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XIII. Auf zur heiligen Stadt!

Arnos Einführung fand am ersten Sonntag des September durch den Propst der Diözese statt. Die Gemeinde füllte die Kirche bis zum letzten Platz und es ging eine spürbare Bewegung durch die Reihen. Noch zitterte die schreckliche Ermordung des treuen Seelsorgers durch die Herzen und nun begann der neue Pastor unter so düsteren Vorzeichen seine neue Amtstätigkeit! »Wie würde es ihm möglich sein, sein Amt unter dem Druck des Antichristentums zu verwalten? Dennoch ging Arno mit voller Freudigkeit in die Arbeit und er kam auch mit dem vollen Segen des Evangeliums. Beide Eheleute waren im Grunde ihres Herzens dankbar, aus dem Reiche des »falschen Propheten« erlöst zu sein; allerdings war es für Elsbeth nicht so leicht, sich als Hausfrau an die neuen Verhältnisse zu gewöhnen. In der ersten Zeit zehrten sie noch von dem mitgebrachten Gemüse und den Obsterträgen ihres bisherigen Gartens, aber dann mußte jede Kleinigkeit gekauft werden, was viel Zeit und Geld kostete. Dazu kam die Engigkeit der Wohnung, die sie mit Frau Pastor Waldholz und ihren Kindern teilen mußten; hatten diese doch noch bis zum 1. Januar Wohnrecht im Pfarrhause. Auch die Einkünfte standen ihr noch bis dahin zu. Da aber der Gemeinde daran gelegen war, sobald wie möglich einen neuen Pfarrer zu bekommen, so brachten sie das Gehalt für Arno durch freiwillige Sammlungen auf. Der Ertrag dieser Sammlungen war ziemlich knapp, da meist arme Leute zur Gemeinde gehörten. So galt es zu sparen und zu rechnen, wenn man nicht den Notpfennig, der noch von Elsbeths Aussteuer übrig war, aufbrauchen wollte. Dennoch hörte man keine Klage, keine Seufzer im Hause. Die innige Liebe, die sie alle miteinander verband, befähigte sie, einer des anderen Last zu tragen, sich gegenseitig zu ermuntern und einander alles zu erleichtern. Wenn irgend etwas ihnen schwer werden wollte, so brachten sie es miteinander vor den Herrn. Hatte Arno in der Gemeinde zu tun, so freute er sich schon immer wieder auf das sonnige Antlitz seiner Elsbeth bei seiner Heimkehr; ihre innige und zärtliche Liebe half ihm über alles hinweg und machte ihm das Heim zum Paradiese. Wie lieblich war auch das Verhältnis zwischen seiner Mutter und Elsbeth; er mußte immer an Ruth und Naemi denken. Und welche treue Hilfe hatte er an seinem edlen Vater, seinem Kirchenältesten! Er ging jetzt ganz in kirchlichen Interessen auf und hatte alle seine monarchistischen Bestrebungen aufgegeben. Auch mit der lieben Familie Waldholz, die freiwillig mehr als die Hälfte der Wohnung an Wildensteins abgetreten hatte, war ein liebliches Zusammenleben. Man wußte sich eins im Herrn.

Eines Tages meldete das Mädchen, ein alter Jude mit seiner Frau wünsche Herrn Pastor zu sprechen. Es waren Aaron und Sarah.

»Welche Freude, Sie einmal wiederzusehen, Herr und Frau Silberstein«, sagte Arno, indem er den beiden Alten die Hand reichte und sie aufforderte, sich zu setzen.

»Wir sein gekommen, zu nehmen Abschied von dem Herrn Grafen und seiner Familie, denn wir ziehen heim in das Land unserer Väter.«

»Sie wollen nach Rußland zurück? Das kann ich mir denken, Sie wollen zu Ihrem Sohne.«

»O, daß uns Gott bewahre!« rief Aaron aus. »Nein, wir ziehen nach Jerusalem.«

»Nach Jerusalem?« fragte Arno erstaunt. »Aus welchem Grunde machen Sie diese weite Reise?«

»Jerusalem, so heißt es im Psalm, ist die Stadt, da man zusammenkommen soll, und jetzt heißt's zu dem gläubigen Israel: ›Israel, hebe dich zu deinen Hütten.‹«

»Das hängt wohl mit dem Bau des neuen Tempels zusammen?«

»Ja, bald wird er sein vollendet, schöner als der Tempel des Herodes, so wie der große Prophet Hesekiel ihn hat beschrieben. Lange, ehe der Tempelplatz ist übergeben den Juden und die Omarmoschee niedergerissen, sind schon in Italien Säulen für den Tempel gemacht von Marmor aus Carrara und von Sizilien. Mehr als hundert Jahre haben so fleißige Jüd gearbeitet für den Tempel.«

»Dann sind es wohl in der Hauptsache zionistische Juden, die nach Jerusalem ziehen?«

»Die Zionisten haben gehabt eine große Aufgabe; sie haben gesprochen zu Israel: Du bist ein Volk, du hast eine Heimat. Sie haben gerufen ›Wehe‹ über die Jüd, die wollten sein deutsch oder französisch oder englisch oder russisch und hatten darüber vergessen das Heilige Land und daß sie sind ein Volk und Erben der Verheißung. Doch das Volk hat nicht gehört den Ruf, sie sind gegangen auf ihr Geschäft und haben gesammelt Geld und Geld und Geld. Nur wenige sind in den vergangenen Jahren gewandert in das Heilige Land. Aber jetzt sind es die, die da warten auf den Messias, die aus allen Landen ziehen in die Heilige Stadt. Gott hat gegeben in die letzten Monate seinen Heiligen Geist unter die gläubige Jüd und hat uns versiegelt seine Verheißung, daß der Arge uns nicht antasten soll an dem Tage des Gerichts, der jetzt hereinbricht über die Gojim.«

Jetzt fiel Arno ein wunderbares Leuchten auf aus den Augen und vom Angesichte der beiden Alten, und er mußte denken an das Wort von der Versiegelung der 144 000 aus Israel an ihren Stirnen.

»Sie glaubten doch schon damals, daß Jesus der Messias Israels sei, der vollenden wird alles, was die Propheten geredet haben.«

»Ja, und jetzt glauben wir an ihn, daß er ist unser Heiland und Erretter, der uns befreit mit seinem Tode vom Fluch der Sünde. Wir haben das Zeugnis des Geistes, daß wir Gottes Kinder sind; und alle die Jüd von Berlin, die haben empfangen den Geist von Gott, ziehen jetzt mit uns nach Jerusalem.«

»Wie ist es denn dazu gekommen?«

»Es ist gewesen am großen Versöhnungstag in die große Synagoge in Oranienburger Straße. Da hat der Rabbiner gelesen eine Stelle aus dem Propheten Joel, und da hat gerufen eine Stimme: ›Jetzt ist erfüllt die Verheißung. Wie das Blut des Messias ist gekommen über das Volk zur Rache, so kommt es jetzt über das Volk zur Versöhnung. Geist des Herrn komme zu deinem Volk! Friede über Israel.‹ Da ist es gegangen wie ein Rauschen durch die Synagoge. Viele Hunderte sind gefallen auf ihr Angesicht vor dem Herrn. Dann sind sie aufgestanden und haben gepriesen das Lamm Gottes, das ist geschlachtet am Kreuz für unsere Sünden. Die anderen aber sind aufgesprungen voll Zorn und haben verlassen die Synagoge. Ähnlich ist es gegangen auch an anderen Orten in dieser Zeit. Gott hat versiegelt das wahre Israel mit dem Heiligen Geist.«

»Dem Herrn sei Lob und Dank für alles, was er an Israel getan hat«, sagte Arno. »Was soll aber der Tempel noch? Sie kennen doch den Hebräerbrief und wissen, daß der Tempel und sein Priesterdienst nur ein Schatten der in dem Messias verwirklichten Erlösung war?«

»Der Tempel wird sein der Mittelpunkt für das wahre Israel. Von dort werden ausgehen alle Segnungen, mit denen Gott durch die Söhne Israels wird segnen die Völker, wie er verheißen hat unserem Vater Abraham.«

»Möge Ihre Hoffnung in Erfüllung gehen!« Arno drückte den Alten die Hand; »aber nun will ich die Meinigen rufen, damit sie Sie begrüßen können.«

Arno rief Elsbeth und die Eltern herein, die das Ehepaar herzlich begrüßten.

Als der Graf von Arno über die Veranlassung des Besuches unterrichtet war, fragte er: »Ja, was wird aber Ihr Sohn Joseph dazu sagen, der jetzt mit dem Weltpräsidenten die Verfolgung der christlichen Kirchen begonnen hat?«

»Unser armer verblendeter Sohn«, erwiderte Sarah, »wir lassen nicht ab für ihn zu beten und glauben gewiß, der Herr wird ihn noch erretten, wie einen Brand aus dem Feuer; er ist nicht schlecht. Seine Seele ist lauter.«

»Kommen Sie durch Konstantinopel?« fragte die Gräfin.

»Ja, so der Herr will und wir leben, wollen wir in Konstantinopel mitnehmen den alten Isaak, Rubens Vater, der auch mitkommt nach Jerusalem.«

»Dann besuchen Sie bitte unsere Kinder und bestellen ihnen herzliche Grüße von uns!«

»Der Gott unserer Väter segne Sie und Ihr Haus und bewahre Sie in der Zeit der Verfolgung.«

»Ja, was mit uns nach dem 1. Oktober, wo die neuen Gesetze in Kraft treten, werden wird, steht in Gottes Hand«, sagte Arno.

Ehe das Ehepaar ging, beteten noch alle auf den Knien miteinander. Dann nahmen sie Abschied und befahlen sich gegenseitig dem Herrn.

Berlin aber hatte wieder einmal seine Sensation. Bisher wußte man wohl zur Genüge zu reden von jüdischen Zuwanderungen, so stark, daß das Gepräge ganzer Stadtviertel dadurch bestimmt worden war. Nun aber beobachtete man plötzlich eine jüdische Auswanderung ganz eigener Art. Nicht nur Ostjuden drängten sich auf den Bahnhöfen, nein mitten unter ihnen gebildete, ja bekannte reiche jüdische Familien, und was das Merkwürdigste war: alle Unterschiede schienen überbrückt. Sonst sah der reiche Berliner Jude die Ostjuden nicht an. Diese aber waren alle wie Brüder untereinander und ein eigener Glanz leuchtete aus ihren Augen, der ihren Angesichtern eine gewisse Ähnlichkeit gab. Und ihr Reiseziel: Jerusalem? Der Berliner schüttelte mit dem Kopfe; er stand vor einem Rätsel. –

Jerusalem! Schon immer schlug das Herz jedes Juden höher beim Klang dieses Namens. Doch in den letzten 50 Jahren war die Stadt in noch ganz anderer Weise in den Mittelpunkt des Interesses der jüdischen Welt gerückt. Überall sprach und schrieb man von dem gewaltigen Tempelbau, der nicht das Werk eines Einzelnen war, wie der Tempel Salomos oder der des Herodes, sondern das Werk des gesamten jüdischen Volkes. Reiche hatten Millionen und Arme Opfer von ihrem Wenigen gespendet. Nur Juden durften daran bauen; kein anderer Baumeister, Ingenieur, Handwerker oder Handlanger wurde beim Bau beschäftigt. Die Stadt hatte durch die Arbeiten in mancher Beziehung ein anderes Gesicht bekommen. Die Vorstädte nach Norden hatten sich ungemein ausgedehnt, ebenso im Innern der Stadt das Judenviertel. Seit nicht mehr die Omarmoschee auf dem Tempelplatz der Mittelpunkt des islamitischen Kultus im Heiligen Lande war, hatte die Stadt den Anziehungspunkt für die Moslem verloren und das mohammedanische Viertel war kleiner und kleiner geworden; Juden hatten es zum größten Teile besiedelt. Die Zahl der Juden in Jerusalem und Vororten war von 35 000 auf etwa 100 000 gewachsen.

Nun war der große Tag der Einweihung nahe herangerückt. Von allen Seiten zogen die Festpilger in die heilige Stadt. Die Wohlhabenderen kamen mit der Eisenbahn von Jaffa oder von Syrien, aber auch Ärmere zahlreich mit ihnen auf Kosten der reicheren Brüder. Viele Tausende kamen zu Fuß aus Asien und aus Rußland, ihr Gepäck auf einem Esel oder Maultier; nur wenn sie zu müde oder krank waren, setzten sie sich auf das Lasttier. Nicht Männer allein, auch Frauen und Jungfrauen hatten die Strapazen der Reise auf sich genommen. In den engen steilen Straßen der alten Stadt können Wagen nicht verkehren, da sie treppenartig gepflastert sind. So wimmelte es überall von Lasttieren der Wanderer aus dem Norden und der mit der Bahn angekommenen Reisenden; dazwischen hindurch wanden sich die Menschen. Große Aufregung gab es jedesmal, wenn Festpilger aus Arabien auf ihren Kamelen sich näherten, angekündigt durch die silbernen Glocken, die diese Tiere um den Hals trugen. Wenn solch ein Tier mit seiner auf beiden Seiten wohlverpackten Last sich langsam heranschob, mußten sich Menschen und Saumtiere an die Seite drücken. Überall erscholl das langgezogene Oo'a, Oo'a der arabischen Eseltreiber, die das Gepäck der europäischen Pilger beförderten. Auffallend war das Vorherrschen der deutschen Sprache unter den Festpilgern, während sonst in Jerusalem 50 verschiedene Sprachen gesprochen werden. Aber die Mehrzahl der Juden der Welt spricht einen deutschen Dialekt, das Jiddische, so daß z. B. die englischen Judenmissionare in Konstantinopel Deutsch lernen müssen, um sich den Juden verständlich zu machen. Die sogenannten »spanischen« und die arabischen Juden bilden den deutsch-polnischen Juden, den »Askenasim« gegenüber eine verschwindende Minderzahl.

Die Pilger, die erstmalig der Stadt ansichtig wurden, gerieten in einen Taumel des Entzückens. Die meisten knieten nieder und küßten den Boden der Heiligen Stadt. Der Anblick war aber auch unvergeßlich, wie das ungeheure weiße Viereck des Tempelplatzes mit seinen Marmorsäulenhallen und seinem himmelanstrebenden Heiligtum sich von der alten Stadt abhob. Einzig schön ist auch die Gebirgsaussicht. Nach Osten schweift das Auge über Gebirge und Wüsten, über Berg und Tal, im Norden sieht man das prächtige Gebirgsbild der Gebirge Benjamins, in deren Mitte Mizpa, die sanft ansteigende höchste Höhe des Landes, majestätisch wie ein Königsthron!

Nicht alle Festpilger konnten Quartier in der Altstadt oder in den Vorstädten bekommen. Viele Tausende kampierten im Freien auf den Bergabhängen um die Stadt her, die Wohlhabenderen unter Zelten, die Ärmeren auf dem durch die Sonnenglut des Sommers ausgedörrten Boden.

Auch am Abhange des Ölberges lagerten zahlreiche Pilger. Zwei junge Männer trugen einen Alten mühsam aufwärts, bis sie eine einigermaßen geeignete Stelle gefunden. Ein Esel mit Gepäck trottete hinter ihnen drein.

»Vater«, sagte der Ältere von ihnen, »hier ruhet ein wenig, bis wir Wasser geholt.«

»Moïsseï und Ilja, meine Söhne«, sagte der Alte mit leuchtenden Augen, »ich habe die Stadt gesehen, ich habe den Tempel geschaut. Nun will ich gern sterben.«

»Das sei ferne, Vater, du sollst leben und Größeres denn dieses sehen. Ruben Spassitelj, der Messias Israels und der Menschheit, wird kommen in den Lüften mit seinen Getreuen. Seine Flugzeuge sind schneller wie die Wolken. Er ist des Menschen Sohn, den Daniel hat geschaut in den Wolken des Himmels. Gestern habe ich gehört, daß er kommt zur Einweihung des Tempels.«

Der Alte seufzte: »O, meine Söhne«, sprach er mit matter Stimme, »hütet euch vor dem Betrug des Satans. Ruben ist kein Gesalbter des Herrn. Wehe ihm, wenn er betritt das Heiligtum Gottes.«

»Vater, hat er nicht geeinigt die Menschheit in einem Reiche des Friedens? Ist er nicht gut gegen die Armen und Geringen? Hat er nicht gebracht die Söhne Israels zu Macht und Ehren in der ganzen Welt? Ist er, der Sohn Israels, nicht in Wahrheit der König der Könige auf Erden?«

»Und wenn er das alles ist, was ihr sagt – wenn er nicht ist ein Knecht des Herrn, kann er nicht sein der Gesalbte des Herrn.«

»Vater«, rief Ilja begeistert aus, »wenn wir ihn sehen werden in seiner Herrlichkeit, werden wir alle anbeten zu seinen Füßen! Doch komm Moïsseï, sonst verschmachtet der Vater vor Durst.«

Im Herbst ist in Jerusalem meist furchtbarer Wassermangel. Die Wasserleitung vom Tale Arruhb zwischen Jerusalem und Hebron genügt im Sommer nicht. Die Quellen, die sie speisen, laufen in der heißen Zeit schwächer. Schon im Juli wird sie täglich nur eine Stunde offengehalten, im Herbst versiegt sie ganz. Deshalb sind die Zisternen unentbehrlich. Wer nicht beizeiten gutes Regenwasser gesammelt, ist am Schluß der acht regenlosen Monate ohne Wasser. So war jetzt im Herbste die Versorgung der Festpilger mit Wasser eine ernste Schwierigkeit.

Die beiden Brüder stiegen hinab in das Tal des ausgetrockneten Kidron, da sahen sie Menschen in südlicher Richtung gehen und schlossen sich ihnen an. An einer Biegung des Bachbettes kamen sie an den Brunnen En Rogel, wo schon zahlreiche Menschen warteten, daß sie ihr Gefäß füllen konnten mit dem erquickenden Naß. Es erforderte viel Geduld, bis sie endlich an der Reihe waren und das frische Quellwasser in ihren Ziegenschlauch rieselte. Der alte Mathanjah aber lag inzwischen in stummem Staunen über die Herrlichkeit des gerade gegenüber sich erhebenden Tempelgebäudes.

Da wurde er aus seinem Sinnen gerissen durch eine freundliche Stimme:

»Friede sei mit dir, Bruder. Bist du krank?«

Zwei Juden in langem Kaftan standen vor ihm. Eine unendliche Milde, aber zugleich ein überirdischer Glanz leuchtete von ihren bärtigen Gesichtern.

»Friede über Israel!« antwortete der Alte. »Wir sein gekommen von weither. Über den Kaukasus, durch Armenien, Mesopotamien und Syrien sein wir gereist mit diese kleine Esel. Hunger und Durst haben wir gefunden auf der Reise und viel böse Menschen, die Israel hassen wie den Tod. Meine Füße konnten nicht weiter; Esel ist schwach und konnte mich nicht mehr tragen. Aber nun freut sich meine Seele, denn ich habe gesehen die heilige Stadt und den Tempel. Nun will Mathanjah segnen seine Söhne und versammelt werden zu seinen Vätern.«

»Hier kannst du nicht liegen bleiben im Tau der Nacht. Wir bringen dich in unser Zelt.« Sie hoben den Alten behutsam auf und trugen ihn in ihr etwas höher gelegenes Zelt.

»Meine Söhne werden kommen mit Wasser und werden mich nicht finden«, sagte er ängstlich.

»Fürchte dich nicht«, erwiderte der ältere der beiden, »Aaron wird warten auf deine Söhne.«

Im Zelte brannte ein Feuer, an dem eine alte Frau das Mahl bereitete.

»Hier, Sarah, bringen wir dir den Kranken.«

»Sei willkommen in unserem Zelt«, sagte Sarah und bereitete dem Alten auf Decken und Kissen ein Lager.

Aaron aber ging vor das Zelt und schaute nach den Jünglingen aus.

Als er sie kommen sah, winkte er sie heran und führte sie hinein. Nach der üblichen Begrüßung dankte Moïsseï den Besitzern des Zeltes für ihre Liebe. »Der Gott Israels und der Erlöser der Welt vergelte euch, was ihr an seinem kranken Knecht getan.« Dann gab er seinem Vater zu trinken.

»So glaubt ihr auch an ihn?« fragte Isaak freudig bewegt.

»Ja, wir glauben, daß er ist der Messias Gottes und sehnen uns darnach, ihn zu schauen bei dem Fest.«

»Wie meinst du das?«

»Ihr seid schon länger hier und wißt noch nicht, daß der Spassítelj kommen wird zur Einweihung des Tempels?«

»Armer Jüngling, du irrst«, sagte Isaak traurig, »Ruben Issakjewitsch ist kein Erlöser der Menschheit; er ist des Satans verblendetes Werkzeug. Es gibt nur einen Messias und Erlöser; das ist der Rabbi Jeschua von Nazareth, als Sohn Gottes erwiesen in der Kraft, der kommen wird zu richten die Völker und aufzurichten sein Königreich auf Erden.«

Die beiden Jünglinge traten mit finsteren Mienen zurück und musterten Isaak und Aaron mit mißtrauischen Blicken. Der Alte aber sprach mit matter Stimme: »O, sagt mir mehr von ihm! Vor zwanzig Jahren kam ein alter Mann zu uns, der in seiner Jugendzeit gehört den Rabbi Rabbinowitsch in Kischinew. Er hat mir von Rabbi Jeschua erzählt. Meine Seele dürstet darnach, mehr von ihm zu hören. Die nach seinem Namen sich nennen in Rußland, sind Heiden und wissen nichts von ihm.«

Mit Freuden erfüllte Isaak den Wunsch des Sterbenden und zeugte im Geist und in der Kraft von dem Heiland, der seines Lebens Kraft und Freude war. Er erzählte ihm auch von dem alten Simeon, der das Jesuskind auf die Arme nahm, und sprach ihm langsam den Lobgesang Simeons vor.

Die Abendsonne sandte ihre letzten Strahlen über Jerusalem, sie leuchteten hinein in das Zelt und auf den Kranken. Da richtete er sich auf, schaute auf den leuchtenden Tempel, dann empor zum Himmel, und sprach mit verklärtem Blick die Worte nach, die er gehört.

»Herr, nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren, wie du gesagt hast, denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen, ein Licht zu erleuchten die Heiden und zum Preise deines Volkes Israel.«

Von draußen aber erklang der vielhundertstimmige Abendgesang der Pilger:

»Ich freute mich über die, so mir sagten:
Lastet uns ins Haus des Herrn gehen!
Unsere Füße stehen
in deinen Toren, Jerusalem.
Jerusalem ist gebauet,
daß es eine Stadt sei, da man zusammenkommen soll.
Da die Stämme hinaufgehen,
die Stämme des Herrn.
Wie geboten ist dem Volk Israel,
zu danken dem Namen des Herrn.
Denn daselbst stehen die Stühle zu Gericht,
die Stühle des Hauses David.
Wünschet Jerusalem Glück!
Es möge wohlgehen denen, die dich lieben!
Es möge Frieden sein in deinen Mauern
und Glück in deinen Palästen!
Um meiner Brüder und Freunde willen
will ich dir Frieden wünschen!
Um des Hauses willen des Herrn unseres Gottes
will ich dein Bestes suchen.«

Der alte Mathanjah lauschte mit Entzücken. Dann rief er seine Söhne, sie zu segnen.

Moïsseï und Ilja knieten nieder an seinem Lager. Er legte ihnen die Hände auf ihre Häupter und sprach: »Der Segen des Gottes Israels sei über euch, daß ihr auch erkennt im Glauben Jeschua, den Sohn des lebendigen Gottes.« Dann streckte er die Hände gen Himmel und rief: »Dank sei dir, o Herr.«

Seine Arme sanken herab und seine Augen schlossen sich. Die Söhne knieten an der Leiche ihres Vaters. Nach morgenländischer Sitte wurde der alte Mathanjah schon am nächsten Tage auf dem jüdischen Friedhof im Tale Josaphat beerdigt. Außer den beiden Söhnen gaben ihm Aaron und Isaak das letzte Geleit.


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