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Achtes Kapitel.
Wie Heinrich auf dem Arlberge sich eingewöhnt.

Immer noch hatte Heinrich sein von Thränen benetztes Gesicht auf dem Lager verborgen, als er sich an seinem Fuße berührt fühlte. Sogleich blickte er auf und gewahrte Mutter Jacklein daneben knieen, die wunden Stellen mit einer Salbe bestreichend. Er fühlte augenblicklich eine lindernde Wirkung und zwar an seinem traurigen Herzen, denn die Sorgfalt in der Fremde ist der Liebeshauch, welcher uns mit lindem Heimatsgefühle anweht. Heinrich ließ sich von Mutter Martha, so hieß die Meierin, zum Morgenimbiß führen, wozu auch Jacklein bald kam und die letzten aufmunternden Grüße der Pilger brachte.

Heinrichs neue Heimat war ein verborgener Erdenwinkel. Das feste Gebäude glich seinem Besitzer; es erschien wie ein abgetrennter Teil einer Burg; die Felsenwände ringsum stiegen wie Mauern und Zinnen, wie Schießscharten und Wälle empor. Da gab es statt der Burgverließe schaurig tiefe und kalte Schluchten, aus welchen kein Entrinnen war. Da gab es hingegen auch Felsentürme, von wo man weit ins Land hineinsehen konnte. Da gab es auf der Hochplatte, wo die Meierei lag, einen Garten voller Alpenkräuter, farbig und duftig, bunt und reich; aber drin wandelten keine zarten Ritterfräulein, sondern die Herde weidete dort mit hellem Glockenspiele. Jacklein herrschte in seinem Besitze wie ein Freisasse und konnte in seinem ganzen Aussehen und Gebaren den ehemaligen ritterlichen Dienstmann nicht verleugnen. Er war in seinem früheren Leben in der Ferne herumgekommen, hatte viel erlebt und erfahren und konnte also guten Rat geben, was ihm in der Nachbarschaft Ansehen und Zutrauen verschaffte, besonders da er stets frohen Mutes und heiteren Sinnes war.

Jacklein sah mit freundlichem Blicke auf den heimatlosen Knaben, der schweigend und mit Thränen kämpfend die Suppe aß; dann nahm er ihn bei der Hand und sagte: »Komm', wir wollen in den Stall gehen und draußen Bekanntschaft machen mit deiner Herde.«

Jacklein hatte das Rechte getroffen. Als Heinrich wieder das wohlbekannte Gebrüll, Gewieher und Gemecker hörte, war's ihm nicht anders als wie ein Gruß von daheim. Aber wie schön und doch wieder anders war's hier! so prächtige Kühe, so stattliche, fette Ochsen und auch ein paar Pferde, fast so schön wie die Streitrosse der Ritter, stampften den Boden. Zutraulich ging er zu jedem Tiere, streichelte den glatten Rücken, sah den Kühen in ihre verschlafenen Augen und jubelte voll Bewunderung. Jacklein stand vergnügt daneben, als Heinrich sich zu ihm wandte und plötzlich fragte: »Wie heißen sie alle?«

Nun wies der Meier lachend auf die verschiedenen Tierarten und entgegnete: »Das ist ein Pferd, das eine Kuh, das ein Ochs.«

Aber Heinrich fiel ihm gleich kopfschüttelnd ins Wort: »So mein' ich's nicht, Meister. Ich mein', wie heißt jedes mit seinem eigenen Namen?«

»Nun, nun, Kleiner, sagte Jacklein, wenn auch die Tiere einem ordentlichen Christenmenschen gehören, getauft hab' ich sie nicht!«

»Aber wie soll mir dann jedes auf den Ruf folgen, Meister?«

»Nun, so gib ihnen einen Namen!« sagte lachend der Meier.

Dieser Vorschlag machte unserem Heinrich große Freude. Mit seinem klugen Kopfe und beobachtenden Auge hatte er bald einige Eigenheiten der Tiere entdeckt und einen Namen gefunden. Jacklein aber lachte stets gutmütig dazu. Dies kam freilich nicht an einem Tage zu stande, sondern Heinrich kam so nach und nach zu den rechten, taugsamen Namen und hatte endlich ein ganzes Register beisammen. Da gab es unter den Kühen ein Breitmaul, eine Scheck, eine Blaß, eine Annaliese und eine Bärbel, da gab es unter den Ochsen einen Bummler und einen Brummler, einen Boxer und einen Brüller; da gab es unter den Geißen einen Schlecker und einen Necker, ein Springfüßlein und eine Gretel; da gab es unter den Geißböcken einen Hansel, einen Jackel, einen Langbart, ein Spitzmaul, einen Zornnickel, – kurz, es gab ein langes Register von Namen. Aber die Annaliese, eine schöne braun- und weißgefleckte Kuh, mit so zartem Felle wie weicher Samt, war Heinrichs Liebling, und drum hatte sie auch just diesen Namen erhalten.

Unter solchen Beschäftigungen gewöhnte sich Heinrich sehr rasch bei Jacklein ein und seine Reise erschien ihm wie ein Traum; er hätte an die Wirklichkeit derselben kaum glauben können, wenn nicht die beiden ernsten Gestalten der Pilger so leibhaftig vor seinem Geist gestanden wären und die Sehnsucht nach ihnen sein dankbares Gemüt bewegt haben würde. Als er nun wieder in der gewohnten Umgebung war, fiel es wie ein Vorwurf in seine Seele, daß er auf der Reise beinahe den Vater, die Mutter, alle miteinander, selbst den Jakob vergessen hatte, und die Vergangenheit verband sich nun mit der Gegenwart so wunderbar, daß er oft daheim zu sein wähnte und ganz ungeheißen die gewohnten Geschäfte verrichtete. Jacklein hatte seine helle Freude darüber und gewann den kleinen Dienstmann sehr lieb.

Als Heinrichs Füße wieder ganz heil waren, forderte Jacklein ihn auf, mitzugehen. Er führte denselben in das nahe Dorf Stuben und bestellte dort beim Schneider zwei vollständige Anzüge, den einen für täglich, den anderen für die Sonntage. In dem letzteren sah er wie ein kleiner Dienstmann aus; das Lederwams mit dem Gürtel und die Pumphose stand ihm vortrefflich. Als er die Kleidung am Sonntage zum erstenmal trug und Jacklein sich zum Kirchgang nach Dalaas anschickte, gab dieser dem Knaben sein großes Schwert in den Arm und hieß ihn mit demselben hinterdrein schreiten! Wie da des Knaben Augen glänzten! Er fühlte sich mit dem Schwerte im Arme so keck, daß er nicht einmal fürchtete, dem bösen Grafen von Werdenberg zu begegnen, dessen finstere Blicke er nicht vergessen konnte.

So lange die Herbstsonne noch golden herniederleuchtete, nahm Jacklein den Knaben stets zu seinen Bergwanderungen mit, um ihn mit der neuen Heimat bekannt zu machen. Er gab ihm den eisenbeschlagenen, mit einer Spitze versehenen Stock in die Hand, lehrte ihn den Fuß sicher auf das Gestein setzen, sich emporschwingen, sich anhalten an den schlanken Tannen, schwindellos an einer Felsenkante vorübergehen und hoch oben in die Welt hinausjauchzen mit vollem Brusttone. Als sie zum ersten Male hoch oben standen und hinausblickten, frug Heinrich sogleich: »Wo ist der Weg, den die Pilger gehen?«

Jacklein zeigte ihm die Straße und die ganze Richtung, ihrer Pilgerfahrt und wieder zogen des Knaben Gedanken sehnsuchtsvoll mit ihnen. Auf einer anderen Seite zeigte Jacklein auch über die Gegend hin, welche Heinrich durchwandert war, und er dachte sich ein fernes Pünktlein, wo seine Kinderheimat liegen mußte, und o, wie schlug das kleine Herz nach Vater und Mutter und den lieben Gespielen!

Ja, auf den Bergen, da war ein schönes, neues Leben für den frischen Knaben. Wenn das Echo seine Stimme und sein helles Lachen wiedergab, war's ihm, als ob Jakob sich irgendwo versteckt habe und ihn necke. Da gab es so viel Neues zu sehen, so viele fremde Tiere, welche vorbeihuschten, krochen, sprangen, hüpften und flatterten; so mancher unbekannte Ton, manches seltsame Gekreische drang in sein Ohr, daß er mit Fragen gar nicht fertig wurde, und Jacklein ihn auf den Frühling vertröstete, wo er alles viel besser erkennen werde. Wenn sie dann abends mit dem Gesinde bei der Suppe saßen, ging's an ein so lustig Geplauder, daß Mutter Martha oft auf halbem Wege stehen blieb und ihre Eile und Arbeit vergaß, um dem Knaben zuzuhören. Bald war Heinrich der allgemeine Liebling geworden, und weil er sich so erfahren für sein Alter und so anstellig zeigte, behandelten ihn die Knechte wie ihresgleichen und hatten ordentlich Respekt vor dem kleinen Burschen.

Die fröhlichen Bergwanderungen dauerten nur leider nicht lange. Es kam zuerst ein dichter, bleierner Nebel, welcher alles einhüllte, daß man keine Bergspitze mehr sehen konnte. Wenn einmal die Sonne durchdrang, war ihr Schein fahl und kalt und alles ringsum verändert und abgestorben. Wenn der Nebel sich lagerte, glich die Hochplatte einem Eilande mitten im tiefen, grauen Wasser, aus dem die Felsenzacken geisterhaft emporragten.

Einstmals über Nacht kam der rauhe Winter mit aller Gewalt. Die Schneeflocken rasten gegeneinander, als ob sie im Kampfe lägen; der Sturm heulte gegen die Felswände gleich hungrigen Wölfen, und die Bäume krachten, von seiner Wut gebrochen.

Nun verbot Jacklein dem Knaben, das Haus zu verlassen, damit er nicht Schaden leide auf dem gefährlichen Boden voller Abgründe. Heinrich hatte aber in Hof und Stall genug zu thun, und Mutter Martha benützte ihn als kleine Magd, wobei er mit emsiger Geschäftigkeit hin und her lief. Sein fröhliches Kindergesicht war die lachende Sonne in der ganzen Meierei, die selbst am Abende nicht unterging; denn da versammelten sich alle Insassen in der großen Stube, und Heinrichs Fragen brachten Jacklein zum Plaudern über sein früheres, bewegtes Leben als ritterlicher Dienstmann. Der Knabe war ein Zuhörer, wie ein Erzähler sich nur einen wünschen kann. Er horchte mit all seinen Sinnen und bekam niemals genug. Diese Erzählungen ritterlicher Heldenthaten, von denen Jacklein oft Zeuge gewesen war, schlossen sich in seinem jungen Geiste an die Legenden der frommen Pilger. Sie hatten ihm auch vom heiligen Ritter Georg, der den Lindwurm tötete, berichtet, und der Knabe gab hinwieder seine frommen Geschichten zum besten, wobei Mutter Martha andächtig die Hände faltete.

Sie hatten nebst dem Gesinde noch einen eifrigen Zuhörer. Dies war der Neger, ein großer schwarzer, langhaariger Hund, der vor seinem Herrn lag oder saß, auf alle vier Beine gestreckt, den Kopf erhoben, oder aufrecht, indem er sich plötzlich in die Höhe richtete, als käme es nun recht schön, oder als gelte es, zum Kampf zu eilen. Bisweilen aber spitzte er die Ohren, und dann hielt Jacklein mitten in der Rede inne, um gleichfalls zu horchen, und zeigte sich der Hund unruhig, dann ging nicht selten Jacklein zur Thüre, oder noch weiter, mit einem Spieße bewaffnet. Manch verirrter Wanderer kam mit ihm zurück, wurde gewärmt und gespeist und von Jacklein und Neger auf die rechte Bahn gewiesen. Bei solchen Gelegenheiten dachte Heinrich stets an seine eigene Lebensgeschichte, wie er vom Winde umsaust unter dem alten Eichbaum gelegen war, und sein mitleidiges Herz that dem halberfrorenen Gaste alles Erdenkliche zuliebe.

Aber noch etwas anderes füllte des Knaben freie Zeit an den langen Winterabenden. Er hatte seine Papierstreifen weder vergessen noch verloren, sondern sie unzählige Male betrachtet und die einzelnen Zeichen so fest seinem guten Gedächtnisse eingeprägt, daß er sie mit dem Finger in die Luft schreiben, auf Steine und Holz kritzeln und mit Kohle malen konnte. Dann versetzte er sie wieder und wenn so ein bekannter Name eines seiner Lieblingstiere entstand, jubelte er laut auf. Nun suchte er alles, was er sah, aus diesen wenigen Buchstaben zusammenzusetzen; aber da fehlte oft gerade der erste oder hauptsächlichste und er kratzte, wie Vater Jörg gethan, verlegen hinter den Ohren. Er kam in seiner Not zu Jacklein, der aber schüttelte den Kopf, nannte es »Spinnenfüße«, auf die er sich nicht verstehe, das gehe nur den Pfarrherrn an, er hätte 'was Besseres zu thun. Wenn es sich dann hier und da so glücklich fügte, daß ein Wanderer den fehlenden Buchstaben ergänzen konnte, dann hatte Heinrich wieder für viele Tage ein herrliches Spielzeug, das ihn beschäftigte.

So verstrich der erste Winter auf dem Arlberge, und Heinrich wuchs kräftig heran; er war kein Fremdling mehr, sondern im Hause von Jacklein und Martha fast wie ein eigenes Kind geliebt, und oft dachte der Knabe: »Wie doch der liebe Gott gar so gut mit mir ist und mich gerade hierher geführt hat!«

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