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XII. Verschärfung der Gegensätze

Fritz Werner litt schwer unter Herthas Absage, denn er liebte sie mit der ganzen Innigkeit seiner Seele. Es war ihm nie der Gedanke an die Möglichkeit gekommen, daß er und die Jugendgespielin einmal nicht ein Paar werden könnten. Er fühlte das Bedürfnis, für einige Wochen ganz in die Stille zu gehen. So reiste er nach Teichwolframsdorf, jenem gesegneten Erholungsheim bei Werdau in Sachsen. Von dem geistgesalbten Reichsbruder Johannes Seitz um die Wende des Jahrhunderts gegründet, war es Tausenden von Leidenden zum Segen geworden; viele hatten auch durch Handauflegung und Gebet leibliche Heilung dort gefunden. Auch Fritz durfte es erfahren, daß Jesus auch heute noch die Mühseligen und Beladenen, die sich zu ihm flüchten, zu erquicken vermag.

Als er nach Hause zurückkehrte, hatte er mit seiner Liebe zu Hertha abgeschlossen, seine Nerven waren wieder in Ordnung und ein wichtiger Entschluß war in ihm gereift. Es war ihm klar geworden, daß Gott ihn in seinen speziellen Dienst haben wollte. Das wichtigste Erfordernis war jetzt, die zerstreuten Kinder Gottes auch außerhalb der evangelischen Gemeinden zu sammeln und zusammenzuhalten. Durch den ermordeten Pfarrer Waldholz waren die höheren kirchlichen Instanzen auf Fritz aufmerksam geworden, und so war das Anerbieten an ihn herangetreten, Evangelist im Dienst der evangelischen Kirche zu werden. Nach ernstem Gebet hatte er mit Freudigkeit das Anerbieten angenommen. So bittere Szenen er deshalb auch mit seinem Vater durchzumachen hatte, blieb er doch fest bei seinem Entschluß.

Augenblicklich mußte er bei den Vorbereitungen zu einer großen kirchlichen Konferenz behilflich sein. Es handelte sich um eine öffentliche Zusammenkunft evangelischer und katholischer kirchlicher Kreise, um die Einigkeit und brüderliche Gesinnung, wie sie sich seit der Thronbesteigung des jetzigen Papstes eingestellt, auch öffentlich kundzugeben und über gemeinsame Maßnahmen zu beraten. Mit ganzem Herzen beteiligte er sich an den Vorarbeiten, denn sowohl er, als auch Graf Wildenstein und seine Söhne waren schon seit Jahren Mitglieder des »Bundes für interkonfessionelle Verständigung«.

Nun trat ein Ereignis ein, welches die ganze Konferenz in Frage stellte: der Weltbundpräsident war mit einem großen Luftgeschwader zum Besuche der italienischen Republik in Rom erschienen. Dabei hatte er auch dem Papst einen Besuch gemacht. Was bei diesem Besuche verhandelt worden war, darüber bestanden bis jetzt nur Vermutungen. Tatsache aber war, daß der Präsident unmittelbar darauf den Papst für abgesetzt erklärte und den Führer des Modernismus in der katholischen Kirche, den Professor Luigo Ottavio, zum Papste vorschlug. Das in aller Eile zusammengerufene Kardinalskollegium, dessen meisten Mitgliedern die entschiedene feste Glaubensrichtung Pius' XII. zuwider war, fand sich gefügig und ernannte den Professor zum Papst, der nun den Namen Leo XV. annahm. Da Pius XII. nicht vom Platze wich und die Absetzung sowie die Neuwahl für null und nichtig erklärte, auch die Schweizer Garde zu ihm hielt, griff auf Veranlassung des Präsidenten die italienische Regierung ein und vertrieb Pius XII. aus Rom. Pius sprach den Bann aus über den Usurpator des päpstlichen Thrones und flüchtete nach Deutschland, wo er in einem Franziskanerkloster Wohnung nahm. Soweit war die Entwicklung bekannt. Wie würde sich der deutsche Episkopat stellen? Das war nun die brennende Frage.

Da kam ein Schreiben des Kardinal-Erzbischofs von Köln, in dem er mitteilte: Auf Wunsch Seiner Heiligkeit des Papstes Pius XII. gedenke er selbst an der Konferenz teilzunehmen und er hoffe, daß noch mehrere der deutschen Bischöfe sich ihm anschließen würden. Damit war die Konferenz gesichert, denn nun war die Beteiligung der Katholiken keine Frage mehr. Fieberhaft wurde nun von Fritz und seinem kleinen Stab von Mitarbeitern gearbeitet. Die Schreibmaschinen klapperten, die Telephonklingel raste. Endlich war alles besorgt und der Konferenztag herangekommen. Die alten Wildensteins, die inzwischen zu ihrem Sohne gezogen waren, Arno und Elsbeth waren auch erschienen, der Graf als Deputierter der Stadtsynode, die anderen als Tribünenbesucher. Die Konferenz fand im größten Saale Berlins statt.

Die hervorragendsten Persönlichkeiten beider Kirchen waren anwesend. Am Vorstandstische saß der Erzbischof von Berlin, der Primas der evangelischen Kirche Deutschlands, mit dem Präsidenten der Generalsynode und der Kardinal-Erzbischof von Köln als Primas der katholischen Kirche Deutschlands mit dem Präsidenten des Katholikentages. Den Vorsitz führte der Erzbischof von Berlin als der, von dem die Einladung ausgegangen war. In der Presseloge saßen Berichterstatter aller großen Zeitungen.

Der Erzbischof von Berlin eröffnete die Sitzung und begrüßte herzlich die Vertreter beider Kirchen. Seiner Rede lag das Wort aus Joh. 10 zugrunde: »Es wird Eine Herde und Ein Hirte sein.« Er gab zunächst einen Überblick, wie sich in den Monaten seit der Thronbesteigung des Papstes Pius XII. das Verhältnis der evangelischen und der katholischen Kirche immer inniger gestaltet habe und führte geschichtliche Beispiele an, wie z. B. in Armenien um die Wende des Jahrhunderts, wo auch ein auf verschiedenen Konfessionen gleichzeitig lastender Druck die Reibungsflächen zwischen ihnen vermindert und das Bewußtsein der Gemeinschaft verstärkt habe. Nicht nur in Deutschland sei diese Entwicklung zu beobachten, sondern in allen Ländern der Erde. Es gehe wie ein Aufatmen durch die Christenheit. Mit bewegtem Herzen eröffne er diese Konferenz, deren große kirchengeschichtliche Bedeutung ja jedem einleuchte. Es sei die erste gemeinsame Konferenz beider Kirchen, und mit anbetendem Herzen dürfte die Gemeinde des Herrn erkennen, daß sich die Erfüllung des Wortes anbahne: Es wird Eine Herde und Ein Hirte sein. Mit tiefem Schmerze hätten die Evangelischen vernommen, durch welch eine schwere Krisis die katholische Schwesterkirche jetzt geführt werde, aber er habe die Zuversicht zu Gott, daß, wie die evangelische Kirche ihre Krisis mit Gottes Hilfe bestanden, so auch die katholische Kirche siegreich aus dieser schweren Zeit hervorgehen werde und die Bestrebungen auf Verständigung zwischen beiden Kirchen dadurch nicht gefährdet würden. Die Versammlung werde nun gewiß aus dem Munde des hochverehrten Herrn Kardinal-Erzbischofs Näheres über die Entwicklung der Angelegenheit erfahren.

Unter atemloser Spannung der Versammlung nahm hierauf der Kardinal-Erzbischof von Köln das Wort: »Wir stehen an einem Wendepunkt der Geschichte«, so etwa führte er aus. »Jahrhundertelang hat keine äußere Gemeinschaft zwischen der katholischen Kirche und ihren getrennten Brüdern bestanden. Fromme Christen aus beiden Lagern haben das stets bedauert und sich nach einer Betätigung und Kundgebung der innerlich vorhandenen Gemeinschaft des Glaubens gesehnt. Die Päpste der Vergangenheit haben die Zeit dafür noch nicht für gekommen erachtet. In immer mehr ausgebildeten Kampf- und Abwehrorganisationen standen sich beide Kirchen gegenüber. Die Kluft zwischen ihnen wurde immer größer, während das wirkliche, innerliche Glaubensleben der Kreise, deren Gebet die Arbeit der Kirchen trug, einander immer ähnlicher wurde. Mit seligem Staunen machten wieder und wieder einzelne von hüben und drüben die jedesmal wie eine beglückende Neuigkeit empfundene Entdeckung, daß der wesentliche Inhalt des Glaubenslebens auf beiden Seilen nichts anderes ist als der gekreuzigte und auferstandene Sohn Gottes, dessen Wiederkunft zum Gericht über die Welt und zur Erlösung der Seinen die Kirche erwartet. Die große Krisis, die die evangelische Kirche durchgemacht, hat sie von der Rücksichtnahme auf solche, die nicht auf diesem Glaubensboden stehen, befreit. Andererseits hat die Erstarkung innerlichen, auf der Heiligen Schrift ruhenden Glaubenslebens in der katholischen Kirche dem Heiligen Vater Freudigkeit gegeben, mit so manchen volkstümlichen Mißbräuchen, die nicht nur den Evangelischen ein Anstoß waren, aufzuräumen. So ist der Boden für eine Verständigung, wie sie durch die Bulle Seiner Heiligkeit: Irreparabile damnum angebahnt war, geschaffen. Nun ist über Nacht eine schwere Krisis über die katholische Kirche hereingebrochen. Es ist die Zeit gekommen, die der heilige Johannes im Geiste geschaut. Aus dem Völkermeer hat sich das scheußliche Tier erhoben, der Antichrist, und hat den Kampf gegen die Heiligen Gottes eröffnet. Er hat es gewagt, das ehrwürdige Oberhaupt der katholischen Kirche, Seine Heiligkeit den Papst Pius XII., für abgesetzt zu erklären. Leider hat die Mehrheit der Kardinale, meist Italiener, sich dem Willen des Mächtigen gebeugt und den fanatischen Gegner des überall aufgekeimten Glaubenslebens, den Führer der halb- und ungläubigen Kreise unserer Kirche, zum Papst gewählt. Wir haben getan, was wir konnten, aber wir blieben in der Minderheit. Der Papst hat den falschen Papst und jene Kardinäle in den Bann getan. Ein tiefer Riß geht nun durch die katholische Kirche. Sofort sind wir deutschen Bischöfe zusammengetreten. Nur einer von ihnen hat sich für den Pseudopapst erklärt, wir anderen stehen fest zusammen. Nicht in allen Ländern steht es so günstig. Italien, Frankreich, Belgien stehen geschlossen zum falschen Papst; wir können dort nur auf kleine Minderheiten, die sich um verschiedene Klöster scharen, rechnen. Dagegen stehen Österreich, Spanien, Portugal und die katholisch unierte Kirche des Orients, sowie sämtliche Missionen zu uns. Es ist selbstverständlich, daß die meisten Orden dem alten Papst treu geblieben sind. Bei uns in Deutschland wollen wir uns nicht verhehlen, daß nicht das gesamte katholische Volk uns folgen wird. Alle, die nur um der äußeren Gebräuche willen und ohne tieferes religiöses Bedürfnis zur katholischen Kirche gehören, werden sich jenem Bischof anschließen, der als ›aufgeklärter‹ Lebemann bekannt ist und sogar mit den Kreisen der sogenannten ›Protestantischen Religionsgesellschaft‹ Fühlung hat. So haben wir also in Zukunft damit zu rechnen, daß neben der katholischen Kirche ihr satanisches Zerrbild steht, ebenso wie wir neben der evangelischen Kirche ihr dämonisches Zerrbild in der ›Protestantischen Religionsgesellschaft‹ sehen. Die Ziele der Kirchenpolitik des Weltbundpräsidenten liegen ja klar zutage. Der Kommunismus hat sich überzeugt, daß es ohne Religion nicht geht und daß ohne sie die Menschen zu wilden Tieren werden. Da er aber die christliche Kirche leidenschaftlich haßt, so will er eine Pseudokirche schaffen, die eine Stütze des antichristlichen Weltbundes ist und die Menschheitsidee vergöttert. Auf protestantischem Gebiet fand er eine solche Entwicklung schon vor; die griechisch-russische Kirche, des Cäsaropapismus gewöhnt, wird sich ihm fügen. Da wollte er auch auf katholischem Boden eine ›Kirche‹ nach seinem Willen schaffen. Nicht lange und er wird jene Pseudokirchen fest miteinander verbinden. Lassen Sie uns ihm zuvorkommen und unsere Kirchen fest und innig miteinander vereinigen als die ›Vereinigten christlichen Kirchen‹. Ich habe die Anregung auch in den anderen Ländern gegeben. Der Heilige Vater ist damit einverstanden und sendet der Versammlung seinen apostolischen Gruß und Segen.«

Beide Reden wurden mit stürmischem Beifall aufgenommen und es wurde nun ein »Ausschuß der vereinigten christlichen Kirchen Deutschlands« gewählt, zur Hälfte aus Evangelischen, zur Hälfte aus Katholiken bestehend, dem die Aufgabe zugewiesen wurde, gemeinsame Angelegenheiten beider Kirchen dem Staate oder anderen Religionsgesellschaften gegenüber zu vertreten; auch wurde beschlossen, bei den Kirchen der anderen Länder die Wahl eines Zentralausschusses aller Kirchen zur Vertretung ihrer Angelegenheiten dem Weltbund der Völker gegenüber anzuregen.

Über die Stellung der Christen dem Staate gegenüber wurden Richtlinien aufgestellt. Auch dem antichristlichen Staate gegenüber bleibe es bei Pauli Grundsatz: »Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat«, doch mit der Einschränkung, daß man Gott mehr gehorchen soll als den Menschen. Als Volksvertreter dürfe ein Christ wohl in die verschiedenen Räte sich wählen lassen und so seinen Einfluß in die Wagschale legen; dagegen sei es seiner unwürdig, aus den Händen des antichristlichen Staates ein Amt sich übertragen zu lassen. In bezug auf die politische Vertretung der Kirche wurde beschlossen, es allen christlichen Parlamentariern zur Pflicht zu machen, zu einer gemeinsamen christlichen Partei zusammenzutreten, die für alle politischen und wirtschaftlichen Standpunkte, vom konservativen bis zum kommunistischen, Raum habe und nur durch die Vertretung christlicher Gedanken im Volksleben zusammengehalten werde. Da fast sämtliche christlichen Parlamentarier anwesend waren, so hatten diese Gelegenheit, ihr Einverständnis mit diesem Beschluß zu erklären. Damit hatte das Zentrum in bisheriger Form aufgehört zu existieren und erstand in neuer Form als interkonfessionelle christliche Partei. Zum Organ der neuen Partei wurde die im Frühjahr auf Grund der Bulle » Irreparabile damnum« gegründete große Tageszeitung »Der christliche Beobachter« bestimmt. Von allen patriotischen Kundgebungen und Festen zu Ehren des Weltvölkerbundes oder seines Präsidenten haben die Christen sich fernzuhalten. Fahnen, Flaggen und Abzeichen des Weltvölkerbundes haben sie streng zu meiden. Dagegen wurden sie ermahnt, zu wachen und zu warten eines anderen, eines unbeweglichen, unerschütterlichen, unvergänglichen Reiches, des Königreiches Jesu Christi, durch welches das Weltreich vernichtet werden wird. Dan. 2, 34. 35. 44. 45. Darum sei die Bitte der Christenheit dieselbe, wie sie ausgedrückt war im Gebetswunsch der ältesten Christengemeinden: »Es vergehe die Welt. Es komme das Reich. Maranatha. Komm Herr Jesu.« Die Besprechung war sehr lebhaft, aber durchaus einmütig. Mit inbrünstigen Gebeten der beiden Erzbischöfe schloß die eindrucksvolle, denkwürdige Versammlung. Am nächsten Sonntag sollten alle evangelischen und katholischen Bischöfe in einem Hirtenbriefe ihren Diözesanen von den Beschlüssen der Konferenz Mitteilung machen.

Arno war tief ergriffen von dem Gehörten. Doch auf dem Heimwege war er zunächst ganz still. Zu Hause ging er mit Elsbeth in seine Studierstube und sagte: »Elsbeth, ich sehe ein, daß ich mich in der Beurteilung des Weltvölkerbundes geirrt habe. Die einmütige Überzeugung der gläubigen Gemeinde ist für mich natürlich maßgebend. Du hattest recht gesehen. Es gilt eben auch hier wieder das Wort: ›Was der Verstand der Verständigen nicht sieht, das schauet in Einfalt ein kindlich Gemüt.‹« Damit küßte er sie auf die Stirn.

Elsbeth umarmte ihren Gatten unter Tränen der Freude und sagte: »Und nicht wahr, Arno, nun lesen wir einmal miteinander alle prophetischen Stellen des Neuen Testaments?«

»Gern, Liebchen«, sagte Arno, »wir wollen gleich heute anfangen.«

Auf dem Schreibtische lagen die eingegangenen Postsachen. Darunter war ein Schreiben des Kircheninspektors an den Gemeindekirchenrat. Dem Schreiben lag ein Zirkular des Vorstandes der Protestantischen Religionsgesellschaft bei, in dem zur Belebung des kirchlichen Lebens empfohlen wurde, den Wanderredner und Heilkünstler August Heidmann in den Kirchen sprechen zu lassen und ihm etwa die Sakristei oder einen anderen geeigneten Raum in der Kirche zu seiner Heiltätigkeit zur Verfügung zu stellen. Die Erfahrung habe gezeigt, daß er wohl imstande sei, die Kirchen zu füllen, so daß eine Hebung des Kirchenbesuches davon zu erhoffen sei. Der Kircheninspektor teilte dazu mit, daß ein Plan für die Reisen des Herrn Heidmann aufgestellt sei. Augenblicklich wirke er in der Lutherkirche in Berlin und dann käme seine Kircheninspektion an die Reihe. Er bitte die Gemeinden, die darauf reflektierten, ihm baldigst Mitteilung zu machen. Arno mußte das Schreiben dem Gemeindekirchenrat vorlegen, beschloß aber zuerst, sich selbst einen Eindruck von der Arbeit des Heilkünstlers zu verschaffen.

So fuhr er am nächsten Tage nach Berlin. Schon eine Stunde vor Beginn des Vortrags war der Platz vor der Kirche schwarz von Menschen. Endlich wurde die Kirche geöffnet und ein lebensgefährliches Gedränge setzte ein. Nur mit Mühe erhielt Arno noch einen Stehplatz. Nach einem leisen melodischen Orgelvorspiel erschien der Redner auf der Kanzel. Er trug ein morgenländisches Gewand, sein Haar und Bart waren so geschnitten, daß der Kopf den Eindruck eines Christuskopfes machte.

In seinem Vortrage kam er zuerst auf seinen »Bruder und Vorläufer« Jesus Christus zu sprechen, der die ersten Versuche gemacht auf dem Wege, den er, Heidmann, nun gehe. Die moderne Zeit mit ihrer Aufklärung habe die Gestalt Christi aus der mythischen Umhüllung der Bibel wieder herausgeschält. In der Zeit, wo die Wissenschaft herrsche und die Bildung in alle Volkskreise eingedrungen sei, sei es nicht mehr möglich, alles zu glauben, was von Christus berichtet werde. Was aber über Christus der Wahrheit entsprechend bekannt sei, das wolle er in unser modernes Zeitbewußtsein übersetzen. Das Geheimnis der Religion bestehe darin, daß man die Kräfte der unsichtbaren Welt, die dem Menschen nützlich seien, auf unsere Erde herunterhole und sie in den Dienst des Menschen stelle. Kindliche Menschen nannten das »Gebet«, es sei aber nichts als die Ausübung der Macht, die dem Menschen über die unsichtbaren Kräfte eigen sei. Diese Macht gelte es, in sich zu entdecken und durch planmäßige Übung zu steigern, dann könnten auch in unserer Zeit noch Wunder und Zeichen geschehen. Es sei abgeschmackt, an einen Gott zu glauben. Der Mensch sei der Gott der Erde und einen anderen brauchten wir nicht. Das sei jetzt wieder offenbar geworden. Was das Christentum nicht habe schaffen können, das habe die Menschheit aus eigener Kraft in ihrem erlauchtesten Vertreter, dem Weltbundpräsidenten Ruben, dem Erlöser, geschaffen, eine Vereinigung der ganzen Menschheit in einem Friedensreich. Ihm, dem Erhabenen und Gewaltigen, in dem die Göttlichkeit der Menschheit Gestalt angenommen, ihm huldigen wir in dieser Stunde!« So schloß der Redner.

Nach dem Vortrag strömte alles auf das geräumige Konfirmandenzimmer zu. Ein Leidender nach dem anderen wurde zu Heidmann hineingeführt.

Arno wartete draußen vor der Sakristei. Was er nun sah, übertraf bei weitem seine Erwartungen. Da kam ein Mann jubelnd heraus und schwang seine Krücken über seinem Haupte, mit denen er vorher in die Kirche gehumpelt war. Ein anderer sah sich erstaunt und blinzelnd um – blind war er in die Kirche gekommen und war nun sehend. Ein dritter schob seinen eigenen Fahrstuhl vor sich her vor Freude und der ihn in die Kirche gefahren hatte, ging erstaunt nebenher. Eine Mutter kam glückstrahlend aus der Kirche mit ihrem genesenen Kinde an der Hand, das sie auf dem Arme hineingetragen. Auf der Straße sammelte sich eine große Volksmenge, die lebhaft das Geschehene besprach.

Arno mischte sich unter die Menge und fing einige Worte auf.

»Da sieht man doch, wie die Pfaffen uns beschwindelt haben mit ihrem Christus; das kann der Mensch alles allein durch die in ihm wohnende Kraft.«

Ein anderer wandte ein: »Schwindel können Sie das nicht nennen! Ich habe selbst eine Krankenheilung durch Gebet und Handauflegung eines Glaubensmannes der evangelischen Kirche erfahren.«

»Ach was, das hat der auch nur durch seine eigene Kraft getan! Aber das Schöne ist bei diesem Heidmann, daß man sich nicht zu bekehren braucht. Bei den sogenannten Glaubensmännern der Christen, da heißt es immer: Ja, willst du auch dein Leben ändern? Willst du dich auch bekehren? Hier ist von so was gar keine Rede.«

»Da hast du recht«, bestätigte ein anderer, »das habe ich an seiner Rede gleich gespürt, daß er ein moderner aufgeklärter Mann ist, ohne religiöse Vorurteile. Wir wollen gleich einmal eine Probe aufs Exempel machen.«

Er wandte sich an eine Gruppe von geheilten Männern, die dastanden und ihrer Umgebung über ihre Heilungsgeschichte Mitteilung machten.

»Heda, Jungens«, rief er, »die großartige Heilung wollen wir einmal kräftig begießen. Ich spende ein Viertel. Kommt ihr mit?«

Mit Freuden stimmten die Geheilten zu und einer rief: »Und heute abend jehen wir alle zusammen auf den Strich und nehmen uns jeder ein hübschet Mächen mit.« Alles brüllte vor Vergnügen. Dann faßte sich die ganze Gruppe einer den andern unter den Arm und zogen mit einem derben Gassenhauer auf den Lippen in ein Schanklokal.

Arno hatte genug gesehen und gehört. Tiefe Betrübnis und ein heiliger Ingrimm packten seine Seele. »Wunder und Zeichen aus dem Abgrund«, murmelte er vor sich hin. »Hier sind dämonische Kräfte am Werke.«

Als er seiner Elsbeth von dem Erlebten berichtete, sagte sie einfach:

»Das hatte ich gar nicht anders erwartet. Es ist, was Paulus 2. Thess. 2 geweissagt hat.« 2. Thess. 2, 9-12.

Am Abend fand die Sitzung des Kirchenvorstandes statt, in der Arno die Anregung des Kircheninspektors vorlegen mußte. Nachdem er die Schriftstücke verlesen, berichtete er über seine Beobachtungen und beantragte, da der pp. Heidmann gar nicht auf christlichem Boden stehe und die hypnotischen oder magnetischen Heilungen keine sittliche, sondern eher eine entgegengesetzte Wirkung hätten, auf die Wirksamkeit des Heilkünstlers und Wanderredners in der Gemeinde zu verzichten.

Lebhafter Widerspruch wurde laut. »Wir sind als Protestanten«, sagte ein Ältester, »grundsätzlich für Gewissensfreiheit. Jede religiöse Anschauung hat Gleichberechtigung und wir protestieren gegen die Gewissenstyrannei des Herrn Pfarrers, bestimmte religiöse Anschauungen dadurch in Acht und Bann zu tun, daß er sie als nicht ›christlich‹ erklärt. Wer will es wagen, ein Urteil zu fällen, ob jemand ›christlich‹ sei oder nicht? Das steht nur einer höheren Instanz zu. ›An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen‹, hat Christus gesagt, und die großartigen Heilungen, von denen der Herr Pfarrer selber berichtete, sind doch wahrlich gute Früchte. Ich beantrage, den Mann kommen zu lassen.«

In ähnlicher Weise sprachen noch andere. Einzelne griffen Arno wegen seiner »orthodoxen Richtung« auf das schärfste an. Der Vorsitzende und die anderen Mitglieder, die ihm persönlich freundlich gesinnt waren, schwiegen; so stand er ganz allein in der Sitzung.

Es wurde schließlich gegen die Stimme des Pfarrers bei vier Stimmenthaltungen beschlossen, den Wanderredner Heidmann für eine 14tägige Tätigkeit in der Kirche zu verpflichten. Arno erhob sich und erklärte feierlich: »Ich protestiere gegen die geplante Entweihung des Gotteshauses und lehne ausdrücklich jede Mitverantwortung für die etwaigen Folgen ab.« Dann verbeugte er sich und verließ die Sitzung.

Am selben Abend noch versammelte sich die kleine Beterschar im Pfarrhause. Auch die alten Wildensteins nahmen an der Gemeinschaftsversammlung teil.

Arno brachte die bevorstehende Ankunft Heidmanns zur Sprache. Alle stimmten seiner Beurteilung der Angelegenheit zu. Man brachte die Sache vor den Herrn und alle verpflichteten sich, in der Gemeinde nach Möglichkeit dagegen zu wirken.

Am nächsten Sonntage war die Kirche bis auf den letzten Platz gefüllt. Der Konflikt im Kirchenvorstand hatte sich herumgesprochen und aus Neugier kamen die Leute nun zur Kirche in der Hoffnung, etwas Sensationelles zu hören. Arno nahm die Stelle 2. Thess. 2 zum Text und legte ein gewaltiges Zeugnis ab gegen die lügenhaften Zeichen und Wunder der letzten Zeit, wie es besser sei, ein Leiden, das Gott einem aufgelegt, in Geduld und Demut zu tragen, als mit dämonischer Hilfe davon befreit zu werden. Er schilderte, wie Menschen durch solche Heilungen schlechter statt besser, gottloser statt frömmer werden. Heidmann nannte er nicht mit Namen, aber warnte mit heilig ernsten Worten vor dem Satan, der sich in einen Engel des Lichts zu verkleiden liebe. Zum Schluß zeugte er von Jesu, dem einigen Retter und Arzt Leibes und der Seele, der auch heute noch alle Mühseligen und Beladenen zu sich rufe, um ihnen Heilung, Frieden und Seligkeit zu schenken.

Nach der Predigt standen die Kirchenbesucher noch lange in lebhaftem Gespräch in Gruppen auf dem Kirchplatze und eine Anzahl kam ins Pfarrhaus, um Arno die Hand zu drücken und ihm zu danken. Darunter waren mehrere, die noch nie bei ihm in der Kirche gewesen waren, die aber nun versprachen, sich rege am kirchlichen Leben beteiligen zu wollen.

Am Nachmittag wartete man auf Fritz zum Kaffee. In einer mit Kletterrosen umrankten Laube des Gartens hatte das Mädchen bereits den Kaffeetisch gedeckt. Beide Ehepaare ergingen sich noch ein wenig auf den sauber mit Kies bestreuten Wegen des Gartens. Der alte Graf, der zwar sein Amt als Kirchenältester in der Philippus-Apostelgemeinde beibehalten hatte, dem es aber gar nicht zusagte, im übrigen nichts zu tun zu haben, hatte sich mit Feuereifer auf die Gartenarbeit geworfen und zeigte nun mit Freuden dem Sohne seine neu angelegten Gemüsebeete; dann kamen sie an die Obstbäume, und der Graf erklärte, welche Bäume verschnitten, welche veredelt und welche weggenommen werden müßten.

»Laßt mir aber auch ein bißchen Platz für ein paar Blumen«, sagte die Mutter, und Elsbeth pflichtete ihr von Herzen bei.

»Ja«, sagte sie, »so schön und gut all das Nützliche ist, was der Garten bringen soll – etwas muß er auch für das Gemüt abwerfen, denn er soll nicht nur der Küche dienen, sondern auch eine Stätte der Erquickung und Freude sein.«

Der Graf stimmte zu, und man wählte gleich einige der noch brachliegenden Beete, die mit Blumen bepflanzt werden sollten.

Arno ging neben dem Grafen. Da sagte der Vater: »So schön es hier ist und so sehr ich die Stille hier draußen liebe, tut es mir doch leid, daß du dich einmal so auf diese Stelle versessen hattest, sonst hätten wir dich jetzt sicher zum Pfarrer an der Philippus-Apostelgemeinde gewählt. Du hast bei allen Kirchenältesten mehr als einen Stein im Brett. Jetzt macht uns das Suchen nach einem gläubigen tüchtigen Pfarrer viel Kopfzerbrechen. Am nächsten Sonntage muß ich im Auftrage des Gemeindekirchenrats nach der Rheinprovinz fahren, um dort einen Bewerber in seiner Gemeinde unbemerkt abzuhören.«

»Nun, Vater, du wirst dich heute überzeugt haben, daß die Arbeit hier doch nicht ganz vergeblich gewesen ist. Kampf gibt es, aber wo gibt es den nicht? Die Gemeinschaft ist mir eine rechte Stütze und sie beginnen es jetzt auch zu begreifen, daß sie in der Gemeinde tätig mitarbeiten müssen. Und Elsbeth solltest du erst einmal in ihrem Frauenverein und ihrem Jugendbund sehen. Wie die Augen leuchten, wenn sie unter ihre Schar tritt; das ist eine helle Freude.«

Inzwischen war Fritz gekommen und man setzte sich an den Kaffeetisch.

Fritz hatte einen Pack Zeitungen mitgebracht und sagte, während Elsbeth den Kaffee einschenkte und die Mutter den Kuchen herumreichte: »Unsere Kirchenversammlung hat aber eingeschlagen wie ein Blitz! Ihr werdet im ›Beobachter‹ auch schon etwas davon gelesen haben. Alle Zeitungen fallen über uns her. Die kommunistischen Regierungsblätter toben förmlich vor Wut. Hört so einige Kraftproben:

›Die Monarchisten und Republikaner sind schweigsam geworden; sie haben abgewirtschaftet. Jetzt sehen wir den inneren Feind des Weltstaates auftauchen. Gut, daß er gleich am Anfang sein wahres Gesicht zeigt.‹

›Eine Galgenfrist hatten wir den Kirchen bewilligt, und das ist nun ihr Dank. Einen Staat im Staate bilden sie und organisieren den passiven Widerstand. Die Bande scheint zu denken, daß wir noch in einer freien Republik leben, wo jeder reden kann, was er will. Freiheit brauchten wir, um obenauf zu kommen, und wir werden sie jetzt, wo wir am Ziele sind, festhalten und benutzen, um allen unseren Gegnern jeden Gedanken an Freiheit auszutreiben.‹

›Eine internationale Gefahr für den Weltvölkerbund‹, so lautete in einer anderen Zeitung die fettgedruckte Überschrift. ›Was wird der Völkerbundsrat und der Weltpräsident zu dieser Unverschämtheit sagen? So dankt man ihm seine Fürsorge für die Religion! Es war doch nur im Interesse einer zeitgemäßen freien Religiosität, wie sie in der Protestantischen Religionsgesellschaft herrscht, daß der Weltpräsident den mittelalterlich fanatischen Papst absetzte und der katholischen Kirche einen modern denkenden Papst gab. Damit war dem kirchlichen Frieden gedient. Beide Religionsgesellschaften konnten nun Hand in Hand den Menschheitsidealen dienen und eine feste Stütze des Weltstaates werden. Aber was geschieht? Die deutschen Bischöfe revoltieren und reichen der evangelischen Kirche, dieser fanatisch unduldsamen Kirche die Hand. Ja, diese Vereinigung soll sogar in der ganzen Welt angebahnt werden. Dann haben wir eine einheitlich geleitete Riesenorganisation, die mit ihren Fäden den Weltstaat durchzieht und ihn zur gegebenen Stunde zu Fall bringen kann. Das darf nicht sein. Wir haben die Macht und wer uns entgegentritt, wird zerschmettert. Nun hat der Völkerbundsrat das Wort.‹«

Die bürgerlichen Blätter nahmen besonders Anstoß an der erfolgten Gründung einer christlichen Einheitspartei, der alle christlichen Parlamentarier aus allen Parteien beigetreten waren und jammerten über die »Zerstörung der bürgerlichen Einheitsfront«.

»Als ob uns die bürgerliche Einheitsfront etwas anginge!«, sagte Fritz. »Die Sache Christi ist es, die uns alle verbindet. Da mag in politischen und wirtschaftlichen Fragen, die unsere Parteigrundsätze nicht berühren, jeder stimmen wie er will, ob mit den Bürgerlichen oder Arbeitern, da mischt sich die Partei nicht hinein. Hört aber einmal, dieses bürgerliche Blatt, das ist doch zum Lachen:

›Wenn wir auch mit der evangelischen Kirche nichts zu tun haben, sondern uns zur Protestantischen Religionsgesellschaft halten, so müssen wir doch sagen, es ist ganz gegen evangelische Grundsätze, die Politik unter den beherrschenden Gesichtspunkt der christlichen und kirchlichen Ziele zu stellen. Das ist ja gerade Luthers Verdienst, daß er den natürlichen Ordnungen wieder ihr selbständiges Recht eingeräumt hat, auch ganz unabhängig davon, ob sie den kirchlichen Stempel haben oder nicht. Das gilt nicht nur von Familie, Staat und Gesellschaft, sondern auch von Wissenschaft, Kunst, Politik und Presse. Darum darf die Politik nur von den ihr immanenten Gesichtspunkten geleitet werden, aber nicht von christlichen oder kirchlichen Grundsätzen. So ist eine christliche Partei und ein christliches politisches Blatt etwas grundsätzlich Unevangelisches.‹«

»Diese Töne«, warf Arno lachend ein, »haben wir in der Vergangenheit zur Genüge gehört. Jahrhundertelang hat man mit diesen stets eifrig verbreiteten Grundsätzen die Kirche in der Ohnmacht gehalten, sie verhindert auf das staatliche und politische Leben einen maßgebenden Einfluß zu gewinnen. Gerade vor kurzem las ich in einer Geschichte des kirchlichen Lebens im 20. Jahrhundert, wie nach der Revolution 1918 mit eben diesen selben Gründen eine im Entstehen begriffene ›Evangelische Volkspartei‹ schon nach dem ersten Parteitage erstickt wurde; und die meisten evangelischen Pastoren gingen auf die Leimruten, die die anderen Parteien ihnen in Gestalt jener angeblich ›evangelischen‹ Grundsätze gelegt hatten.«

»Kinder«, sagte der Graf, »ich muß euch da etwas gestehen. Es heißt mit Recht: ›man wird alt wie 'ne Kuh und lernt immer was zu.‹ Ich habe auch früher auf diesem Standpunkt gestanden. Ihr wißt, daß ich einer monarchistischen Partei angehörte. In ihr waren Evangelische, Katholiken, Monisten, Wodananbeter, Anthroposophen usw. Was uns zusammenhielt, war der monarchistische Gedanke. Unsere Partei ist ja nach Möglichkeit für die Religion eingetreten, aber da nicht das Christentum, sondern der Monarchismus das Verbindende war, so konnte dieses Eintreten nur sehr nebenher und nicht mit der wünschenswerten Geschlossenheit und Energie erfolgen. Jetzt bin ich der neuen christlichen Partei beigetreten, die mich in keiner Weise hindert, wo es mir nötig scheint, mit den Monarchisten zu stimmen, die mich aber in ganz anderer Weise befähigt, für christliche und kirchliche Gesichtspunkte wirkungsvoll einzutreten.«

»Jedenfalls zeigen alle diese Artikel, daß wir mit leidenschaftlichem Widerstand, ja vielleicht sogar mit Verfolgung zu rechnen haben«, bemerkte Fritz. »Freilich ihr in eurem stillen Tuskulum werdet nicht davon berührt werden, denn der Sturm richtet sich ja nur gegen die verbündeten christlichen Kirchen!«

Arno wurde erst blaß und dann rot bei diesen Worten des Freundes, dann erwiderte er: »Auch bei uns wird es nicht an Haß und Verfolgung fehlen, und das je mehr die ganze Gemeinde weiß, wie wir stehen.«

»Ja, was alles noch aus dem Konflikt mit dem Kirchenvorstand werden wird, muß sich ja bald entscheiden«, sagte die Gräfin.

Arno brach auf, um einen Krankenbesuch zu machen. Einer der Gemeinschaftsleute hatte ihn auf diesen Kranken aufmerksam gemacht. Arno erkannte in ihm einen Herrn, den er schon zuweilen in der Kirche gesehen. Die Stube war ziemlich verdunkelt, denn der Kranke hatte ein Augenleiden. Er litt unter furchtbaren Schmerzen. Es sei oft zum Wahnsinnigwerden, klagte er. Von den Angehörigen hatte Arno gehört, daß nach Aussage des Arztes keine Hoffnung auf Erhaltung der Sehkraft sei, – der Vater gehe rettungslos der Blindheit entgegen. Schon nach einem kurzen Gespräch merkte Arno, daß der Kranke keinen Frieden mit Gott, keine Gewißheit der Vergebung seiner Sünde hatte, und er zeigte ihm den Weg zum Sünderheiland. Mit Begier hörte der Arme die frohe Botschaft. Dann aber sagte er:

»Wie ich höre, wird in der nächsten Woche der Wanderprediger und Heilkünstler Heidmann herkommen. Der hat schon viele Blinde geheilt. Dennoch möchte ich mich ihm nicht anvertrauen. Sollte Jesus nicht das Gleiche vermögen, wie dieser Wanderredner? Sie haben uns doch neulich noch davon geredet, daß Jesus sich nicht geändert habe, sondern heute noch derselbe sei, wie damals in Palästina.«

»Gewiß«, sagte Arno, »kann Jesus auch heute noch Kranke heilen. Aber vorläufig nehmen Sie das Heil und den Frieden an, den Jesus Ihnen geben will. Wir wollen dann morgen weiter davon reden.«

Zu Hause berichtete Arno seiner Gattin das Vorgefallene.

»Arno, der Mann hat recht«, sagte Elsbeth, »es ist eine Ehrensache der Gemeinde Gottes, daß hier geholfen wird. Jesus kann und will helfen. Wir wollen ihn beim Worte nehmen.«

Und so beteten der Pastor und seine Frau für den Kranken, daß Jesus sich hier als der Arzt des Leibes und der Seele offenbaren möge.

Am nächsten Tage fand Arno den Kranken als frohen, glücklichen Menschen, obwohl das Leiden unverändert war.

»Herr Pastor«, rief er voll Freude, »jetzt kann ich es glauben: Jesus hat mir auch meine Sünden vergeben, Jesus liebt auch mich. Nun weiß ich, daß ich ein Kind Gottes bin.«

Arno kniete am Bett des Kranken nieder und dankte dem Herrn für das, was er an ihm getan, und der Kranke stimmte freudig ein in das Dankgebet. Dann flehte Arno für ihn um Heilung von seinem Augenleiden.

Als er am dritten Tage wiederkam, waren die Fenster nicht mehr verhangen und der Kranke sah ihn ohne Verband mit leuchtenden Augen an.

»Es ist ein Wunder geschehen«, sagte die Frau, indem sie Arnos Hand ergriff. »Das Augenleiden ist plötzlich geheilt. Als der Arzt heute hier war, konnte er sich gar nicht fassen vor Erstaunen. Er sagte, er stünde vor einem Rätsel. So etwas sei ihm noch nie in seiner Praxis vorgekommen. Da könne man ja wieder an Wunder glauben.«

Der Kranke konnte kaum etwas sagen. Mit Tränen in den Augen drückte er wieder und wieder Arnos Hand:

»Lieber Herr Pastor!« brachte er endlich mit erstickter Stimme hervor, »lieber Herr Pastor! Jesus ist doch noch derselbe, wie in Palästina. Jesus kann, das soll fortan meine Losung sein.«

Alle knieten miteinander nieder und dankten dem Herrn für dieses Wunder der Gnade.

»Nun danken Sie Gott mit Ihrem Leben, indem Sie alle Ihre Kräfte in seinen Dienst stellen«, sagte Arno zum Abschied.

Diese Heilung sprach sich schnell herum in der Gemeinde.

Es kamen daraufhin viele Leidende zu ihm oder ließen ihn holen.

Wo die Herzen bereit waren dem Herrn zu gehorchen, konnte der Herr Großes tun. Besonderes Aufsehen erregte die Heilung einer unglücklichen Geistesgestörten, deren Krankheit das typische Bild der Dämonischen des Neuen Testaments bot. Sie wurde von ihrer Plage befreit, pries und lobte Gott.

Inzwischen war die Zeit herangekommen, wo der Wanderprediger Heidmann in der Kirche seine Versammlungen abhielt. Tag für Tag war die Kirche gefüllt, aber ebenso die Wirtshäuser und Tanzlokale, wo die Geheilten die gefeierten Mittelpunkte zu sein pflegten. Schon auf dem Kirchplatz konnte man beobachten, wie nach den Versammlungen die Menschen in Gruppen stehen blieben und die Schnapsflasche unter ihnen kreiste, so daß dann gewöhnlich die lauten Stimmen in ein Gejohle und in Spektakel übergingen. Besonders widerlich war es am letzten Tage, wo ein Haufe solcher angeheiterter Menschen den gefeierten Wunderheiler auf ihren Schultern in sein Hotel trugen. Jeder wollte ihn tragen, so daß sie mehrmals unterwegs wechseln mußten. Bei dem Streit um den Vorrang wäre Heidmann beinahe zerrissen worden und kam schließlich mit bestaubtem und zerrissenem Gewande im Triumphzuge in seinen Gasthof.

Die Gemeinde war in zwei Teile gespalten. Der eine kleinere Teil hing mit Begeisterung an dem Pastor, der den Vergleich mit dem Wundermann nicht zu scheuen brauche, dessen Wirksamkeit die Menschen bessere und für die Gemeinde ein Segen sei. Der andere größere Teil schwur auf den Namen Heidmanns und stützte sich auf die große Zahl von Heilungen, die er bewirkt, und auf seine Reden, die dem modernen, gottfeindlichen Menschen wie auf den Leib zugeschnitten waren.

In der Zeitung erschien ein großer Bericht über die »gesegnete« Tätigkeit Heidmanns, der trotz seiner orientalischen Aufmachung ein durchaus moderner Mensch sei und dessen Heilerfolge wissenschaftlich begründet seien.

Im lokalen Teil befand sich dagegen ein kurzer Artikel, in dem darüber Beschwerde geführt wurde, daß der mittelalterliche Unfug des »Gesundbetens« wieder in der Gemeinde im Schwange gehe. Man habe geglaubt, daß dieser abergläubische Schwindel, der so gar nicht mehr in die moderne Zeit passe, längst abgetan sei. Das Merkwürdige sei, daß die Seele dieser Bestrebungen der Pastor sei, der doch vielmehr die Pflicht habe, die Menschen zu einer freien, aufgeklärten Religiosität zu erziehen.

»Man sieht hier einmal wieder deutlich«, sagte Arno lächelnd zu Elsbeth, »wie die Welt mit zweierlei Maß mißt. Was ein Christ tut, ist für sie von vornherein abergläubisch, Schwindel, mittelalterlicher Unfug. Wenn dasselbe aber durch einen Gegner des Christentums geschieht, ist es ein Segen, wissenschaftlich begründet, ein aufgeklärtes Tun.«

»Das kann ja auch gar nicht anders sein«, erwiderte Elsbeth, »denn die Welt besitzt gar nicht die Maßstäbe, um die Kinder Gottes richtig beurteilen zu können. Der natürliche Mensch vernimmt nichts vom Geist Gottes; es ist ihm eine Torheit, er kann es nicht erkennen.«

Arno war es gewohnt, über die Feindschaft, die sich gegen die Sache Jesu erhob, mit einem Lächeln hinwegzugehen. Aber nach einigen Tagen verging ihm doch sein Optimismus, als er die Verhandlungen und Beschlüsse des Zentralrates gelesen hatte. Erschüttert legte er die Zeitung beiseite. Der Zentralrat (die deutsche Regierung) bestätigte nach lebhafter Debatte eine Verordnung des Völkerbundsrates über die Stellung der Kirchen. Diese Verordnung lautete:

»Durchdrungen von der Überzeugung, daß die Religion ein wesentlicher Faktor des öffentlichen Lebens, und wenn sie sich in den richtigen, vernunftgemäßen Bahnen bewegt, wohl geeignet ist, die Sache der Menschheit und des Menschheitsstaates zu fördern, schlägt der Völkerbundsrat den Regierungen vor, den auf dem Boden der Menschheitsreligion beruhenden religiösen Verbänden, der römisch-katholischen Kirche unter dem Papst Leo XV., der griechisch-katholischen Kirche unter dem aufgeklärten Patriarchen von Konstantinopel, der Protestantischen und der Jüdischen Religionsgesellschaft die privilegierte Stellung von Körperschaften des öffentlichen Rechts zu gewähren und auf ihre Vereinigung zu einem ›Bunde der Menschheitsreligionen‹ hinzuwirken. Es ist selbstverständlich, daß alle berufsmäßigen Diener dieser Religionsgesellschaften auf die kommunistischen Verfassungen des Einzelstaates und des Weltstaates zu vereidigen sind. Wir versprechen uns von einer solchen Maßnahme eine dauernde feste Verankerung des Weltstaates in den Gewissen der Menschen. Die Menschheitsreligion ist der Prophet des Menschheitsstaates und die Pflegerin und Hüterin der Menschheitsinteressen. Zugleich weisen wir aber die Regierungen auf den inneren Feind hin, der dem Menschheitsstaate droht. Es gibt zwei Organisationen, die die Völker zu einem passiven Widerstand gegen den Weltbund aufreizen wollen: die katholische Kirche unter dem aus diesem Grunde von uns abgesetzten Papst Pius XII., der einen Teil seiner Kirche wieder um sich gesammelt hat, und die evangelische Kirche in allen Ländern. Der Kommunismus hat diese Kirchen stets bekämpft, und seit er zur Macht gekommen, fühlen sie sich in ihrer Existenz bedroht. Darum haben sie sich in allen Ländern zu einer mächtigen Organisation, dem ›Bunde der christlichen Kirchen‹, vereinigt, die den Weltstaat als das ›Antichristentum‹ und die Weltstadt Konstantinopel als die große ›Babel‹ bekämpft. Wir schlagen deshalb folgende gesetzliche Bestimmungen vor:

  1. Jede organisatorische Verbindung der Einzelgemeinden der genannten Kirchen wird verboten.
  2. Die Anstellung von hauptamtlichen Geistlichen wird den Gemeinden verboten.
  3. Jede öffentliche Verkündigung ihrer Lehre wird verboten.
  4. Der Besitz der Kirchen verfällt dem Staate.

Die religiöse Gewissensfreiheit des einzelnen ist damit nicht angetastet. Jeder kann ungestraft glauben, was er will. Die Christen dürfen auch in geschlossenen Kreisen zu erbaulichen Zwecken zusammenkommen. Es ist zu hoffen, daß durch diese Bestimmungen binnen kurzem die Organisation der christlichen Kirchen zerschlagen werden wird.

Der Völkerbundsrat.

gez. Ruben Spaßki.
gez. Joseph Silberstein.«

 

Der Zentralrat machte dazu die beschlossenen genaueren Ausführungsverordnungen bekannt, nach denen die Bestimmungen 1 bis 4 vom 1. Oktober an in Kraft treten und von da an Übertretungen derselben mit schweren Zuchthausstrafen, wie sie gegen Hochverrat üblich sind, geahndet werden sollten. Die Vereidigung der Religionsdiener der anerkannten Religionsgesellschaften habe gleichfalls bis zum 1. Oktober zu geschehen.

Am Abend war Gebetsstunde. Ein feierlicher Ernst lag über den Teilnehmern. »Jetzt beginnt die große Trübsalszeit für die Christenheit«, das war der allgemeine Eindruck. Und doch herrschte eine zuversichtliche Stimmung, hatte doch der Heiland gesagt: »Wenn ihr dieses alles sehet angehen zu geschehen, so hebet eure Häupter auf, darum, daß sich eure Erlösung naht.« In getrostem Glauben legte man die Zukunft der Kirche, des Vaterlandes, der Menschheit und jedes Einzelnen in Gottes Hände.

Die Folgen der Verfügung ließen nicht lange auf sich warten.

In dem Lokalblatte des Vorortes erschien bald darauf ein Artikel mit der Überschrift: »Die Futterkrippe.« Darin wurde ausgeführt, es sei bekannt, wie die Pfaffen jederzeit sehr geschickt ihren Vorteil wahrzunehmen verstanden hätten. Ein ganz besonders schlauer sei der Dunkelmann, den die angeblich »protestantische« Gemeinde seit einem Vierteljahre zum Pastor habe. Dieser Herr habe vorausgesehen, daß bald in der evangelischen Kirche keine Futterkrippe für Pfaffen sein werde; da habe er beizeiten sich in der Protestantischen Religionsgesellschaft eine Futterkrippe verschafft. Daß er die Richtung dieser Religionsgesellschaft innerlich ablehnte und durch den Übertritt zu ihr eine Heuchelei beging, das machte ihm nichts aus. »Was bedeuten Überzeugungen für einen Pfaffen dieser Sorte? Die Futterkrippe ist natürlich die Hauptsache.«

»Das ist gemein!« rief Arno aus. Er saß an seinem Schreibtisch und barg sein Gesicht in seinen Händen. Da trat Elsbeth ein. Sie sah, daß ihren Arno ein Kummer drückte, trat zu ihm, legte ihren Arm um seinen Hals und küßte ihn.

»Liebster, was ist dir?« fragte sie zärtlich.

»Lies, was das Blatt hier schreibt. Das ist eine gemeine Kampfesweise!«

Als Elsbeth den Artikel gelesen hatte, schwieg sie eine Weile und dann sagte sie: »Arno, besinnst du dich darauf, was ich dir bei unserer Verlobung sagte? Die Protestantische Religionsgesellschaft ist auch eine Art Gesinnungsgemeinschaft und du bist mit einer entgegengesetzten Überzeugung in sie eingetreten. Da kann leicht ein solcher Eindruck entstehen bei Menschen, die dich nicht kennen.«

Arno war aufgeregt durch den Artikel und zu ruhiger Überlegung nicht fähig. Er wurde blaß vor Zorn, sprang auf und rief in bitterem Tone aus: »So, das ist ja reizend! Du stellst dich also auf die Seite meiner Feinde und billigst diese hundsgemeine Kampfesweise!«

Elsbeth war furchtbar erschrocken und kämpfte mit den Tränen; sie bezwang sich jedoch, nahm Arnos Hand und sagte: »Aber Arno, wie kannst du mich so mißverstehen? Du weißt doch, daß ich zu dir stehe in Not und Tod. Wie kann ich diese Kampfesweise billigen? Ich sage ja nur, daß deine Stellung hier von Anfang an einem inneren Widerspruch krankte, der bei Fernstehenden leicht zu solchen Schlußfolgerungen führen kann. Liebster, tue mir nicht weh durch solches Mißtrauen! Ich habe ja niemand in der Welt als dich.« Die Tränen brachen nun ungehemmt hervor und sie warf sich an ihres Gatten Brust. Arno war überwunden und schämte sich seines Zornes. Er küßte Elsbeth die Tränen aus den Augen und flüsterte: »Verzeih mir, daß ich so heftig wurde und dich durch Mißtrauen betrübte. Du bist doch mein liebes Weib und wir müssen immer zusammenhalten, mag kommen, was da wolle.«

Am selben Abend fand eine Sitzung des Kirchenvorstandes statt, zu der Arno nicht eingeladen wurde, und am nächsten Morgen kam ein amtlicher Brief, durch den ihm zum 1. Oktober gekündigt wurde. Als der alte Graf davon hörte, freute er sich.

»Mein alter Junge, offen gesagt, ich habe vom Tage deiner Einführung an geahnt, daß deines Bleibens hier nicht lange sein würde. Nun können wir dich für die Philippus-Apostelgemeinde wählen.«

»Aber Vater, die evangelische Kirche darf ja vom 1. Oktober an keine Geistlichen mehr haben.«

»Du irrst, nur die Anstellung von Geistlichen nach dem 1. Oktober ist verboten. Wenn du vor dem 1. Oktober angestellt bist, so fällst du nicht unter das Gesetz.«

In der nächsten Sitzung des Gemeindekirchenrates von Philippus-Apostel wurde Arno zum Pfarrer der Gemeinde gewählt und bereits am 1. September siedelte die Familie Wildenstein nach schmerzlichem Abschied von den gewonnenen gläubigen Kreisen wieder nach Berlin über.


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