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VII.

Die Nachrichten, die über das Befinden des Gefangenen von St. Helena in Rom einliefen, lauteten durchaus nicht immer gleichmäßig schlecht. Die Krankheit Napoleons, die zu Anfang in einem jener Leberleiden bestand, denen die in fremde Klimate versetzten Europäer häufig unterworfen sind, bot sehr wechselnde Erscheinungen und Bilder dar. Es gab Tage, an denen der Kranke unrettbar verloren schien, und wiederum Wochen, in denen sich seine Kräfte hoben, sein Aussehen besserte, seine Stimmung fast heiter und für frohe Zukunftsaussichten empfänglich war. Er sagte dann wohl mit wehmütigem Scherz zu Antomarchi, daß Hoffnung die beste aller Medizinen sei …

Um das Jahr 1820 herum aber lauteten die Berichte immer trüber. Dem Leberleiden begann sich das Erbübel der Bonapartes zu gesellen, an dem schon Lätitias Mann gestorben war – der Magenkrebs. Menschliche Kunst konnte hier nichts mehr retten. Nur Linderung hätte sie noch bringen können, wenn man dem Kranken ein anderes Klima, eine andere Pflege gegönnt hätte. Graf Montholon, der das Exil des Kaisers teilte, schrieb damals: »Der Kaiser ist rettungslos verloren, wenn er auf dieser verfluchten Insel bleiben muß. Sein Todeskampf ist grauenvoll.«

Dennoch blieben nach wie vor nicht nur die Hoffnungen der Mutter, sondern auch zahlloser Anderer auf ihn gesetzt. So erfuhr Lätitia, daß Matrosen der »Zenobie«, eines französischen Kriegsschiffes, das in St. Helena anlief, den Plan gefaßt hatten, den Kaiser zu entführen und nach Frankreich zurückzubringen. Einem von ihnen war es gelungen, sich Napoleon zu nähern und ihn zu bitten, daß er sich ihnen anvertrauen möge. Napoleon aber, schon geschwächt und erschöpft von der mörderischen Krankheit, die er in sich trug, lehnte den Vorschlag zur Flucht ab.

Solche Versuche, solche Nachrichten ließen die Mutter naturgemäß immer wieder auf eine günstige Veränderung im Schicksal ihres Kindes hoffen, wenngleich sich im Laufe der Jahre ihrer Zuversicht eine tiefe Bitterkeit gesellte; so daß sie jetzt weniger von den Menschen erwartet als von der Vorsehung, vom Glück, das ihr in früheren Jahren so oft gelächelt und an das sie doch nie geglaubt hatte. So schreibt sie an Katharina, die Exkönigin von Westfalen:

»Ich habe Deinen Brief empfangen, der mir sehr viel Freude gemacht hat, da ich ihn seit langem erwartete. Die Wünsche, die Du mir zum neuen Jahr aussprichst, sind sicherlich aufrichtig und gut gemeint, dafür bürgt mir Dein Herz. Durch unseren gemeinschaftlichen Kummer werden sie nur lebhafter und liebevoller. Ja, ich hoffe und wünsche inbrünstig, daß Du fest davon überzeugt seiest und so weder das Vertrauen auf Gott verlierst noch die Geduld, mit Fassung die Qual zu ertragen, die über uns verhängt ist. Schmeichle Dir nicht mit der Hoffnung, daß die Welt Dir gewähren könne, was Du vom Kongreß der Fürsten erhoffst. Ich glaube nicht, daß sie fähig sein werden, sich Deines Schicksals zu erbarmen. Gott allein ist gütig, hoffen wir auf ihn!«

Ungeachtet dieser Resignation, die sich schon vom Irdischen abzuwenden scheint, vergewaltigt sich die Mutter um des Sohnes willen in ihrem Stolz und in ihren Empfindungen, wendet sich an die Frau, die sie nie geliebt und die ihr nicht einmal ihre Briefe beantwortet hat – an Marie-Louise:

 

» Madame!

Sie kennen wie ich die Leiden des Kaisers Napoleon, und ich habe nie gezweifelt, daß all Ihre Gefühle Ihnen geboten, diese Leiden schmerzlich zu empfinden. Ich zweifle auch nicht daran, daß Sie sich werktätig für ihn bemüht haben, daß Sie alles getan haben, was Sie konnten, um ihn aus der Gefangenschaft zu erlösen, in die seine Gutgläubigkeit und seine Loyalität ihn geführt haben.

Was mich betrifft, so konnte ich mich nur an die in Aachen vereinigten Souveräne wenden, von denen ich keine Antwort erhielt. Ich habe vor mehr als zwei Jahren einen Arzt, zwei Geistliche und einige andere zum persönlichen Dienst bestimmte Leute, um die mein Sohn mich bat, nach St. Helena geschickt. Nach kurzer Zeit aber warf das mörderische Klima den älteren Geistlichen aufs Krankenlager, so daß ihm der Gouverneur die Heimreise gestattete. Er ist soeben in Rom angekommen und bringt mir Briefe, die von dem jammervollen Zustande Napoleons Kunde geben. Diese Briefe veranlassen mich noch einmal all meine Kraft zusammen zu fassen, um der Stimme der Natur und dem Aufschrei einer verzweifelten Mutter Gehör zu verschaffen. Obgleich ich völlig im unklaren bin, ob dieser Brief nicht gleich seinen Vorgängern den Weg zu Ihnen verfehlt, bin ich es mir und Ihnen schuldig, Sie von der Lage Ihres Gatten in Kenntnis zu setzen. Lassen Sie kein Mittel unversucht, das Ihnen zu Gebote steht. Aller Politik zum Trotz haben Sie das Recht gehört zu werden, und mächtige Souveräne haben wohl die Möglichkeit, ihn nach Europa bringen zu lassen, in ein Klima, das nicht todbringend ist, wie das von St. Helena, wo er Bäder nehmen und seine verwüstete Gesundheit wieder herstellen kann. Als der Geistliche ihn verließ, sprach er von Ihnen und seinem Sohn und fügte trotz all seiner Beherrschung hinzu, daß seine Tage gezählt seien, wenn man ihn nicht unverzüglich von der entsetzlichen Insel fortbringe. Ihre Majestät möge aus einliegenden Schriftstücken die Wahrheit meiner Mitteilungen und den Zustand erkennen, in dem er sich befindet. Ich bete zu Gott, daß er Sie beschirmen möge, und wenn Ihnen noch eine Erinnerung an mich, die Mutter Napoleons geblieben ist, so nehmen Sie, bitte, die Versicherung meiner Zuneigung entgegen.

Madame Mère

 

Dieser Brief, aus dem trotz der demütigen Bitten eine vernehmliche Kühle weht, blieb wie die anderen, die ihm vorangegangen waren, unbeantwortet. Es war auch gar keine Antwort mehr nötig. Liebe und Grausamkeit zerschellten jetzt machtlos an dem Strand der Insel, wo am 5. Mai 1821 unter Blitz und Donner das düstere Boot des schwarzen Fährmanns landete. An Sir Hudson Lowe und allen Getreuen vorbei schritt der Tod zu dem kleinen Feldbett, auf dem der magere, abgezehrte Mann lag, dem einst zwei Welten gehört hatten: die Welt der Wirklichkeit und die seiner Träume …

Die Nachricht vom Tode Napoleons erreichte die Mutter erst am 22. Juli. Wie fest sie trotz aller schlechten Nachrichten, trotz aller Verzweiflung immer noch gehofft hatte, wie fest und sicher sie immer noch mitten im Leben stand, und wie sie immer noch ihre Kinder zur Sparsamkeit ermahnte, beweist ein Brief, den sie am 18. Juli an Jérôme, der seiner Gewohnheit gemäß wieder einmal in Geldverlegenheit saß, schrieb:

»Ich habe Deinen Brief vom 4. Juli erhalten und antworte Dir umgehend. Ich habe Dir am 14. die Nachrichten von St. Helena geschickt, um Deine Ansicht über die zu unternehmenden Schritte zu hören. Deinem Bruder Louis geht es mit seinen Liegenschaften in Holland nicht anders als Dir, aber er hat eben Geduld. Fasse Mut, und so gering auch die Aussichten sein mögen, höre nicht auf zu hoffen, denn es gibt einen Gott, der Herr über alle Dinge ist.

»Ich kann Dir leider nichts von meinem Charakter geben; im ersten Augenblick eines Unglücks bin ich tief bekümmert, aber im zweiten hoffe ich schon wieder, und meine Hoffnung ist dann viel stärker als meine Niedergeschlagenheit war. Mach' es wie ich; wenn es nötig ist, schränke Deinen Haushalt ein, löse ihn sogar auf, indem Du Deine ganze Dienerschaft entläßt; es kann für Dich nur ehrenvoll sein, wenn Du mit Deinem Schicksal kämpfst und seiner Herr wirst. Ich bin überzeugt, daß Katharina Seelengröße genug besitzt, um sich nur mit dem Allernötigsten zu begnügen. Du hättest dies schon lange vor diesem Augenblick tun sollen, und für das Allernötigste kommt man mit sehr wenig aus. Dieser Rat entspricht ebensosehr Deiner jetzigen wie Deiner früheren Stellung, und wenn Du ihn befolgst, so wirst Du das beste Werk Deines Lebens damit getan haben. Nur eine Mutter kann diesen Rat geben, befolgst Du ihn, so hast Du nichts mehr zu fürchten und alles zu hoffen. So denke und wünsche ich, daß Du auf mich hörst und daß Du handelst wie ich selbst gehandelt habe.

»Trotz meines Alters hoffe ich immer noch, daß ich nicht sterbe, ohne Dich noch einmal gesehen zu haben und daß ich nicht immer von Dir getrennt bleiben muß. Zeige aber auch Charakter und lasse das Unglück nicht Herr über Dich werden.«

Als Lätitia die Nachricht vom Tode Napoleons erhielt, war sie zunächst wie vom Blitz gefällt; dann schloß sie sich in ihr Zimmer ein und ließ keinen Menschen zu sich, weder ihre Kinder, noch ihren Bruder. Wie sie in diesen Tagen mit sich und ihrem Gott gerungen, gehadert und geweint hat, weiß niemand. Als sie wieder vor den Andern erschien, zeigte ihr Gesicht jene Würde, die sie nie im Leben verlassen hat, wenngleich ein tränenloser Schmerz darüber gebreitet lag, der bis zum Tode nicht mehr weichen sollte. Wie tapfer sie trug, beweist am besten ein Brief des Kardinals Fesch an Jérôme, den die Todesnachricht ganz zu Boden geworfen hatte.

 

» Rom, 1. August 1821.

Vor neun Tagen hat sie die Nachricht vom Tode des Kaisers empfangen. Ihren Schmerz kannst Du Dir wohl denken, aber immerhin war sie vorbereitet durch die Nachrichten, die der Abbé Buonavita brachte, als er von St. Helena zurückkam. Wie Du aus ihren Briefen entnommen haben mußt, ist ihre Seelenstärke unerschütterlich, ja ich möchte sogar sagen, daß ihre Widerstandsfähigkeit noch hartnäckiger geworden ist. Beim Tod Elisas hat sie körperlich gelitten; angesichts dieses entsetzlichen Ereignisses aber hat sie gewissermaßen den Schmerz besiegt; sie war nicht genötigt, sich zu Bett zu legen, sie fieberte nicht, und abgesehen von ihrer tiefen Trauer, ihrem Mangel an Appetit und einer gesteigerten Schwäche kann man sagen, daß sie sich wohl befindet.

Solltest Du weniger stark sein als sie?«

 

Man hat Lätitia Bonaparte oft eine antike Erscheinung genannt. Man hat sie wohl zumeist um ihres römischen Gesichts, ihres Ernstes und ihres Titanensohnes willen mit der Mutter der Gracchen und anderen klassischen Heldinnen verglichen. Die einfache Landfrau aus Ajaccio, die über menschliche Schwächen und Leidenschaften gleichmütig wegzublicken wußte und ihnen selber untertan war, hatte aber im allgemeinen gewiß nicht mehr Verwandtschaft mit den Heldinnen des klassischen Faltenwurfs, als irgendeine Bäuerin der Campagna oder der Alpen, denen ja eine gewisse schwere Würde, ein mißtrauisches Gleichmaß der Betrachtungen eingeboren ist. Nach Napoleons Sturz jedoch, besonders nach seinem Tode wächst sie in der Tat zu einer Größe empor, die über unsere Tage hinausragt. Diese alte Frau, die keinem Menschen das Antlitz sehen lassen will, das um den großen Sohn weint, die sich mit ihrem ersten Gram um ihn wie mit einem Heiligtum abschließt, das von keinem fremden Blick entweiht werden darf, diese Frau beweist wirklich klassische Empfindung für die Majestät des Schmerzes und für die eigene Erhabenheit, die ihr, der Mutter Napoleons, nimmer verloren gehen konnte, gleichviel ob er lebte oder starb.

Die Mutter Napoleons zu sein war für sie ehedem Stolz und bangendes Glück gewesen. Seit seinem Sturz bedeutete es für sie eine Mission, der sie in allen Stunden und Tagen gehören, die sie erfüllen mußte über Schmerz und Qual der Stunde hinweg. So richtet sie denn schon drei Wochen, nachdem sie die Todesnachricht empfangen hatte, folgendes Schreiben an den englischen Minister des auswärtigen Amtes, Lord Castlereagh:

 

» Rom, 15. August 1821.

Milord,

Die Mutter Napoleons kommt, um die Asche ihres Sohnes, des Kaisers Napoleon, zu verlangen. Sie bittet Sie, ihre Forderung Seiner Majestät, dem König von England und dem Kabinett Seiner Majestät zu übermitteln. Vom höchsten Gipfel des Glücks in den tiefsten Abgrund des Unglücks gestürzt, werde ich nicht versuchen, das englische Ministerium durch eine Schilderung von den Leiden seines großen Opfers weich zu stimmen. Wer kennte besser als der Gouverneur von St. Helena und der Minister, dessen Befehle er ausführte, die Leiden des Kaisers Napoleon? Eine Mutter braucht also kein Wort mehr über das Leben und den Tod ihres Sohnes zu verlieren! Die eherne Weltgeschichte hat von seinem Grab Besitz ergriffen, die Toten und die Lebenden, die Völker und die Fürsten sind ihren Gesetzen untertan.

»Selbst in fernsten Zeiten bei barbarischen Völkern lebte die Rache nicht über das Grab hinaus: könnte die heilige Allianz unseren Tagen durch ihren Starrsinn ein ganz neues Schauspiel bieten? Und will die englische Regierung ihren eisernen Arm auch noch über der Asche des geopferten Feindes ausgestreckt halten?

»Ich fordere die irdischen Überreste meines Sohnes; kein Mensch hat mehr Anrecht darauf als eine Mutter. Unter welchem Vorwand könnte man sie zurückbehalten? Die Staatsräson und alles was mit ihr zusammenhängt, haben kein Anrecht auf einen Leichnam. Zu welchem Zweck sollte übrigens die englische Regierung ihn zurückbehalten? Wenn es geschähe, um die Gebeine des Helden noch im Grabe zu beleidigen, so würde diese Absicht die ganze Welt schaudern machen vor Entsetzen … Geschähe es, um durch eine nachträgliche Ehrung das Martyrium vergessen zu machen, das im Gedächtnis der Menschen ebenso lange dauern wird, wie England dauert, wenn es in dieser Absicht geschähe, so erhebe ich mit aller Kraft und vereint mit meiner ganzen Familie Einspruch gegen eine solche Entweihung. Eine solche Ehrung wäre in meinen Augen die tiefste Beleidigung … Mein Sohn bedarf keiner Ehrungen mehr; sein Name allein genügt, um seinen Ruhm zu verkünden, aber es verlangt mich, seine irdischen Überreste zu empfangen. Fernab vom Lärm und Streit der Welt haben meine Hände ihm in einer einfachen Kapelle die Gruft bereitet! Im Namen der Gerechtigkeit und der Menschlichkeit beschwöre ich Sie, meine Bitte nicht zu verwerfen. Ich kann das Ministerium, ich kann Seine Majestät anflehen, mir die Überreste meines Sohnes nicht zu verweigern; ich habe Napoleon Frankreich und der ganzen Welt geboren. Im Namen Gottes, im Namen aller Mütter flehe ich Sie an, daß man mir die Asche meines Sohnes nicht verweigere.«

 

Selbstverständlich ist dieser Brief nicht so, wie er da steht, aus Madame Mères Feder geflossen; wahrscheinlich hat ihn der Kardinal Fesch, dem sie seit langem schon ihre Briefe diktierte, stilisiert, redigiert, retuschiert. Dafür sprechen Stellen wie: »Selbst in fernen Zeiten, bei barbarischen Völkern lebte die Rache nicht über das Grab hinaus,« denn Lätitia, die nur gerade lesen und schreiben konnte, hatte sicher nur sehr unbestimmte Anschauungen von entschwundenen Epochen und wußte blutwenig von Moral- und Kulturgesetzen barbarischer Völker. Mag aber auch der äußere Aufputz von der feinen Hand des Kirchenmannes herrühren, so spürt man doch überall die Napoleonmutter. Nicht der Fassung, aber dem Gedanken nach muß dieser Brief in ihrem Kopf entstanden sein, denn er gleicht unverkennbar dem anderen, den sie wenige Wochen zuvor an Marie-Louise geschrieben hatte. Hier wie dort ist es der gleiche schmerzdurchbebte Mutterstolz, die gleiche, kühle Verächtlichkeit im Ton, wenn die Worte sich auch notgedrungen zu einer Art von Bitte gruppieren wollen. Hier wir dort spürt man die Würde einer Persönlichkeit, die sich wohl herablassen, aber nie erniedrigen kann.

Lätitia setzt übrigens selbst kein Vertrauen auf den Erfolg ihres Briefes, denn sie schreibt an die Gräfin Montholon:

»Wenn nur wenigstens die englische Regierung mir die Asche meines Sohnes herausgeben möchte, so würden meine der Trauer und den Tränen geweihten Tage einen Halt haben, der mein Leben verlängert. Aber ich glaube, man wird barbarisch genug sein, sie mir zu verweigern.«

Ihr Mißtrauen sollte auch diesmal recht behalten, und es war ihr nicht einmal mehr vergönnt den Tag zu schauen, an dem die glanzvolle Überführung der Gebeine Napoleons in den Invalidendom stattfand.

Das Martyrerkapitel ihres Daseins, das Napoleon hieß, war aber noch immer nicht zu Ende. An seinem Inhalt freilich ließ sich nichts mehr ändern; immerdar wird es für die Mutter ein Evangelium größten Glückes und größten Schmerzes bilden, aber rastlos, erbarmungslos schleppten die Tage noch Einzelheiten, neue Aufregungen herbei, fast zu viel für eine Einundsiebzigjährige, die schon seit sechs Jahren von tiefstem Leid gebeugt war. So liest es sich denn rührend, wenn sie am 16. August nach zager Frauenart, die ihr sonst so fremd war, an die Gräfin Montholon schreibt:

»Ganz versunken in meinen Schmerz habe ich noch nicht den Mut gefunden, mir aus den Zeitungen über die letzen Augenblicke meines Sohnes vorlesen zu lassen.«

Wenn sie aber auch in begreiflicher Schwäche zögerte, bis in die letzte Qual der Todesstunde einzudringen, so blieb sie ihr darum nicht erspart; denn Antomarchi, der Arzt Napoleons, kam ja im Sommer 1821 von St. Helena zurück, um der Familie das Vermächtnis des Toten zu überbringen. Er begab sich zunächst nach Parma, wo Marie-Louise als Statthalterin regierte, wurde aber nicht vorgelassen. Es war gewiß nicht nur Gleichgültigkeit und Roheit, die ihm die Türen der blonden Statthalterin sperrte, – ein letzter Rest von Schamgefühl mag sie abgehalten haben, sich just dem Arzt Napoleons mit ihrer entstellten Gestalt zu zeigen. Kaum zwei Monate nachher gebar sie ja dem Grafen Neipperg den ersten Sohn. Hierauf suchte Antomarchi Louis auf, der damals nach Florenz verzogen war, wurde aber auch hier nicht vorgelassen. Louis, der nunmehr Graf Saint-Leu hieß, war im Exil noch nervöser und hypochondrischer geworden, als er es gewesen, und lebte fast ausschließlich der Sorge um seine Nerven, seine wirklichen und seine eingebildeten Krankheiten. Er erklärte sich viel zu leidend, viel zu sehr von Schmerz überwältigt, um weitere Aufregungen ertragen zu können.

Die Fürstin Borghese dagegen, die Frau, die so oft lächerlich und manchmal bewundernswert erscheint, konnte nicht genug fragen, nicht genug von den letzten Leidenstagen des Bruders erfahren, den sie vergöttert hatte. Der Besuch Antomarchis erschütterte sie derart, daß ihr Zustand sich wesentlich verschlechterte. Über den Besuch bei der Mutter berichtet er:

»Die Bewegung von Madame Mère war noch heftiger als die der Fürstin. Ich mußte sehr vorsichtig, sehr zurückhaltend sein, ich durfte ihr nur einen geringen Teil dessen erzählen, was ich mit angesehen hatte. Bei meinem zweiten Besuch war sie resignierter, gefaßter. Ich erzählte ihr Einzelheiten, wurde aber immer wieder durch ihr Schluchzen unterbrochen. Ich wollte verstummen, aber diese unglückliche Mutter trocknete ihre Tränen und drang mit neuen Fragen auf mich ein. Mut und Schmerz rangen sichtbar in ihr; nie habe ich einen grausameren Kampf mit angesehen.«

Der Kuriosität, nicht der Glaubwürdigkeit wegen, sei hier ein Begebnis eingefügt, das die Vorleserin Lätitias, Madame de Santrouville, in ihrem Journal aufgezeichnet haben soll und das Larrey, der Biograph von Madame Mère, wiedergibt:

»Am 2. Mai 1821 sprach gegen Nachmittag ein anständig gekleideter Fremder im Palast Madame Mères vor und bat, daß man ihn zu ihr führe. Der Türhüter fragt ihn, ob er um eine Unterredung nachgesucht habe, da er sonst nicht vorgelassen werden könne. Der Fremde erwiderte, daß er zwar um keine Unterredung nachgesucht habe, Madame aber dennoch sprechen müßte, da er ihr eine Mitteilung von größter Wichtigkeit zu überbringen habe. Der Türhüter weigert sich ihn einzulassen, aber der Fremde beharrt so nachdrücklich auf seinem Willen, daß er ihn schließlich in den Vorsaal führt, wo sich die Lakaien aufhalten, und einem von ihnen sagt, er möge dem Kammerdiener mitteilen, daß ein unbekannter Herr um die Ehre bitte, bei Madame vorgelassen zu werden, da er ihr eine Mitteilung von größter Wichtigkeit zu machen habe. Der Kammerdiener fragt den Fremden nach seinem Namen, um ihn anzumelden. Dieser erwidert ungeduldig, daß er ihn nur Madame selbst nennen werde. Man benachrichtigt Madame, die ihren Kämmerer und ihre Gesellschafterin bei sich hatte; sie entschließt sich, den Fremden vorzulassen, der indes ungeduldig im Vorsaal hin und her geht, bis Mr. Colonna ihn einläßt. Der Unbekannte dankt dem Kämmerer, tritt in den Salon ein, verneigt sich vor Madame und drückt den Wunsch aus, sie ohne Zeugen sprechen zu dürfen. Mr. Colonna und Fräulein Mellini ziehen sich auf einen Wink Madames in ein Nebenzimmer zurück, um auf das leiseste Zeichen wieder bei der Hand zu sein.

Der Fremde nähert sich Madame und beginnt ihr vom Kaiser zu sprechen, als ob er ihn eben verlassen hätte. ›In dem Augenblick, da ich zu Ihnen spreche, ist der Kaiser Napoleon von seinen Leiden erlöst, er ist glücklich.‹ Indem er diese Worte sprach, griff er mit der Hand in seinen Busen, so daß Madame dachte, er lange nach einem Dolch; er zog aber ein Kruzifix hervor und sagte mit feierlicher Stimme zu Madame: ›Hoheit, küssen Sie den Erlöser, den Erretter Ihres heißgeliebten Sohnes. Diesen Sohn, den Sie so tief beklagen, diesen Sohn, dessen Namen in den Städten und in den Dörfern schallt, Sie werden ihn nach langen Jahren wiedersehen … Aber vor diesem denkwürdigen Tage wird es in Frankreich große Regierungsumwälzungen geben, und Bürgerkriege, Ströme Blutes werden fließen, Europa wird in Flammen stehen. Aber Napoleon der Große wird wiederkehren, Frankreich einnehmen und alle Länder Europas werden seinen Einfluß verspüren. Dies ist das große Werk, zu dem Napoleon der Große vom König der Könige bestimmt ist.‹

Der Unbekannte, der also sprach, schien ein von Gott begeisterter und von Gott zu einer bekümmerten Mutter gesandter Prophet zu sein, um ihr durch ihn seinen unwandelbaren Willen über das Schicksal ihres Sohnes kund zu tun. Madame lauschte noch in einer Art Verzückung, als er auch schon verschwunden war, sie in tiefen Gedanken zurücklassend.«

»Dieser seltsame Besuch,« sagte Mr. Colonna, »schien Madame derart hoffnungsfroh gestimmt zu haben, daß sie neue Livreen für ihre Lakaien machen ließ. Ihre Hoffnungen sollten sich noch steigern, als der zweite Geistliche von St. Helena später Madame mitteilte, daß Napoleon genau an dem Tag und um die Stunde verschieden sei, wo der Fremde zu ihr gesprochen hatte.«

Madame de Santrouville fügte hinzu:

»Madame hat mir mehr als einmal diesen seltsamen Besuch geschildert, und Monsieur Colonna meinte, daß der Fremde dem Kaiser in Erscheinung, Auftreten und Stimme täuschend geglichen habe.

Alle versuche, diesen Fremden in Rom oder in der Umgegend wieder aufzufinden, sind vergeblich gewesen, er blieb einem Schatten gleich verschwunden, ohne eine Spur zu hinterlassen.« –

Diese kleine Geschichte, die eines gewissen mystischen Reizes nicht entbehrt, könnte natürlich ohne Bedenken zu den übrigen Treppenwitzen der Weltgeschichte gerechnet werden, wenn sie nicht einen Satz enthielte, der widersinnig scheint; für jede andere Mutter widersinnig wäre, aber für Lätitias Hoffnungsfreudigkeit, die schon über die Grenzen der eigenen Zeitlichkeit hinaussah, sehr charakteristisch ist. Es ist der Satz, der erzählt, daß ihre Hoffnungen sich noch steigerten, als sie erfuhr, daß Napoleon gerade um die Stunde verschieden war, da der Fremde die Worte der Verheißung zu ihr gesprochen hatte. Für jede andere Mutter wäre mit dem Sohn auch jede Hoffnung gestorben, Lätitia aber richtet die Augen in die Zukunft und harrt, die prophetischen Worte des geheimnisvollen Besuchers in der Seele tragend, auf die Wiederkehr des napoleonischen Gedankens. Nun war sie nach ihrer Auffassung nicht nur mehr die Mutter Napoleons, sondern die Mutter einer Dynastie. Ihre Blicke richteten sich nach Wien auf das Kind, das sein Vater noch als Napoleon II. zur Herrschaft eingesetzt und dem der österreichische Großvater dann den Namen Bonaparte genommen und gegen den klanglosen »Herzog von Reichstadt« eingetauscht hatte. Als »ein Kind männlichen Geschlechtes von der Erzherzogin Marie-Louise geboren« war der Knabe nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs in die Register des mütterlichen Hauses eingetragen worden. Als Lätitia die absurde Eintragung vernommen hatte, fand sie, die sonst weder maliziös noch geistreich war, ein ebenso treffendes wie bitteres Wort: »Wahrhaftig, solche Ehre hätten wir uns nicht träumen lassen; als ich meinem Sohn Marie-Louise zuführte, glaubte ich, daß sie seine Frau werden sollte, nun sehe ich, daß sie nur seine Geliebte war.«

Jahre sind über das Wort weggegangen und der Tod dazu. Auf dem zehnjährigen Knaben, den die Großmutter nie mehr gesehen hat, von dem sie nichts weiß, nie eine Zeile erhält, den sie sicher als das Ebenbild seines Vaters träumt, indes er in Wirklichkeit ach! alle Malzeichen der absteigenden Rasse an sich trägt – auf diesen Zehnjährigen häuft die alte Frau jetzt alle Wünsche, alle Hoffnungen, alle Liebe, die sie bislang nach St. Helena gesandt hatte.

Als ihr erster Schmerz vorüber war, machte sie ihr Testament. Ihre Kinder, sowie ihr Bruder wurden gut bedacht, für Freunde und Dienerschaft Andenken und Legate ausgesetzt, das Hauptvermögen aber sollte dem Herzog von Reichstadt bleiben. Vom Vater hatte sie alles empfangen, dem Sohn sollte alles gehören, nur die Erinnerung nicht, mit deren schwermütigen Dolden sie immer aufs neue das Andenken ihres Toten bekränzte.


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