergen hin, auf denen nirgends eine Spur einer menschlichen Wohnung zu entdecken war. Die Ruhe des Todes herrschte überall. Nur kleine Herden von Schafen und Ziegen fanden hier und da an den Abhängen dürftige Weiden.

Nach etwa dreistündigem Ritt nahmen die Felsen an düsterer Schroffheit stetig zu. Der Weg wand sich durch eine wilde Gebirgsschlucht. Oft führte er am Rande finsterer Abgründe hin, an anderen Stellen Felsen hinab, so steil und jäh, daß die Pferde aller Sorgfalt bedurften, um nicht zu stürzen.

Hier sah man in den Kalkfelsen hin und wieder Öffnungen.

»Effendim«, sagte Achmed Bey zu Joseph, »wir sind jetzt im Gebiete der Höhlen und werden sogleich am Ziele sein.«

Ein schmaler, schwindeliger Pfad wand sich steil an den Felsen empor. Den des Kletterns gewohnten Pferden machte er keine Mühe; die feierliche Stille wurde nur unterbrochen durch das Klappern der Hufe und das Poltern kleiner Steine, die sich vom Pfade lösten und in die Tiefe stürzten. Hoch oben in den Lüften aber sah man große Scharen Geier und Adler nach Norden ziehen.

Am Eingang einer großen Höhle hielt Achmed Bey.

»Hier ist die erste Höhle, Effendim.«

Joseph und die beiden Offiziere sprangen von den Pferden und betraten die Höhle. Der vordere Teil war leer. Als sie mit Hilfe ihrer Taschenlampen weiter vordrangen, fanden sie eine große Menge menschlicher Kleider, auch Feuerstätten mit zum Teil noch glimmenden Kohlen – aber keine Menschen. Sie drangen bis an den Grund der Höhle, wo Gefäße aufgestellt waren, um das von der Decke tropfende Wasser aufzufangen, aber auch hier war alles leer.

»Wo sind die Deportierten?« rief Joseph in großer Aufregung.

»Effendim, sie sind gewiß in eine andere Höhle zu den übrigen gegangen zu gemeinsamem Gottesdienst. Die glimmenden Kohlen zeigen, daß sie noch heute früh hier Feuer gemacht.«

Eilig kehrten sie an den Ausgang zurück und gingen zur nächsten Höhle. Auch dort dasselbe Bild. Zur dritten und weiter bis zur letzten. In allen Höhlen Kleider und allerlei Habseligkeiten, sogar die Geldtaschen waren da – aber nicht ein einziger der Deportierten.

»Hier ist offenbar ein schauriges Verbrechen geschehen!« rief Joseph in furchtbarem Zorn. »Heute morgen muß der Überfall erfolgt sein. Man hat ihnen all ihr Eigentum genommen, sie nackt hinweggetrieben und irgendwo in der Wüste ermordet. Vielleicht bald werden die Schurken kommen, um ihre Beute abzuholen. Ein ganzer Stamm muß den Überfall ausgeführt haben; er muß von Kundigen den Zufluchtsort erfahren haben. Diese Kundigen können niemand anders sein als ihr, Achmed und Zia Bey, ihr habt die Wehrlosen verraten! Soldaten greift die Verräter!«

Nach kurzer Gegenwehr wurden die beiden Offiziere gefesselt und an die Felswand gestellt.

»Ladet!« befahl Joseph.

»Legt an!«

Gerade wollte er den dritten Befehl geben: »Feuer«, da schaute er wie zufällig in die Höhle hinein. Was war das?

Ein wunderbarer Lichtschein drang aus dem Hintergrund der Höhle hervor. In diesem Lichtschein sah Joseph eine majestätisch gebietende Gestalt in verschwimmenden Umrissen. Eine Stimme wie Glockenton rief: »Joseph!«

Joseph sank zu Boden: »Herr, wer bist du?«

»Ich bin nur ein Bote des Königs aller Könige. Joseph, versündige dich nicht an unschuldigem Blut. Du suchst die Versiegelten? Sie sind nicht hier. Sie sind entrückt zu ihrem Herrn und zu deinem Herrn. Sei getrost und kehre heim, du wirst hören, was du zu tun hast.«

Der Lichtschein war verschwunden. Joseph erhob sich. Bleich vor Schrecken erhoben sich die Soldaten von der Erde.

»Wir sahen ein Feuer in der Höhle und hörten ein Donnern.« Die Offiziere standen ungefesselt da.

»Wer hat ihnen die Fesseln abgenommen?«

»Ein Feuer versengte ihre Fesseln und verbrannte sie nicht.«

»Verzeiht, daß ich euch unrecht getan«, sagte Joseph und reichte den Offizieren die Hand.

»Effendim, der Schein war gegen uns. Aber was hat Euch von unserer Unschuld überzeugt?« fragte Achmed Bey in ehrerbietiger Haltung. Nur Joseph hatte die Worte des Engels gehört.

Joseph berichtete von der Erscheinung und von der Stimme, die er gehört.

»Gepriesen sei Allah der Allbarmherzige«, rief Zia Bey aus, »der große Imam Schekür Effendi hat immer gesagt: Bald wird erscheinen der Tag, wo Issa ben Mirjam, der große Prophet, wiederkommt auf die Erde, um alles zurechtzubringen. Der Tag ist nahe herbeigekommen. Die Engel des Allmächtigen sammeln die Heiligen von allen Enden der Erde. Wir aber sind Sünder!« schloß er mit einem tiefen Seufzer.

»Der Herr wird sich unser erbarmen und uns nicht verstoßen, wenn wir seinen Namen anrufen«, erwiderte Joseph. »Laßt uns hier alle miteinander niederknien und dem Herrn unsere Seelen befehlen.«

So knieten in dieser öden Wildnis ein Jude und ein Trupp türkischer Soldaten nieder und beteten den an, der da kommen wird zu richten die Lebendigen und die Toten. Zum ersten Male empfand Joseph mit tiefer Scham, was es heißt, ein Sünder zu sein. Er spürte den gähnenden Abgrund, der zwischen ihm, dem Sünder, und Jesus bestand, und ihm wurde klar, daß es eine Überhebung war, zu meinen, durch seinen Entschluß, sich fortan auf die Seite des Messias zu stellen, sei seine ganze Vergangenheit ausgelöscht. Er flehte den Herrn an, sich seiner zu erbarmen und ihm um seines blutigen Todes willen alle seine Sünden zu vergeben.

»Herr, meine Sünde lastet auf meiner Seele, ich habe deine Gemeinde und damit dich verfolgt! Ich habe dein Gericht verdient. Herr rette mich und mein Weib!«

Ein großer Friede kam nach dem Gebet über Joseph. Er stand auf mit der dankesfrohen Gewißheit, daß der Herr ihn, den großen Sünder, zu Gnaden angenommen und daß Er trotz aller seiner Sünde die im Traum gegebene Verheißung wahr machen werde.

Die Türken knieten noch immer. Das entfachte Feuer der Sehnsucht nach dem lebendigen Gott durchbrach die festgefügten Schranken der religiösen Sitte. Vielleicht zum ersten Male in ihrem Leben beteten sie nicht in den üblichen, vorgeschriebenen Formeln, sondern aus Herzensgrund.

Als sie sich erhoben hatten, zeigte der Zug der Ehrfurcht auf ihren Angesichtern, daß sie die Nähe Gottes gespürt.

»Nun laßt uns aufbrechen und heimwärts reiten«, mahnte der Statthalter, »sonst überrascht uns die Nacht.«

Der Heimritt war ganz anders als der Ritt am Vormittag. Das gewaltige gemeinsame Erleben hatte sie alle fest miteinander verbunden. Schweigend ritten sie durch die Felsenwildnis, während über ihnen noch immer Scharen von Raubvögeln in gleicher Richtung zogen. Als sie die Talsenkung hinter den Ruinen Bethaniens durchquert, führte der Weg links um den Ölberg herum. An der Biegung des Weges sahen sie die Heilige Stadt mit dem Tempel; an dem schon dunkelnden Himmel stand der geheimnisvolle helle Stern. War sein Licht nicht heller als sonst? Ein strahlender Glanz flutete von ihm aus. Es war, als ob von diesem Mittelpunkt aus Blitze über den Himmel fuhren und als ob Scheinwerfer die Erde abtasteten, um auch in die verborgensten Klüfte und Felsspalten ihr Licht zu bringen.

»Welch eine heilige Nacht!« sagte Joseph zu sich selber.

Endlich waren sie auf dem Gipfel des Ölberges angelangt. Sie hielten im Hofe des Palastes.

»Gehabt euch wohl, Brüder! Was auch kommen möge, lasset uns wachend und wartend erfunden werden, wenn der Messias kommt«, rief Joseph mit lauter Stimme. Dann sprang er vom Pferde. Ein Diener führte es in den Stall, während der Statthalter in den Palast eintrat.

Da öffnete sich eine Tür, und wie eine Taube sich flüchtet in die Felsspalten des Gebirges, so flog Hertha ihrem Gatten entgegen und barg ihr Haupt zitternd an seiner Brust.

»Gelobt und gepriesen sei der Herr, daß du da bist, Geliebter!« rief sie mit erstickter Stimme, dann sank sie besinnungslos nieder auf die Marmorfliesen.

Joseph hob sie auf und trug sie auf seinen Armen in ihr Gemach. Erst nach einigen kalten Umschlägen auf Kopf und Herz schlug sie die Augen wieder auf. Sie ergriff Josephs Hand und hielt sie fest, als ob sie sich daran anklammern wollte.

»Liebchen, was ist dir? Was hat dich so erregt?«

»Du weißt nicht, was ich hier erlebt! Arno, Elsbeth, deine Eltern, Herr Kahn und Rebekka ...« Sie verbarg ihr Antlitz in ihren Händen.

»Was ist mit ihnen?« Doch kaum hatte er die Frage ausgesprochen, da dachte er an die leeren Höhlen und die Botschaft des Engels. Ein Licht des Verständnisses ging über sein Angesicht.

»Sie sind fort, fort von der Erde, entrückt in die Herrlichkeit.«

»Erzähle, wie alles kam.«

»Kaum waret ihr fort, da vereinigten wir uns um Gottes Wort und zum Gebet. Wohl noch nie habe ich so stark empfunden, wie weit ich hinter den Geschwistern zurückgeblieben, als in dieser Stunde. Bei ihnen alles jubelnde, jauchzende Freude, in mir nichts als zitternde Angst. Wir hatten eben unser gemeinsames Gebet beendet, da erschien ein wunderbares Leuchten auf den Angesichtern der anderen. Das Leuchten überstrahlte ihren ganzen Körper. Dann sah ich nur ein großes strahlendes Licht, das meine Augen blendete; ich sank zu Boden, und als ich mich wieder erhob, waren sie nicht mehr da. Nur ihre Kleider lagen an der Stelle, wo sie gestanden. Sie sind gewürdigt, teil zu haben an der Entrückung und ich muß zurückbleiben. Sie waren bereit, ich war es nicht. Sie gleichen den klugen Jungfrauen. Mir ist die Tür verschlossen. Wehe mir Unglücklichen! Zu spät, zu spät.« Hertha rang ihre Hände.

»Verzweifle nicht, Geliebte«, sagte Joseph ernst und liebevoll, »du bist nicht allein. Ich bin ja auch noch da und weiß seit heute, daß der Herr mir alle meine Sünden vergeben hat. Wenn er für mich Gnade hat, sollte er für dich keine haben? Und wenn wir auch nicht zur verklärten Erstlingsschar gehören, so hat der Herr doch noch Aufgaben für uns auf Erden. Darum sei getrost und fürchte dich nicht. Laß uns in Buße und Glauben heranreifen für die Aufträge, die der Herr für uns hier noch in Bereitschaft hat. Mit den Verklärten aber bleiben wir verbunden, das ist mir gewiß.«

Wie lindernder Balsam fielen Josephs Trostesworte in Herthas wunde Seele. Dann erzählte er ihr von seinem wunderbaren Erleben in den Kalkhöhlen der Deportierten.

Hertha hatte sich erhoben. Beide standen am Fenster und schauten auf die in wunderbarem Lichte glänzende Stadt.

»Meine Seele wird wieder still werden«, sagte Hertha leise. »Ich will sie willenlos in Jesu Hände legen.«

»Ja, Liebchen, wir wollen jeder die Pflichten erfüllen, die der Herr uns aufgetragen hat, und geduldig warten, was er mit uns und mit der Menschheit tun wird. Er ist Richter und sein ist das Erdreich.«

Der Diener Mechmed trat ein: »Effendim, es sind Herren aus der Stadt da und wünschen Euch zu sprechen.«

»Führe sie in das Empfangszimmer.«

»Inzwischen werde ich mich überzeugen, ob das Abendbrot bereitet ist«, sagte Hertha und verließ das Zimmer.

Als Joseph das Empfangszimmer betrat, fand er daselbst Abordnungen der jüdischen und der christlichen Gemeinden.

Der Sprecher der jüdischen Gemeinde berichtete von dem rätselhaften Verschwinden des Obersten der Priesterschaft und der meisten Priester. Der Tempeldienst könne daher nicht mehr durchgeführt werden. Die Abordnung der christlichen Gemeinden brachte ähnliche Klagen vor. Gerade die besten und gereiftesten Christen seien am Vormittag plötzlich fortgewesen. Einzelne behaupteten, sie seien unter wunderbaren Lichterscheinungen gestorben, aber ihre Körper seien nirgends zu finden, nur ihre Kleider seien zurückgeblieben. Dazu kämen beunruhigende Gerüchte, längst Verstorbene seien gleichzeitig gesehen worden, ja einzelne behaupteten, sie hätten mit ihnen gesprochen.

»Es sind das alles Zeichen, daß Jeschua, der Messias, nahe ist. Kehret zurück und sammelt alles Volk in dem äußeren Vorhof des Tempels. Ich werde kommen und selbst zu dem Volke reden.«

Als die Abordnungen den Palast verlassen, war das Mahl bereitet. Joseph erzählte seinem Weibe, daß er noch diesen Abend in die Stadt müsse, um das aufgeregte Volk zu beruhigen. Hertha bat ihn darauf dringend: »Nimm mich mit. Was auch kommen mag, wir gehören zusammen, und wollen alles gemeinsam erleben.«

»Gern, in etwa einer Stunde müssen wir aufbrechen, mache dich fertig, wir reiten.«

Es war etwa 8 Uhr abends geworden, als Hertha in einem neuen Reitkleide, das Joseph ihr beschafft hatte, in der Vorhalle auf ihren Gatten wartete. Als Joseph kam, bestiegen sie die bereitstehenden Pferde und ritten, nur von dem treuen Diener Mechmed begleitet, den Ölberg hinab und dann wieder zur Stadt hinauf. In der Nähe des Stephanstors hörten sie schon ein Summen wie von Tausenden von Menschenstimmen. Auf der Via Dolorosa drängten und schoben sich die Menschen, alle mit Laternen in den Händen, nach dem Gebrauch des Orients, obwohl die strahlend helle Nacht jede Beleuchtung überflüssig machte. Mechmed ritt voran, und seinem energischen Rufen gelang es mit Mühe, dem Statthalter und seiner Gattin Bahn zu machen.

»Platz für Se. Hoheit, den Statthalter Jussuf Türkisch = Joseph. Pascha, und seine erhabene Gemahlin!« Ehrerbietig traten die Menschen beiseite.

»Lange lebe Jussuf Pascha, der Statthalter!« erscholl es, zunächst vereinzelt, dann immer allgemeiner aus der Menge.

Bald waren sie am Eingang des äußeren Vorhofs des Tempels. Tausende warteten schon und andere Tausende fluteten nach. Mechmed mit den Pferden blieb draußen.

Auf der Treppe zu den inneren Vorhöfen standen die Häupter der jüdischen Gemeinde und begrüßten Joseph und Hertha.

Als Joseph die Treppe hinaufgestiegen war und sich zur Menge umwandte, verstummte das Stimmengewirr. Joseph redete zum Volke: »Männer und Frauen von Jerusalem, Brüder und Schwestern! Wunder und Zeichen sind unter uns geschehen, wie zu den Zeiten der Propheten und Apostel. Die Geweihten des Herrn, die Versiegelten und Geheiligten, sind nicht mehr unter uns, sie sind entrückt zu ihrem Herrn und zu unserem Herrn. Sie werden mit ihm wiederkommen, um alle seine Feinde zu vernichten und das neue Reich aufzurichten, auf das wir warten. Wir stehen an der Wende eines neuen Äons der Menschheitsgeschichte. Das Alte sinkt dahin, eine reinere Menschheit wird unter dem Szepter Jeschuas, des Messias, die Erde bevölkern und zum Paradiese machen. Eine heilige Weihnacht ist über die Erde gekommen, wie jene zu Bethlehem. Doch heller strahlt das Himmelslicht als einst über der Krippe, kündend Feuerflammen der Rache über die, die der Wahrheit nicht gehorchen, aber Wonne und Erquickung denen, die seine Erscheinung lieb haben. Endlich wird der Lobgesang der Engel verwirklicht: ›Friede auf Erden.‹ Ihr seht das Zeichen des Menschensohnes und sein strahlendes Licht. Erhebet eure Häupter, darum, daß sich eure Erlösung naht.«

Alle folgten der Aufforderung. Joseph aber schwieg, denn es war ihm, als höre er eine wunderbare Musik, wie ein Orchester von Millionen feiner zarter Instrumente. Dann hörte er, ja sie hörten alle einen Gesang in der Höhe, zuerst leise, dann anschwellend zu einem Brausen, wie dem Rauschen gewaltiger Wasserfälle:

Halleluja!
Der allmächtige Gott hat das Reich eingenommen.
Lasset uns freuen und fröhlich sein
und ihm die Ehre geben,
denn die Hochzeit des Lammes ist gekommen
und sein Weib hat sich bereitet! Offb. 19, 6-8.

Da wandelten sich die zuckenden Strahlen des Wundersternes in leuchtende Gestalten, Tausende und aber Tausende. In ihrer Mitte aber thronte auf einer lichten Wolke die Gestalt des Menschensohnes. Offb. 19, 11-16. Sein Antlitz leuchtete wie die helle Sonne und auf seinem Haupte waren viele Kronen. Sterne leuchteten von den Kronen und deren hellster war der Wunderstern, das »Zeichen des Menschensohnes«.

Aus seinem Munde sahen sie einen Lichtstrahl gehen wie ein gezücktes Schwert. Die himmlischen Heerscharen verstummten und der König aller Könige redete: »Ich bin der Wurzelsproß aus Davids Stamm, der helle Morgenstern: Kommt her ihr Gesegneten meines Vaters, ererbet das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern« – der Herr wies auf die Vollendeten, die seinen Thron umgaben – »das habt ihr mir getan.« Offb. 22, 16; Matth. 25, 34. 40.

Die unabsehbaren Scharen derer, die den Vorhof des Tempels füllten und die noch draußen auf den Straßen sich drängten, waren beim Engelgesang niedergefallen auf ihr Angesicht. Bei den Worten des Menschensohnes aber hatten sie sich erhoben und wie aus einem Munde sangen sie nun als Antwort:

Halleluja!
Gelobet sei, der da kommt im Namen des Herrn!
Hosianna in der Höhe. Matth. 23, 39; Offb. 1, 7; Jes. 30, 29. 30.

Die Erscheinung verschwand und man sah nur noch den Stern, dessen zitternde Strahlen das Dunkel der Erde zerteilten.

Ruhig, in feierlichem Ernst gingen die Massen auseinander. Niemand achtete mehr auf den Statthalter und sein Weib. Ihre Augen leuchteten von Seligkeit. Hand in Hand gingen sie dem Ausgange zu, wo Mechmed mit den Pferden stand.

»Gelobt sei Issa ben Mirjam, der neue Herr der Erde«, rief er ihnen entgegen.

»Ja, Mechmed, nun gibt es nicht mehr Christen, Juden und Mohammedaner; nun sind wir alle, alle Brüder und Diener des Menschensohnes.« Joseph umarmte den Türken und küßte ihn auf beide Wangen.

Als sie heimwärts ritten, schien ihnen alles verwandelt. Ein Singen und Klingen war in der Luft und ein eigener Glanz lag auf allen Bäumen. Die alten Oliven Gethsemanes hatten ihr düsteres Aussehen verloren. Das Licht des Sternes hatte sie mit Silberfäden umwoben, daß sie leuchteten wie Weihnachtsbäume. Oben aber auf dem Ölberg knieten sie nieder und beteten an.

Vollendung der Weihnacht, Weltweihnacht, o welche Seligkeit!


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