Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XIX. Babels Fall

Bald nach der Hochzeit war das Wetter umgeschlagen. Furchtbare Herbststürme und gewaltige Platzregen hatten eingesetzt, und bald wandelte sich der Regen in Schnee.

Eines Tages fuhren Arno und Elsbeth nach der Stadt, um Hertha von ihrem Büro abzuholen und mit ihr die Hagia Sophia zu besichtigen. Da der Bosporus in Nebel gehüllt war, verkehrten keine Dampfer und das Ehepaar mußte eine Barke besteigen. Die Fahrt hatte etwas Unheimliches. Der Nebel war so dicht, daß man nur selten etwas vom Ufer sah, und als ein Sturm sich erhob und den Nebel zerstreute, schlugen die Wellen wieder und wieder in die Barke, die in beängstigender Weise hin und her geschleudert wurde. In Beschiktasch, wo Wagen und Autos zur Verfügung standen, beschloß man zu landen. Bei der Stärke der Brandung gelang es erst, als der Bootsmann nach vielen Mühen endlich das vom Lande ihm zugeworfene Seil ergreifen konnte. Am Ufer fanden sie die Bevölkerung in großer Aufregung. Die Straße war gesperrt durch ungeheure Massen von Hunden, die mit Geheul, die Zungen lang aus dem Maule hängend, von der Stadt heranjagten. Eine große Zahl von Haustieren, Katzen, Eseln und Pferden, hatten sich den Hunden angeschlossen. Der Verkehr in dieser sonst so belebten Vorstadtstraße stockte. Mit ängstlichen Mienen drängten sich die Menschen an die Häuser. Arno und Elsbeth hatten nur wenige Worte des Türkischen sich angeeignet, um sich mit den Bootsführern und Kutschern zur Not verständigen zu können; sie verstanden daher nichts von dem, was die Leute untereinander murmelten. Die ganze Erscheinung war ihnen unerklärlich.

Endlich war der Zug der Tiere vorüber, und es gelang ihnen, einen Wagen, der sich in eine Nebenstraße geflüchtet, zu mieten. Nach einer halben Stunde hielten sie vor dem Gebäude der russischen Staatsbank; sie brauchten nicht lange in der Vorhalle zu warten, bis Hertha heraustrat. Auch Hertha hatte von der Auswanderung der Hunde gehört und wie die Bevölkerung ein panischer Schrecken vor erschütternden Naturereignissen ergriffen hatte.

»Man denkt doch unwillkürlich an die Auswanderung der Hunde aus Lissabon vor dem furchtbaren Erdbeben«, sagte sie.

»Viele Gelehrte bestreiten aber einen inneren Zusammenhang zwischen beiden Ereignissen und erklären die Annahme eines solchen Ahnungsvermögens der Tiere für Aberglauben«, wandte Arno ein.

»Wie das auch sich verhalten mag, laßt uns auch hierdurch von neuem ermahnt werden, wachsam zu sein und auf die Zeichen der Zeit zu achten«, mahnte Elsbeth.

Durch den geschmolzenen Schnee waren die ansteigenden Straßen Stambuls glitschig geworden, so daß der Weg zur Hagia Sophia recht beschwerlich war. Wie jeder kunstverständige Beschauer, hatten auch Arno und Elsbeth einen tiefen Eindruck von diesem gewaltigsten Kuppelbau Europas, der die Majestät und Größe des Schöpfers sinnbildlich darstellen soll. Mit andächtigem Staunen betraten sie durch das sogenannte »Schweinetor« – das Haupttor ist den Mohammedanern vorbehalten – das von Justinian erbaute Gotteshaus, nach dessen Vollendung der Erbauer in die Worte ausgebrochen war: »Salomo, ich habe dich übertroffen.« Fast 1½ Jahrtausende waren dahingegangen, Völkerstürme waren darüber hingebraust und unverändert wölbte sich die majestätische Kuppel über den schwarzen Marmorsäulen und den Goldmosaiken. Noch immer schimmerte im Deckengewölbe der Apsis das Christusbild durch die goldene Übermalung hindurch, wie eine Weissagung darauf, daß das Bekenntnis zum Sohne Gottes Mohammeds Religion überdauern wird. Mit Schmerz sahen sie auf den verschiedenen Kanzeln die mohammedanischen Schriftgelehrten, zu deren Füßen die Softas, die angehenden Geistlichen, auf die Matten des Bodens hingekauert, wie sie eifrig die Lehren ihrer Meister nachschrieben, und oben an den Säulen der ersten Empore die riesigen geschmacklosen runden, grünen Tafeln mit goldenen Koransprüchen.

»Möchte doch die Zeit bald kommen, wo auf diesem herrlichen Gotteshause wieder das Kreuz leuchtet!« sagte Arno beim Hinausgehen.

»Dazu ist es wohl zu spät«, erwiderte Elsbeth. »Du vergißt, daß die Wetterwolken des Gerichts sich über Babel zusammenziehen!«

Vor der Hagia Sophia hatte sich eine Volksmenge um einen in Lumpen gekleideten alten Mann gesammelt, dessen glühende Augen unheimlich funkelten. Er sprach lebhaft auf das Volk ein, während er mit seinem langen Stabe auf das Gotteshaus wies.

»Das ist Artin Effendi«, sagte Hertha, »von dem wir euch erzählt.«

Hertha verstand genug türkisch, um zu vernehmen, was er redete. Die Volksmenge umgab ihn in weitem Kreise, denn niemand wagte, ihn zu berühren; galt er doch als vom göttlichen Geist ergriffen.

»Wehe, wehe! Babels Stunde ist gekommen. Gottes Rache für das Blut der Märtyrer eilt herbei. Dieses Haus, einst ein Gotteshaus, nun zu einer Behausung der Teufel geworden, wird zerstört. Kein Stein wird auf dem anderen gelassen werden. Wehe euch stolzen Mammonsdienern! Euer Gold und Silber ist verrostet und eure Kleider sind mottenfräßig geworden! Reich und arm, Mann, Weib und Kind, alles wird dahingerafft. Keine Gnade, keine Schonung! Darum Volk Gottes, gehet aus von ihnen, sondert euch ab, verlasset Babel, ehe es zu spät ist. Offb. 18, 4-8. Schon sammeln sich die Adler des Gerichts. Wo ein Aas ist, da sammeln sich die Adler. Wehe!«

»Wunderbar, dieses Zusammentreffen«, sagte Elsbeth, »heute morgen die Flucht der Tiere aus der Stadt, und jetzt diese Prophetenstimme. Es ist wirklich, als ob in der unsichtbaren Welt schwere Gerichte sich vorbereiten über diese Stadt. Seit dem furchtbaren Blutbade scheint das Maß Babels voll zu sein.«

»Gott wird seinem Volke das Rechte zeigen, ob und wann wir die Stadt verlassen sollen«, erwiderte Arno, während sie weitergingen. Vereinzelte Sonnenstrahlen drangen durch die dichte Wolkendecke und vergoldeten die welken Blätter der Kastanien des großen Platzes vor der Hagia Sophia, mit denen der Sturmwind den Boden bedeckt hatte.

»Wie so manche freundliche Sonnenstrahlen in der letzten Zeit auf unsern Weg gefallen sind«, meinte Elsbeth, »so wird durch die Gerichtsschrecken der Gegenwart der wiederkommende Heiland, die Sonne der Menschheit, sich Bahn brechen – und nicht nur für Augenblicke.«

Als sie beim Bahnhof vorüberkamen, fanden sie den ganzen Platz mit Auswanderern belegt, die auch das Innere des Bahnhofs erfüllten.

Hertha fragte eine armenische Frau, wohin diese vielen Menschen reisten.

»Weißt du nicht, daß Istambol untergehen wird? Wenn du Glauben hast an den Herrn und an das Wort seiner Propheten, so fliehe von dieser Stätte!«, damit wandte sie Hertha den Rücken und schleppte ihre schwere Last dem Bahnhofe zu.

Auf dem ganzen Wege begegneten ihnen Auswanderer mit ihrem Gepäck und auf den im Hafen liegenden Schiffen sahen sie ein Gewimmel von Menschen. Das Herz war ihnen schwer von allem, was sie erlebt, als sie endlich in Bebek anlangten.

Hier fanden sie ein Telegramm von Herrn Kahn, daß er mit Rebekka schon am folgenden Tage zu kommen gedenke. Da der Zug bald nach Schluß der Bureauzeit eintrifft, erklärte Hertha sich bereit, die Ankömmlinge abzuholen und nach Bebek zu geleiten.

Als der Morgen anbrach, war die Umgegend in eine phantastische Schneelandschaft verwandelt. Der Schnee lag schon fußhoch und immer weiter wirbelten die Flocken.

Die ungewohnte Stille infolge der dichten Schneedecke in den Straßen Konstantinopels hatte etwas Beängstigendes. Hertha fand ihre Kollegen und Kolleginnen in der russischen Bank in einer eigentümlich gekünstelt lustigen Stimmung, und als sie zur Frühstückspause sich in benachbarte Restaurants begeben hatten, dauerte es sehr lange, bis sie wiederkamen.

»Fräulein«, rief ein Herr, als er Hertha sah, »heute wollen wir einmal recht lustig sein, um den Menschen zu zeigen, daß wir nicht abergläubisch sind.« Er konnte kaum geradestehen und versuchte, Hertha zu umfassen.

»Schämen Sie sich!« rief Hertha, indem sie ihn mit einer kräftigen Armbewegung zurückstieß, »und denken Sie lieber daran, wie Sie dem Gericht Gottes entfliehen können.«

Mit einem wiehernden Gelächter taumelte der Elende an seinen Schreibtisch. Kurz darauf spürten sie eine Erschütterung des Bodens. Weil man daran in Konstantinopel gewohnt ist, achtete niemand sonderlich darauf. Nach einer Stunde kam ein stärkerer Stoß, so daß die Angestellten auf ihren Schreibsesseln schwankten. Bald folgte ein merkwürdiges unterirdisches Rollen, wie ein Donner von unten herauf. Alle waren heimlich froh, als die Bureaustunden zu Ende waren und sie ins Freie eilen konnten. Auch die angetrunkenen Spötter waren zum Teil recht kleinlaut geworden.

Trotz des Schnees war der Platz vor dem Bankgebäude überfüllt von unruhig hin- und herlaufenden Menschen. Hertha war kaum über den Platz geschritten und wollte gerade die Brücke über das Goldene Horn betreten, da wurde sie durch eine furchtbare Erschütterung niedergeworfen. Ein entsetzliches Krachen folgte. Als sie sich endlich wieder erheben konnte, war alles in eine Staubwolke gehüllt. Der Staub verband sich mit dem wirbelnden Schnee, so daß es fast finster war. Man hörte wilde Angstschreie von Menschen. Als die Staubwolke sich lichtete, sah Hertha, daß das große Gebäude der russischen Staatsbank, das sie eben verlassen, in Schutt und Trümmern lag.

Mit siedender Angst überfiel sie der Gedanke an den erwarteten Zug und sie eilte, so schnell ihre Füße sie tragen konnten, über die noch unversehrte Brücke. Dann ging es hinauf durch die schlüpferigen Straßen von Stambul. Hier fand sie einige Steinhäuser eingestürzt und man mußte hin und wieder über Balken und Steine klettern. Der Wagenverkehr war dadurch gesperrt. Doch im großen und ganzen bot die Stadt noch kein Bild der Zerstörung.

Das Bahnhofsgebäude war noch unbeschädigt, aber der Boden der Bahnhofshalle war besät mit den Splittern der Glasbedachung. Keine Scheibe war mehr in ihrer Umrahmung.

Wie von unsichtbaren Händen geleitet, verließ Hertha das Bahnhofsgebäude, in dem außer den diensttuenden Beamten kaum noch ein Reisender sich aufhielt. Sie mischte sich unter die Vielen, die auf dem Bahnhofsplatze standen oder saßen. Fürbittend dachte sie der Erwarteten. Die Ankunftszeit des Zuges war schon lange vorüber.

Plötzlich wurde sie durch ein unheimliches Rollen aus ihrem Sinnen aufgeschreckt. Der Boden bog sich wie die Wasserfläche beim Sturmwind. Viel Menschen wurden umgeworfen. Da – ein Splittern, ein furchtbares Aufeinanderschlagen gewaltiger Eisenmassen, ein Bersten der Mauern, ein Niederprasseln von Gesteinsmassen, und als die aufgewirbelten Staubmassen sich verzogen, sah man die Trümmer des Bahnhofsgebäudes. Die Beamten des Bahnhofs und mehrere Reisende waren verschüttet! Die meisten der Reisenden, denen Hertha sich anschloß, halfen nach bestem Vermögen der schnell herbeigerufenen und barfuß herangeeilten Feuerwehr bei dem Rettungswerke. Als sie in der besten Arbeit waren, hörte man von ferne das Herannahen des Zuges. Da das Einfahrtszeichen nicht gegeben war, mußte der Zug außerhalb des Bahnhofs halten. Ganz langsam kam er näher. Hertha eilte nach der Stelle, wo er halten mußte.

Aufgeregt und ängstlich verließen die Angekommenen den Zug.

Hertha erkannte ihren früheren Chef und begrüßte ihn und seine Tochter.

»Sie kommen in einem furchtbaren Augenblicke an«, sagte Hertha.

»Und doch sind wir froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, denn der letzte Teil der Fahrt war entsetzlich«, erwiderte Rebekka.

Ein Hamal lud das sämtliche Gepäck in fachkundiger Verschnürung auf seinen Rücken und ging ihnen voran auf dem Wege zur Brücke, wo die Bosporusdampfer anlegen. Der Dampfer war schon ziemlich gefüllt, aber sie fanden noch Platz in der Deckkajüte.

Herr Kahn erzählte, wie der Zug oft nahe am Entgleisen oder am Umfallen gewesen, wie er aber immer wieder gnädig bewahrt worden war. »Gewiß, weil so viele Messiasgläubige im Zuge waren«, fügte er hinzu. Als der Dampfer abgefahren, sah Hertha zu ihrem Schrecken, daß die gewaltige Kettenbrücke über den Bosporus verschwunden war. An den Ufern starrten die Ruinen der riesigen Brückenköpfe; von der Brücke selbst war nichts mehr zu sehen!

Während Hertha die Gäste auf dieses furchtbare Opfer des Erdbebens hinwies und ihnen das wunderbare Bauwerk schilderte, wurde die Oberfläche des Meeres unruhig. Es war kein Wind, der die Wasser aufwühlte, die Luft war fast windstill. Trotzdem rollten Wellen mit weißen Schaumkämmen heran und der Dampfer tanzte auf und nieder. Immer größer wurden die Wellen. Es war, als ob eine geheimnisvolle Gewalt das Wasser nach oben schleuderte und dann wieder in die Tiefe hinabzog. Die Dampfer, die im Hafen vor Anker lagen, mußten die Anker lichten, um nicht von dem Anprall der Wogen zerschmettert zu werden. Man sah einige Schiffe, die nicht schnell genug den Anker hochwinden konnten, geborsten in die Tiefe sinken. Aber auch die anderen Schiffe litten große Not. Auf dem Bosporusdampfer, auf dem sich unsere Freunde befanden, war schon alles, was nicht niet- und nagelfest war, fortgespült worden; nun wurde auch ein Stück des Schornsteins fortgerissen.

Entsetzt schmiegte sich Rebekka an Hertha.

»Werden wir auch nach Bebek kommen?«

»Es liegt in Gottes Hand«, sagte Hertha, indem sie das junge Mädchen an sich zog. Durch die Fenster der Deckkajüte konnten sie in dem Augenblick, während das Schiff auf dem Kamm einer Welle tanzte, nach dem Ufer sehen, aber der wirbelnde Schnee und unheimliche Staubwolken verhüllten alles, was am Ufer geschah. Als sie im Bosporus waren, wehte der Nordwind vom Schwarzen Meer her und ließ zeitweilig den Ausblick auf das Ufer frei werden. Mit Entsetzen wurden sie gewahr, wie ein Trümmerfeld sich an das andere reihte. Auch an der Stelle des stolzen deutschen Botschaftspalastes waren nur noch einige niedere Mauern zu sehen.

Zum großen Leidwesen vieler Passagiere erwies es sich als unmöglich, in Beschiktasch zu landen. Die Brandung war zu stark. Auf dem Bergrücken über der Station lag der Yildiz-Kiosk, das »Sternenschloß« weiland Sultan Abdul Hamids II., jenes blutigen Tyrannen, der Ende des 19. Jahrhunderts durch die Hinschlachtung von über 100 000 christlichen Armeniern seinen Khalifenthron fester zu gründen gehofft. Welch ein Gewimmel von hohen Würdenträgern, hohen und niederen Hofbeamten war früher in dieser Gegend zu sehen! In Trümmern lagen Schloß und Moschee auf dem Berge, aber auch alle anderen stolzen Gebäude. Menschen liefen wehklagend am Ufer auf und nieder.

Erst in Ortaköj konnte das Schiff anlegen. Das Meer hatte sich beruhigt. Immer geringer wurde nun die Zahl der eingestürzten Häuser. Am meisten hatten hier noch die stolzen Paläste am Meeresufer gelitten. Endlich landete der furchtbar mitgenommene Dampfer in Bebek. Die Hamals stürzten an Bord und bald hatte einer das Gepäck von Herrn Kahn und Rebekka auf seinen Lederhöcker verstaut. Hertha fragte den Mann, wie es mit der Schule Reschad Beys stünde.

»Maschallah, die Schule ist fast unbeschädigt«, war die Antwort.

Als sie sich der Schule näherten, sahen sie, daß nur die Dachziegel herabgeschleudert und viele Fensterscheiben zersprungen waren. Das Haus, in dem Hertha wohnte, und das eines gewissen Selim Effendi, in dem sie eine Wohnung für Herrn Kahn und Rebekka gemietet, waren gänzlich wohl behalten. Hertha brachte die erschöpften Ankömmlinge erst in ihr Quartier und begab sich sodann zur Schule, um die Ihrigen von der glücklichen Ankunft zu verständigen.

Als sie an dem Gastzimmer der Schule klopfte, rief niemand herein, und als sie darauf die Tür öffnete, fand sie Arno, Elsbeth, Hasso und Elpis auf den Knien. Arno betete gerade für Hertha, Herrn Kahn und Rebekka und für die ganze Gemeinde Gottes in dieser großen Stadt. Hertha kniete mit nieder und dankte Gott für ihre wunderbare Errettung.

Wie freuten sich die Geschwister, Hertha wohlbehalten in ihre Arme schließen zu können und von der glücklichen Ankunft der Berliner zu hören! Von dem Umfang der Zerstörung, die das Erdbeben angerichtet, hatten sie noch keine Ahnung. Mit Entsetzen vernahmen sie Herthas Bericht. Aber nun folgte eine Hiobspost der anderen. Es kamen viele Leute ins Haus. Der eine hatte dies, der andere jenes gesehen oder erfahren, und aus allem ergab sich die erschütternde Gewißheit, daß Konstantinopel, die Welthauptstadt, vernichtet war! Offb. 16, 18-19; 18; 19.

Als Hertha abends in ihr Quartier ging, fand sie die Familie in großer Aufregung. Der Vater war nicht wiedergekehrt. Wohl aber kam zu Fuß, über und über mit Wunden bedeckt, die Kleider überschüttet mit Kalkstaub und Schmutz, der Direktor der russischen Staatsbankfiliale. Ohnmächtig brach er in der Haustür zusammen. Als er wieder zur Besinnung gekommen, berichtete er von dem, was er erlebt. Beim Einsturz des Hauses waren einige Balken schräg über ihn gefallen, so daß ein Hohlraum entstand, in dem er geborgen war. Als das Erdbeben vorüber war, war es ihm nach großer Mühe und mannigfachen Verletzungen durch fallende Steine und Holzteile gelungen, das Freie zu gewinnen. Von dem Beamten, in dessen Haus er sich geflüchtet, hatte er nichts bemerkt. Ganz Konstantinopel war ein Trümmerhaufen geworden und der größte Teil der Bevölkerung war dabei umgekommen. Über Steine, Balken und Leichen war er geklettert – stundenlang. Es war schwer, sich zu orientieren, denn große Erdspalten hatten sich aufgetan und ganze Straßen in ihrem Abgrund verschlungen. Feuerflammen drangen aus den Erdspalten hervor, so daß die Trümmer in ihrer Nähe anfingen zu brennen. Mühsam mußte er sich einen Weg suchen zwischen den Erdspalten und den Feuersbrünsten. Über alle diese Stätten des Grauens und der Verwüstung aber breitete der wirbelnde Schnee sein schauriges Leichentuch, nur unterbrochen durch die züngelnden Flammen.

»Konstantinopels Ende bedeutet das Ende unserer Kultur«, rief er ein über das andere Mal aus. »Der Welthandel ist tot, die Geldquellen versiegen, der Weltstaat geht zugrunde!«

Am nächsten Morgen fand sich Hertha bei Herrn Kahn und Rebekka ein, die nach den furchtbaren Erlebnissen kaum Schlaf gefunden hatten, und ging mit ihnen zu den Geschwistern. Es war für Arno und Elsbeth eine große Freude, die lieben Menschen trotz allem gesund wiedersehen zu dürfen.

Herr Kahn erzählte von den letzten Verschärfungen der Gesetze gegen die Christen. Die Behörden waren angewiesen worden, alle Christen aufzuspüren und jeden, dessen Zugehörigkeit zum Bunde der christlichen Kirchen nachgewiesen war, nicht mehr durch Hungerboykott einem langsamen Tode zu überliefern, sondern sofort an die Wand zu stellen und zu erschießen. Auch die Führer der christlichen Kirchen, die man bisher aus einer gewissen Scheu noch nicht angetastet hatte, die Erzbischöfe von Berlin und Köln, der Papst Pius XII. und alle evangelischen und katholischen Bischöfe waren auf diese Weise getötet worden. Und dann kam die furchtbare Heimsuchung über die messiasgläubigen Juden. Berlin sah ein Judenpogrom, wie sie sonst nur in Rußland vorgekommen. Die letzte Versammlung der messiasgläubigen Synagoge in der Oranienburger Straße wurde durch militärische Gewalt gesprengt, die Teilnehmer verhaftet und auf dem Hofe des Untersuchungsgefängnisses in Moabit erschossen. Dieses Blutvergießen war sogar den ungläubigen Juden zu viel. Voll Empörung erhob sich die Judenschaft gegen den Staat, und dieses ihr Eintreten für die verfolgten Gläubigen lohnte ihnen der Herr dadurch, daß viele von ihnen anfingen, nach Jesus zu fragen. So dehnte sich durch die Verfolgung die messianische Bewegung im Judentum immer mehr aus.

Herr Kahn und Rebekka hatten einige Tage vor ihrer Abreise gemerkt, wie verdächtige Individuen, offenbar Spitzel der Regierung, um ihre Villa herumschlichen. Sie ahnten daher, welches Geschick ihnen bevorstand und reisten so schnell als möglich ab.

Nun war es ihnen das dringendste Anliegen, sobald als möglich nach Jerusalem zu kommen. Hasso hatte Papasian Effendi, den armenischen Einkäufer der Schule, auf Erkundigungen ausgeschickt. Nach einigen Stunden kam er zurück und berichtete, daß die ganzen asiatischen Stadtteile Konstantinopels unversehrt seien und daß morgen von Haidar Pascha ein Zug nach Jerusalem abgehe. Aus Europa seien mit den letzten Zügen, die freilich nur bis Kütschük-Tschekmedsche fahren konnten, wieder viele, meist jüdische Reisende eingetroffen.

»Es ist meine feste Überzeugung«, sagte Herr Kahn, »daß wir unmittelbar vor der Ankunft des Messias stehen. Die wichtigsten Entscheidungen werden sich in Jerusalem abspielen. Hier wird Ihres Bleibens nicht mehr lange sein. Jerusalem ist der einzige Zufluchtsort der Kinder Gottes. Der heldenmütige Gouverneur von Palästina wagt es, dem Antichristen zu trotzen. Deshalb lade ich Sie herzlich und dringend ein, meine Freunde, sich uns auf der Reise nach dem Heiligen Lande anzuschließen. Die Kosten trage ich, denn was ich habe, habe ich für die Brüder und Schwestern im Herrn.«

Mit Freuden willigten Arno und Elsbeth ein. Hertha schlug das Herz bis an den Hals hinauf, doch sie widersprach nicht. Hasso sah auf Elpis hernieder, die sich ängstlich an ihn schmiegte.

»Liebster«, bat sie flehend, »wir können Vater nicht allein lassen. Du weißt, ich habe es ihm versprochen. Vater aber wird keinenfalls die Heimat verlassen.«

»Gut, Liebling, so bleiben wir hier. Für Vater wird's auch in Zukunft Arbeit geben, und wenn der Herr verzieht, so werden die Kinder in den Bosporusorten auch ferner eine Schule gebrauchen. Den Herrn können wir ebensogut hier erwarten.«

Als sie Reschad Bey ihren Entschluß mitteilten, freute er sich, da Hasso ihm nicht nur ein unentbehrlicher Mitarbeiter, sondern auch ein treuer Ratgeber in allen religiösen Fragen geworden war. Arno aber sagte zu ihm: »Wir bleiben verbunden auch in weiter Entfernung, denn ich weiß, Effendim, auch Sie warten auf das Kommen unseres Herrn.«

»Beten Sie für mich, daß er mich nicht verwirft, wenn er kommt!« bat der Direktor. »Ich habe auf Erden keine andere Hoffnung mehr. Allah, der Allbarmherzige, vereinige alle Ihm Ergebenen durch den großen Propheten Issa, = Jesus. den Sohn der Mirjam, wenn er kommen wird mit allen seinen heiligen Engeln zur Rache über die Übeltäter und zum Lobe der Gerechten.«

In der Nacht vor der Abreise hatten alle denselben Traum, so daß sie wußten, der Herr wollte ihnen etwas damit sagen.

Sie sahen den Himmel offen, um den Thron Gottes die vier Cherubim, vor ihm die 24 Ältesten mit weißen Kleidern und goldenen Kronen, im Hintergrunde eine unabsehbare Schar von Engeln. Da kam einer der Engel zu ihnen herabgeflogen und der Glanz seiner Herrlichkeit erleuchtete die Erde. Er faßte sie bei der Hand und sprach: »Seid getrost und weinet nicht, stimmt ein in den Lobgesang der himmlischen Scharen.« Da hörten sie, zuerst leise, wie von ferne her, dann immer mächtiger anschwellend, brausend, wie Meereswellen, den Lobgesang der himmlischen Heerschar:

Halleluja!
Heil und Preis, Ehre
und Kraft sei Gott unserm Herrn!
Denn wahrhaftig und gerecht sind seine Gerichte,
daß er die große Hure verurteilt hat,
und hat das Blut seiner Knechte
von ihrer Hand gerächt.
Sie ist gefallen, sie ist gefallen, Babylon die große,
und eine Behausung der Teufel geworden,
und ein Behältnis aller unreinen Geister;
denn von dem Wein ihrer Hurerei
haben alle Völker getrunken,
und die Kaufleute auf Erden
sind reich geworden von ihrer großen Üppigkeit.
Es sind die Reiche der Welt
unseres Herrn und seines Christus geworden,
und er wird regieren von Ewigkeit zu Ewigkeit!
Lobet unsern Gott, alle seine Knechte,
und die ihn fürchten, beide, klein und groß!
Halleluja!

Dann befahl der Engel ihnen, auf die Erde zu blicken, und sie sahen das rauchende Trümmer- und Leichenfeld Konstantinopels. »Die Gerichte Gottes des Allmächtigen«, sprach er, »sind wahrhaftig und gerecht. Schauet und lernet: anders als die Erdenbewohner sahen die Himmlischen die Dinge auf Erden. Oft, wenn die Erdenbewohner weinen und heulen, jauchzen die Himmlischen. Oft aber, wenn die Erdenbewohner herrlich und in Freuden leben, trauern die Himmlischen. Der Herr hat euch die Augen geöffnet, daß ihr schauen könnt mit den Augen der Himmlischen. Gehet hin und seid getrost, eure Erlösung naht.«

Alle hatten dasselbe gesehen und dieselben Worte gehört. Es war der Herr, der ihnen durch das Traumgesicht eine Stärkung gesandt für ihre weite Reise. Die Ruhe und Sicherheit, die dadurch über sie kam, zeigte sich auch darin, daß sie ihre Reise nun nicht überstürzten. Nach all den erlebten Schrecken bedurften Herr und Fräulein Kahn auch noch der Ruhe.

Zwei Tage später lagen die Ufer des Bosporus in strahlendem Sonnenglanze. Bald hatten die Sonnenstrahlen auch die letzten Spuren des Schnees geschmolzen. In dem schloßartigen, von deutscher Baukunst errichteten Bahnhofsgebäude am Meeresstrande von Haidar Pascha drängten sich Auswanderer der mannigfaltigsten Art, Türken, Armenier, Juden, Araber, in buntem Gemisch. Die Bahnverwaltung mußte einen Vorzug ablassen, um einigermaßen den Verkehr zu bewältigen, obwohl die meisten Auswanderer den Seeweg benutzten.

Mit Mühe gelang es unseren Reisenden, noch Plätze im Vorzuge zu finden. Hertha trug den kleinen Jungen, dem das Menschengewimmel große Freude zu machen schien. Ein barfüßiger Knabe lief am Zuge entlang und rief: »Journal, Journal, Inglis, Franzis, Allemanjaly!«

Arno erstand zwei deutsche Zeitungen, das Regierungsblatt, »Die Rote Fahne«, und das Blatt der Hochfinanz, »Der Börsencourier«.

Beide Zeitungen waren voll von den Nachrichten über die Zerstörung Konstantinopels. Aber wie verschieden waren die Schlußfolgerungen, die daraus gezogen wurden!

Der »Börsencourier« hallte wieder von dem Weh, das die Finanz- und Handelswelt durchzitterte. Vgl. dazu Offb. 18, 11-24. Die ungeheuren Vorräte der verschiedensten Waren, die in den Riesenspeichern der großen Handelshäuser aufgespeichert gelegen, wurden nach Mutmaßung geschätzt. Wie viele Tausende der reichsten Handelsherren, deren Schiffe die Meere und deren Geld die Völker beherrschte, waren an den Bettelstab gekommen! Und die reichen Börsenkönige, von deren Spekulationen oft Wohl und Wehe der Völker abhing – wo war ihre Macht geblieben? Es war ein öffentliches Geheimnis, daß in den Kellern der großen Banken von Konstantinopel, wie einige Jahrzehnte vorher in denen von New York, der größte Teil des Gold- und Silberschatzes der Welt in Barren verborgen lag. Das Sondergesetz, das die internationale Hochfinanz beim kommunistischen Weltstaate für sich durchgesetzt, hatte wie der Lindwurm der Sage diesen Schatz gehütet, der den Börsenkönigen ihre Macht verlieh. Die Erde hatte nun wieder verschlungen, was aus ihrem Schoße hervorgegangen. Der Geldumlauf auf der Erde war gestört, eine nie dagewesene Stockung der Industrie, dadurch eine allgemeine Arbeitslosigkeit und aus ihr hervorwachsend ein allgemeines Chaos stand bevor.

Ganz anders schrieb die »Rote Fahne«. Nach einer kurzen Schilderung des furchtbaren Ereignisses kam eine hämische Schadenfreude unverhüllt zum Ausdruck. »Zu Ende ist nun das lange heimliche Wühlen des Kapitalismus, der schon zu lange einen Staat im Weltstaate gebildet. Halbe Arbeit war es, die der Weltstaat bisher tun konnte; er war gezwungen nach dem Wort zu handeln: ›Die kleinen Diebe hängt man, die großen läßt man laufen.‹ Die Natur hat für den Kommunismus gearbeitet. Nun ist reiner Tisch gemacht und die kommunistischen Grundsätze können nun restlos durchgeführt werden. Jetzt ist nur noch ein Feind zu bekämpfen, die christlichen Kirchen. Mögen alle Regierungen den Mut finden, ihn nun schonungslos auszurotten, wenn sich ihm auch im Judentum ein unerwarteter Bundesgenosse beigesellt hat. Auf zur Tat!« In merkwürdige Beleuchtung trat dieser Artikel durch die Nachrichten über die Aussichten für das wirtschaftliche Leben der Zukunft in anderen Spalten desselben Blattes. Sie konnten den drohenden Zusammenbruch des Weltstaates nicht ableugnen und mußten unbeabsichtigt zugestehen, daß der internationale Großkapitalismus das Rückgrat und Ordnungsprinzip des Weltstaates gewesen war, dessen Vernichtung den Weltstaat mit in den Abgrund zu reißen drohte.

Arno sprach so angelegentlich aus dem Fenster des Abteils heraus mit Hasso über diese Berichte aus Deutschland, daß sie kaum noch Abschied nehmen konnten, als der Zug sich in Bewegung setzte. Langsam fuhr er an der Küste entlang und noch einmal schauten die Reisenden auf das sonnenbeglänzte, unabsehbare, rauchende Ruinenfeld. Auch an der Hagia Sophia hatte sich erfüllt, was Artin Effendi geweissagt. Der Ruhelose war nun wohl auch unter den Trümmern begraben und seine Seele hatte ihre Ruhe gefunden droben am kristallenen Meer, wo er mit der oberen Schar singen konnte:

Freue dich über sie, Himmel
und ihr Heiligen und Apostel und Propheten,
denn Gott hat euer Urteil an Babel gerichtet!


 << zurück weiter >>