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Nimmermehr will die trotzige Insel zur Ruhe kommen. Empörung tobt in ihrem Herzen, Aufruhr gürtet ihre Lenden mit stachligem Eisengürtel. Wenn der Wind im Osten aufspringt, geht er über Leichen hin; wenn er vom Westen kommt, klirrt er von Waffen. In dem goldglitzernden, blauen Spiegel des Mittelmeers schwimmen unheimliche, rote Lachen. Zerstampft sind die blumigen Matten, auf denen einst die lustigen Ziegen weideten, die Widder mit den schwermütigen Gesichtern. In felsigen Schluchten, auf Bergeshöhen, wo sonst nur der Jäger gepirscht, drängen sich jetzt in verzweifeltem Kampf Verfolger und Verfolgte, – Franzosen und Korsikaner. Korsika kämpft um das große, heilige Menschenrecht, das zwar noch von keinem Contrat social verkündet worden, aber jeder Brust tief eingeboren ist: Korsika kämpft um seine Freiheit.
Freiheit – holdseliges Wort mit den tiefen Friedensaugen und der sanftatmenden Brust, nur für flüchtige Augenblicke bist du dem ernsten Volk dieser Insel zur Wirklichkeit geworden. Soweit Korsika zurückschauen mag in seine Vergangenheit, überall blickt es auf Unfreiheit; immer ist es wie eine Sklavin von einem Herrn zum anderen gegangen. Vom Phönizier zum Römer, vom Römer zum Goten, zum Vandalen, zum Byzantiner, zum handeltreibenden Pisaner. Eine Weile befahl ihm Gregor VII., der große, harte Mann, der Kaiser verfluchte und sie erst nach schimpflicher Buße wieder vom Bann löste. Dann gerieten die Korsen in die schachernden Hände Genuas, deren Herrschaft sie sich erst nach jahrzehntelangem Kampf beugten. Wer aus der Geschichte das Joch kennt, das die italienischen Handelsrepubliken ihren Besiegten aufzwangen, weiß, daß Korsikas Schicksal nicht leicht gewesen sein mag, da es den Genuesen gehörte …
Aber auch Genova la superba hat die Tage ihres höchsten Glanzes bereits hinter sich. Genova la superba, unfähig, die Aufstände der Korsikaner allein zu dämpfen, hat (1738) Frankreich zu Hilfe gerufen, ist aber jetzt – o kläglicher Anblick – außerstande, an seinen Helfer die ausbedungene Summe für seinen Beistand zu zahlen. Genova la superba nimmt also einen schönen Abgang von Korsika und überläßt (1768) die Insel an Frankreich. Nun streckt der fünfzehnte Ludwig lüstern die verknitterten Königshände nach ihr aus, als wäre sie ein schönes Weib …
Aber Korsika will die Freiheit, will nicht genuesisch, nicht französisch, sondern korsikanisch sein. Für etliche Monate (1736) war es ihm ja schon gelungen, hatte es ein eigener König, Theodor I., beherrscht, der freilich zugleich auch der letzte war. Ein kleiner, verkrachter Offizier, der ehedem ein simpler Baron von Neuhof aus Metz und in Paris beim Lawschen Millionenschwindel beteiligt gewesen war. Die Farce dieses kleinen, verkrachten Leutnants mutet wie ein grotesker Auftakt an zu dem Weltschicksal, das wenige Jahrzehnte später ein anderer, kleiner, verkrachter Leutnant von Korsika aus über den Erdkreis hintrug …
Als die Franzosen in Korsika einrückten, bewies Theodor I. denselben königlichen Mut, den später die Prinzen des Hauses Bourbon bewiesen, das heißt, er ergriff die Flucht. Nun scharten sich die Korsikaner um ihren Landsmann und Abgott, den General Paoli, der mit ihnen für die Freiheit, die Unabhängigkeit der Insel kämpfen wollte. Schöne Worte sprach er und begleitete sie mit heldenhaften Taten. Leider aber hatte er nebenbei auch von Genova la superba gelernt, daß Geschäft immer Geschäft ist, und daß man neben patriotischen Worten und Taten immer noch an den eigenen Vorteil denken kann. So ließ er über Frankreichs Lilienbanner zwar die uralte Fahne Korsikas – den Mohrenkopf – wehen, aber insgeheim schielte er nach England hinüber, nach England, das Frankreich soeben seine amerikanischen Kolonien entrissen hatte und mit seinen jungen, brutalen Erobererfäusten auch gerne nach Korsika gegriffen hätte.
Korsika aber merkte zunächst noch nichts von dem perfiden Schielen seines Abgottes, spürte nichts von der Gefahr, die lauernd von britannischer Küste her übers Meer gestrichen kam. Der Feind, das war nur Frankreich, der Stellvertreter und Erbe des Genuesen, und gegen die französischen Regimenter, die Ludwig XV. geschickt hatte, kämpften die Korsen mit Kraft und Verzweiflung. Zunächst freilich hatten sie als halbe Italiener ihrer Verachtung der Fremdherrschaft einen sehr praktischen Ausdruck geben wollen: Sie hatten sich nämlich geweigert, an Frankreich Steuern zu zahlen, und motivierten diese Enthaltsamkeit damit, daß sie nach korsikanischen Begriffen allesamt adelig, also steuerfrei seien. Eine solche Überfülle blauen Blutes ging selbst über französische Rokokobegriffe hinaus. Ludwig XV. ließ also vierhundert Familien als adelig erwählen und bestätigen. Unter ihnen befand sich auch die Familie Buonaparte. Der Rest der Insel blieb zum allgemeinen Mißvergnügen bürgerlich und steuerpflichtig.
Aber der neugeschaffene Adel Korsikas war nicht wie der Adel Frankreichs, der für Geld oder Geldeswert jeder eigenen Würde vergaß. Die vierhundert korsikanischen Familien geben um Adelsprädikat und Steuerfreiheit ihre Sehnsucht nach Freiheit nicht auf. Paoli, der kluge General und Geschäftsmann, hat keinen heißeren Bewunderer als Karlo Buonaparte, den jungen Stadtrat von Ajaccio, der sich vor kaum zwei Jahren mit der siebzehnjährigen Lätitia Ramolino vermählt hatte.
Frühsommer 1769 ist's. Immer noch streiten die Männer Korsikas gegen den neuen Herrn. Ihre Frauen stehen ihnen treulich zur Seite, wagen sich mit ihnen ins Feuer des Kampfes, lagern mit ihnen in Felsspalten, wenn es gilt, den Feind auszuspähen, fliehen an ihrer Seite über schwindelerregende Grate, durch Ströme und tiefe Wälder, wenn er ihnen auf den Fersen ist. Auch Lätitia Buonaparte verläßt den kämpfenden Gatten nicht. Selber die Waffe führen kann sie freilich nicht, dazu fehlt ihr im Augenblick die Leichtigkeit und die Kraft der Bewegung, denn sie trägt ein Kind unter dem Herzen. Was weiß sie von der Schonung, der Sorgfalt, mit der man sonst junge Mütter umgibt?! Die Zeit ist zu hart für Mutterschaft und Glück, und hart wie die Zeit ist Lätitia Buonaparte gegen sich selbst. Ein Kind unter dem Herzen, ein zweites, ihren Erstgeborenen, den kleinen Josef, im Arm, reitet sie auf einem Maulesel – die Pferde stehen alle im Feld – an der Seite Karlos über unwegsame Gebirgspfade oder durch unheimliche Forste. Zwischen den dunklen Steineichen breiten sich Gehänge von wilden Myrten und Schlingrosen, daß der Wald aussieht wie ein düsterer Dom, der sich für die junge Mutter mit ihrem Ungeborenen mit grünen, rotgesprenkelten Festteppichen geschmückt hat. Seit Wochen kennt Lätitia keinen anderen Trunk als hastig aus dem Quell geschöpftes Wasser, keine andere Nahrung als eine Handvoll Früchte oder ein Stück Maisbrot, kein anderes Lager, als den Erdboden und eine Pferdedecke; wenn sie tagsüber auf ihrem Maulesel dahintrabt, todmüde vom schütternden Trott des Tieres, von Entbehrungen allerart, wenn ihr nachts die Sterne ins Gesicht scheinen, dann denkt sie wohl, wenn sie sich's auch nicht merken läßt, voll Sehnsucht an das ruhige Leben zurück, das hinter ihr liegt. Nach den Begriffen hochkultivierter Frauen mochte es freilich arm erscheinen an Erlebnissen, Reizen und Leidenschaft. Aber der Korsikanerin halb bäurische Art weiß nichts von den Ansprüchen, den Begehrlichkeiten und der Verwöhnung junger Italienerinnen oder Französinnen. Die erste Pflicht der Korsikanerin ist Gehorsam gegen den Mann, der unbedingt der Herr und, wenn's ihm gefällt, auch unbedingt der Faulenzer im Hause ist. Die Sehnsucht einer Korsikanerin ist ein Gatte, ihr Glück eine möglichst große Kinderschar.
Lätitia stammte aus einer Familie, die nach korsikanischen Begriffen nicht sehr glücklich war, denn Frau Ramolino hatte in einer mehrjährigen Ehe Herrn Ramolino nur dieses eine Kind geschenkt. Nach dem Tode ihres Mannes heiratete sie in zweiter Ehe einen Schweizer mit dem flotten Namen »Fesch«. Aber auch der neue Bund war nur mit einem einzigen Sproß, mit einem Sohn, gesegnet. Die heranwachsende Lätitia führte das typische Leben der jungen Mädchen auf Korsika: Sie ging sehr viel in die Kirche, konnte spinnen, verstand natürlich auch sonst alle häuslichen Arbeiten, hatte ein klein wenig lesen und schreiben gelernt und wartete auf einen Mann. Als Karlo Buonaparte, der Sohn einer angesehenen und wohlhabenden Familie, um sie warb, war die Freude im Hause Fesch groß. Es hieß, daß der Freier sich in das wunderschöne Mädchen verliebt habe, aber er verliebte sich doch erst, nachdem er sich bei einer anderen einen Korb geholt hatte. Lätitia nahm ihn, weil der stattliche, junge Mann ihr gefiel. Sie hätte ihn aber jedenfalls auch genommen, wenn er ihr weniger verführerisch erschienen wäre, denn auf Korsika wählt nicht das Mädchen den Gatten, sondern die Eltern verfügen über die Hand der Tochter, wie über leblosen Besitz.
Lätitia Buonaparte ist reizend anzusehn. Wenn ihre kleine Gestalt erst der Bürde ledig ist, wird sie wieder schlank und zierlich sein, wie in ihren Mädchentagen. Das feine, mattgelbe Oval ihres Gesichtes mit der kleinen Stirn, der schmalen Nase und den ernsthaften, großen Augen könnte an die Statuen griechischer Göttinnen erinnern. Aber da ist die Oberlippe, eine kindlich geschürzte, ein bißchen neugierige und ein bißchen eigensinnige Oberlippe (die charakteristische Oberlippe der Charmeurs, die Lätitia fast all ihren Kindern vererbt hat), die dem ernsten, jungen Gesicht einen Ausdruck bebender Nervosität gibt, so daß Lätitias Antlitz eher an eine byzantinische Prinzeß mahnt, denn an streng klassisches Altertum. –
Wenige Monate nur trennen die junge Frau von ihrer schweren Stunde. Aber immer noch jagt sie mit ihrem Mann durch alle Schrecken des Aufruhrs. Einmal war sie sogar nahe daran zu ertrinken, weil ihr Maultier, das mit ihr einen Fluß durchschwimmen sollte, mitten im Wasser die Sicherheit verlor und samt seiner Reiterin zugrunde gegangen wäre, wenn die Frau sich nicht mit großer Kaltblütigkeit im Sattel gehalten und das verstörte Tier beruhigt hätte. Später, als das Kind, das sie damals erwartete, Napoleon I. geworden war, wurden allerlei Legenden erfunden, wundersame Zeichen, die sich vor und während seiner Geburt ereignet haben sollten. Es heißt, daß, als Lätitia, die Hoffende, einst unter einem Baume saß, feurige Ritter aus der Luft zu ihr herabgestiegen seien und sie mit leuchtenden Schwertern und Lorbeeren gegrüßt hätten. Unnötig hinzuzufügen, daß diese Zeichen und Wunder nur Treppenwitze der Weltgeschichte sind, und zwar herzlich schale. Mystische Verzückungen, ahnungsvolle Gesichte mochten ganz gut für das hysterische Mädchen aus Orleans passen; die einfache, klare Frau aus Ajaccio hat sicher nie von ihnen gewußt. Und wie blaß, wie kindisch wirken diese feurigen Ritter mit ihren leuchtenden Schwertern und Lorbeeren neben der Wirklichkeit! Alle Phantasien und romantischen Hirngespinste können kein tiefinnigeres, einfacheres und zugleich erhabeneres Bild formen, als die Gestalt dieser jungen Mutter, die in ihrem Schoß einen künftigen Welteroberer durch die Schlachten trägt. Wenn es wahr ist, daß das Ungeborne sich nach äußeren Eindrücken formt, die die Mutter empfängt, so war das Kind, das Lätitia damals trug, vorbestimmt zum Herrn der Kriege; denn noch ehe es den ersten Atemzug getan, spiegelte sich auf dem Gesicht seiner Mutter die Flamme der Lagerfeuer, tönten ihr die Seufzer der Verwundeten und Sterbenden in die Ohren und umbrauste sie das Hurrageschrei der Sieger.
Im Juni 1769 wird dann die unglückliche Schlacht von Ponte Nuovo geschlagen, unglücklich für die Korsikaner, deren Freiheitstraum auf diesem letzten, großen Blachfelde den französischen Waffen erliegt. Paoli muß nach England fliehen, die Insel übergibt sich den verknitterten Königshänden Ludwigs XV. und hofft, als wäre sie ein schönes Weib, daß er ihr ein milder Herr sein möge.
Die Buonapartes kehren nach Ajaccio zurück in ihr hübsches, ländliches Haus, in dem Lätitia nun ruhigen Herzens der Geburt ihres Kindes entgegensieht. Die Schwiegermama Buonaparte kann kaum die Stunde erwarten, da man ihr das zweite Enkelchen in die Arme legt. Sie ist gar keine Schwiegermutter landläufiger Art, sondern sie liebt ihre hübsche Schwiegertochter von ganzem Herzen. Weil ihrer eignen Ehe nur der einzige Sohn Karlo geschenkt worden war, hatte sie bei Lätitias Hochzeit das Gelübde getan, für jedes Kind der Schwiegertochter täglich eine Messe zu hören. Da vorläufig noch der kleine Josef allein im Hause schrie und spektakelte, waren die Betstunden der alten Dame noch sehr unausgefüllt, und sie sah also mit brennender Ungeduld dem Augenblicke entgegen, da ein neuer Schreihals ihrem Tag eine neue Messe verleihen sollte.
Der Hochsommer war gekommen. Die weiche Luft Ajaccios zitterte von Süße und Duft. Die Insel lag wie in einer durchsichtigen Welle von Azur; um alte Türme, die noch aus der Sarazenenzeit stammten, schwebte ein glitzerndes Netz, das die Sonnenstrahlen gewoben. Festlich gekleidete Menschen drängen aus allen Häusern und Straßen zur Kirche hin, denn es ist der 15. August, Maria Himmelfahrt, der Tag, an dem die Mutter des Herrn mit Leib und Seele aufgefahren ist in den Himmel, um dort als Königin zu herrschen. Von allen Marientagen ist dieser Tag, »der große Frauentag« genannt, der heiligste, und Ajaccio begeht ihn mit all dem Gepränge, das dem römischen Kult und dem Italiener gleich teuer ist. Festliche Wimpel wehen von den Türmen der Gotteshäuser. Aus den Silberglasvasen der geschmückten Altäre ragen große Sträuße wilder Rosen, vermischen ihren herbsüßen Atem mit dem feinen Duft brennender Wachskerzen und dem parfümierten Geruch des Weihrauchs. Schmale Girlanden aus barbarisch abgezupften und auf Draht gezogenen Blütenkelchen schlingen sich um altersgraue Pfeiler und Portale. Priester in goldgestickten Mänteln breiten segnend die Hände über die geweihten Kräuter, die Marias Tugenden symbolisieren und denen wohltun, die gläubigen Herzens von ihnen essen …
Es ist der erste hohe Feiertag, den das französische Korsika feiert; während es mit dem Munde die Mutter des Herrn preist, denkt es wohl im Herzen seiner Freiheitshelden, seiner toten und seiner lebenden. Viel Elend und Blut ist über die Insel hingeflossen, droben im Gebirge tobt immer noch heimlich der Guerillakrieg weiter, aber trotzdem ist wohl die Mehrzahl der Bevölkerung aufrichtig entschlossen, dem neuen Herrn die Treue zu wahren. Da der Traum von der eigenen Freiheit zerstoben ist, scheint's ihnen immer noch besser, den Franzosen zu gehören, den Leuten, die ihres Stammes und ihres Glaubens sind, als dem kalten, blonden Ketzer, dem Briten, dessen brutale Erobererfäuste sich über alle Meere hinstrecken möchten, der nichts von Maria weiß und den heiligen Vater nicht als Oberhaupt der Christenheit anerkennt.
So ist denn dieser Marientag wie ein stummes Versöhnungsfest, das Korsika mit Gallien feiert, ein Fest, das verkündet: »Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen«, obwohl Weihnachten fern draußen im Jahre liegt, und die Tage kaum merklich beginnen, kürzer zu schreiten. Ganz Ajaccio ist auf den Beinen, nur Lahme oder Sterbende bleiben heute zu Hause. Auch Lätitia Buonaparte wagt sich noch ins Gedränge. Sie führt ihren kleinen Stiefbruder, den sechsjährigen Josef Fesch, an der Hand. Ein Diener geht vor ihr her, um ihr den Weg durch die Menge zu bahnen. Jeder kennt sie, jeder grüßt sie, grüßt sie nicht nur wie eine Dame, sondern wie eine Heldin: » Evviva la signora Buonaparte!« Sie dankt und eilt in die Kirche, sich dem allgemeinen lauten und stummen Gebet zu einen, und noch ein besonderes zur gnadenreichen Mutter emporzuschicken – ein Gebet für eine glückliche Entbindung. Aber kaum hat der Priester die ersten Worte gesprochen: » Gloria in excelsis Deo«, so erhebt sich Lätitia schwerfällig von den Knien, verläßt totenblaß, mit verzerrten Zügen die Kirche. Sie hat gerade noch Zeit ihr Haus zu erreichen, nicht aber mehr ihr Schlafzimmer. Auf dem Diwan eines kleinen Wohnzimmers bricht sie zusammen; eine Verwandte und ein paar Mägde, die in Eile herbeigelaufen waren, da sie die Frau heimkommen sahen, sind um sie bemüht …
Es ist behauptet worden, daß Frau Lätitia auf einem Teppich niederkam, dessen Gewebe die Geburt Alexanders darstellte. Überflüssig zu erwähnen, daß auch dieser Teppich zu den historischen Treppenwitzen gehört. In südlichen Klimaten sind gewebte Teppiche eine Seltenheit; Frau Buonaparte selbst hat die Alexander-Fabel später stets mit den Worten dementiert: »Wie hätt' er denn auf einem Teppich zur Welt kommen sollen?! In unserem einfachen Haus gab's doch überhaupt gar keine Teppiche, und dann, – hatte er's denn nötig, um Napoleon zu werden!«
Als die Sonne dieses Augusttages auf ihrem Scheitelpunkt flammte, wurde Lätitias zweiter Sohn, Napoleon, geboren. – – – In der Nacht, die auf diesen Tag folgte, hatte der große Friedrich von Preußen einen seltsamen Traum. Ihm träumte, er sähe einen mächtigen, gewitterschweren Himmel, an dem Wolken gleich fabelhaften Ungetümen standen, bereit, gierig aufeinander loszustürzen und sich zu verschlingen. Plötzlich zerstob das greuliche Heer, in sanftem Licht leuchteten Myriaden Sterne. Ein kleiner Stern, unscheinbar zuerst, stieg da mit eins vom Rande des Horizonts immer höher, immer leuchtender empor, bis er schließlich alle anderen überstrahlte. Und der große Fritz wußte, daß das sein Stern war. Aber da kam vom anderen Ende des Horizonts ein anderer Stern empor, unscheinbar zuerst, dann rötlich aufglühend, zu allen Feuerfarben sich steigernd, bis seine gewaltige, purpurne Brunst alle anderen Sterne verschlang, auch den leuchtenden, der sie zuerst überstrahlt hatte. Nach einer Weile aber verblaßte die purpurne Brunst, das rote Gestirn erlosch, und wieder stand als Herr aller Sterne der eine am Himmel, den Preußens großer Friedrich als den seinen erkannt hatte …
Es heißt, daß Friedrich diesen Traum nicht nur geträumt, sondern auch noch in derselben Nacht einem Pagen diktiert habe. Dennoch bleibt es schwer zu entscheiden, ob er Wahrheit oder auch nur ein Treppenwitz der Weltgeschichte ist, wie die feurigen Ritter mit den blitzenden Schwertern oder der Teppich mit der Geburt Alexanders. Aber selbst wenn dieser Traum nur eine nachträgliche Erfindung ist, so gehört sie zu den hübschen, die man bewahren soll, auch wenn man sie nicht glaubt. Denn dieser Traum ruft nicht übernatürliche und dennoch kindlich wirkende Mächte in die Erscheinung. Er weiß nur von den Wirkungen in die Ferne, spannt im Bezirk des Ungeschauten, nie Gewesenen, eine Brücke von Süd nach Nord, auf der in geheimnisvoller Unkörperhaftigkeit zum erstenmal die zwei Gewalten aneinanderrennen sollten, die später in der Wirklichkeit auf Tod und Leben miteinander kämpfen mußten, bis der eine von ihnen vernichtet am Boden lag, und von der scharlachenen Brunst seines Gestirns nichts blieb, als ein kleiner Hoffnungsstern, der über den Gefilden der Verbannung schwebte.