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Der Familiensinn der Buonapartes, der tief in ihrem italienischen Nationalcharakter begründet lag, hat sich in allen Schicksalen ihres Lebens glänzend bewährt. Auch jetzt beim Tode des Vaters. Die älteren Söhne, obwohl selbst kaum den Kinderschuhen entwachsen, begriffen alsbald, daß es nun ihre erste Pflicht sei, der Mutter beizustehen und sie in ihrer schweren Lebensaufgabe nach Kräften zu unterstützen. Der Älteste, Josef, gab daher gleich seinen Plan auf, Geistlicher zu werden, und ließ sich als Jurist in Ajaccio nieder. Der Zweitgeborne, Napoleon, der inzwischen Leutnant geworden war, eilte im ersten Urlaub, den er erhielt, von einer verzehrenden Sehnsucht nach der Heimat, nach der Mutter ergriffen, in das Vaterhaus von Ajaccio zurück. Er findet die Mutter fast unverändert, in all ihrer Stärke und all ihrem Ernst wieder. Sie drängt ihren Witwenschmerz zurück, um die jungen Söhne nicht fassungslos zu machen. Wie sonst ist sie ihnen eine verständige, gütige Beraterin und Vertraute. Die Söhne wissen wohl auch, was sie an dieser Mutter haben. Sie helfen ihr bei der Erziehung der kleinen Geschwister, so gut ihre Jugend und ihre Urlaubszeit es ihnen erlaubt. Immer noch sind alle Hoffnungen für die Erziehung auf Freistellen gerichtet, aber vergeblich bettelt Frau Buonaparte für ihre Kinder Lucian und Louis an allen möglichen maßgebenden Stellen. Über Frankreich ballen sich schon schwere Gewitterwolken, man hat dort wohl schon nicht mehr Zeit und Stimmung, sich mit Bettelbriefen aus der Provinz abzugeben.
So wirtschaftet Frau Lätitia denn weiter, so gut es eben geht. Ein alter Onkel, der Archidiakon Buonaparte, ein von der Gicht halb gelähmter Greis, steht ihr bei, soweit seine Kräfte und sein Geiz es erlauben, denn der alte Herr ist geizig wie ein rechter Italiener und er findet in diesem Punkt an der jungen Nichte eine gelehrige Schülerin. Es ist lächerlich, wenn einige, den Buonapartes blind ergebene Historiker vertuschen oder wegleugnen wollen, daß Frau Lätitia zäh am Gelde hing. Ihre Einwendungen, sie sei erst unter dem Druck der Notwendigkeit zu jener Sparsamkeit vorgedrungen, die aufhört eine Tugend zu sein, scheinen ziemlich hinfällig. Man wird als Geizkragen geboren, wie man als Genie geboren wird – weder Harpagon noch Napoleon kann erlernt werden. Es ist auch gar nicht so schlimm, daß Lätitia geizig war, warum sollte nicht auch sie menschlichen Schwächen unterworfen sein, noch dazu einer Schwäche, die wiederum aus dem Nationalcharakter kam und ihr und den Ihrigen zeitlebens nur genützt hat?!
… Der alte Archidiakon hamsterte also insgeheim zusammen, soviel er nur konnte, und verbarg nach guter, alter Sitte seine Geldsäcke zwischen der Bettstelle und der Matratze. Er hatte aber nicht mit seiner hoffnungsvollen Großnichte Pauline gerechnet, mit Paulinchen, dem schönen, vielverlästerten enfant terrible der Familie Buonaparte. Wie das Paulinchen im Struwwelpeter, war wohl auch Paulinchen Buonaparte einmal allein im Hause des Onkels oder wenigstens ohne Aufsicht, und sann auf Unfug. Da entdeckte das gute Kind die Geldsäcke in Onkels Bett und hatte nichts Eiligeres zu tun, als alle Geschwister herbeizurufen und das Geld auszuleeren, daß es lustig klirrend über den Fußboden hinrollte. Die sämtlichen männlichen und weiblichen Schlingel Buonaparte, die ältesten Brüder nicht ausgenommen, wollten sich totlachen vor Vergnügen, aber den alten Herrn, der dazu kam, traf vor Schreck fast der Schlag, und Frau Lätitia, die gerufen wurde, ließ gleich ein mütterliches Donnerwetter niedergehen. Geld war eine ernsthafte Sache, mit Geld scherzt eine echte Italienerin nicht, und Frau Lätitia, die im Geldpunkt keinem Menschen traut, entfernt ihre Sprößlinge eilends aus der Nähe des verführerischen Goldes. Lieber bückt sie sich selber fünfzig-, hundertmal, kriecht unter alle Möbel, kratzt mit den Nägeln in allen Fugen, bis die Säcke wieder straff gefüllt sind und der alte Onkel auf ihnen wieder ebenso sanft schlafen kann, wie auf einem guten Gewissen. In seinen wachen Stunden aber beteuert er sowohl der Nichte wie ihren Kindern unaufhörlich, daß all das schöne Geld nicht etwa sein Eigentum, sondern nur ihm anvertrautes Gut sei. – Die äußerste Sparsamkeit Lätitias und ihr Drang, Geld zu bewahren, hat übrigens bei der Erziehung ihrer Kinder die besten Früchte gezeitigt. Der Artillerieleutnant Napoleon schreibt ihr von Auxonne aus: »Ich habe hier keine andere Zerstreuung als die Arbeit, ich nehme nur eine Mahlzeit täglich zu mir und befinde mich dabei außerordentlich wohl.« Ein echter Sohn Lätitias brachte er es denn auch fertig, als Provinzleutnant ohne Schulden und ohne Zulage aus dem Elternhause auszukommen. –
Trotz ihrer vielen und zum Teil schon erwachsenen Kinder fände Lätitia Buonaparte, die immer noch eine hübsche Frau ist, manchen Freier. Die Freundinnen in Ajaccio, denen es fast unmöglich scheint, ein Leben ohne den Schutz, ohne die Hilfe des Mannes zu führen, reden ihr eifrig zu, sich doch wieder zu vermählen und einem neuen Gatten alle Existenzsorgen zu überlassen. Aber die schmächtige, kleine Frau weiß es besser. Ihr Gesicht mit der schmalen Stirn gleicht wohl immer noch dem einer nervösen byzantinischen Prinzeß, aber hinter dieser Stirn haben die Gedanken schon allzu unablässig Sorgen umkreist, als daß sie noch einmal von Liebesglück und Ehe träumen könnte. Lätitia ist noch stark genug um zu leben, zu streiten, aber sie ist zu müde zur Ehe. Dreizehn Geburten haben zwar nicht ihr Herz, nicht ihren Geist, nicht ihre Tatkraft abgestumpft, wahrscheinlich aber ihre Sinne. Und ihr Stolz lehnte sich auch dagegen auf, einem fremden Manne die Kinder des ersten aufzubürden. Nein, Lätitia Buonaparte, die einst, Napoleon im Schoß, als Heldin durch das Feuer der Schlachten, durch das Grauen der Bergwildnis zog, Lätitia Buonaparte wird umringt von ihren Söhnen und Töchtern, einsam durch alle Schlachten des Lebens schreiten und durch das Grauen der Armut. –
*
Immer näher wälzt sich die Sturmflut an Frankreich heran, vorläufig scheint alles noch ziemlich friedlich zu gehen, sieht mehr nach Entwicklung, denn nach Umsturz aus. Der Staat, von dem Louis XIV. einst mit wegwerfender Prahlerei sagen durfte: » L'état c'est moi,« ist ein Verfassungsstaat geworden. Der sechzehnte Ludwig hat die Konstitution beschworen und ist immer noch König oder heißt wenigstens so. Mit erstauntem Gesicht und kläglichen Puppenspielerbewegungen übt er immer noch die Geste des Herrschers. Er heißt »König«, aber Herr in Frankreich ist die Nationalversammlung.
Aus hundert und aber hundert Kehlen wirft sie einen Schrei übers Meer nach der grauen Nebelküste Britanniens hin: »Paoli, Paoli!« Der Mann, dem er gilt, vernimmt ihn, und er eilt über starre Klippen herab dem Hafen zu, wo das Schiff liegt, das ihn nach Korsika tragen soll. Seine sehnsüchtige Ungeduld drängt den Kiel, daß er wie ein Pfeil dahinfliegt, den Gestaden der Heimat entgegen. Mit durchsichtigen Fingern breitet die Nacht flimmernde Schleier über den Ozean, mit glühenden Händen reißt sie ihm der Tag wieder weg; durch Nacht und Tage aber steht Paoli am Mast oder geht mit nervösen Schritten der Erwartung auf Deck hin und her, in Vergangenheit und Zukunft wühlend.
Die blauen Wellen des Mittelmeeres laufen ihm voran, springen an den Ufern der Insel hoch empor, als wollten sie die ersten sein, die es verkünden … Nun flüstern es drinnen im Hochwald die Rosen den Myrten zu, und die Edelkastanien rauschen es den Tannen. Die alten Steineichen recken sich, daß sie's hinauftragen können zu den Glocken in den Türmen, die es mit erzenen Zungen den Menschen unten verkünden. Die stehen erstaunt und erschüttert, als träte mit eins ein langverklungener, heroischer Traum in Fleisch und Blut vor sie hin. Nun flüstert und rauscht und braust und hofft und jubelt ganz Korsika: »Paoli, Paoli!«
Die Nationalversammlung hatte Paoli, der einst vor dem Vertreter des ancien régime geflohen war, als Generalgouverneur seiner Insel zurückberufen. Zwanzig Jahre hat er im Exil gelebt, zwanzig Jahre Erinnerungen brachte er mit. O Süße und Qual ohnegleichen, nach so langer Zeit wieder die ersten Schritte auf heimatlicher Erde zu tun und dem nachzuspüren, was war und nicht mehr ist, oder was anders geworden ist … Viele, die mit ihm jung waren, liegen auf dem Friedhof von Ajaccio; Knaben, die damals mit Bällen und Kreiseln spielten, sitzen jetzt schon in Amt und Würden. Karlo Buonaparte, der so tapfer mit ihm gekämpft, wird nie mehr zu ihm sprechen; in das Gesicht der schönen Lätitia, die kühn neben dem Gatten geritten und gestritten, haben Zeit und Sorgen schon ihre schmerzlichen Runen geschrieben. Das Kind, das sie damals auf den Armen trug, plädiert jetzt schon als Rechtsanwalt, das andere, das noch nicht geboren war, ist Artillerieleutnant. Einen dritten ihrer Söhne, Lucian, kennt Paoli noch gar nicht; aber die erwachsenen Kinder Lätitias kommen dem Freiheitshelden Korsikas, dem Freund und Gesinnungsgenossen ihres verstorbenen Vaters, mit der größten Verehrung und Liebe entgegen. Der Artillerieleutnant wirft sich ihm mit so glühender Bewunderung, mit solch unbedingter Hingabe an die Brust, daß trotz des großen Unterschiedes der Jahre bald ein wirkliches Freundschaftsband den alternden Paoli und den jugendlichen Napoleon umspannt. –
Lätitia war jedenfalls von Herzen froh, daß Paoli wiederkam, und daß er nun der erste Mann der Insel war; war froh, nicht nur als Patriotin, sondern auch als Familienmutter, die jeden Tag ihren Pack Sorgen zu schleppen hat und von einem allmächtigen Freund der Familie ein wenig werktätige Teilnahme, vor allem etwas Protektion für die Söhne erhoffen darf. Etliche Zeit ist auch die Harmonie zwischen den Häusern Paoli-Buonaparte ungetrübt, besonders als der Artillerieleutnant das Bataillonskommando der Nationalgarde in Ajaccio erhält und so in dauernden Verkehr mit seinem Beschützer und Freund bleiben kann. Schon aber zeigt sich, daß Paoli in den zwanzig Jahren seines Exils sich in nichts geändert und seine englischen Sympathien bewahrt hat. Nach der Hinrichtung des Königs tritt er ganz offen mit ihnen hervor: Er wird die Insel von der neuen Regierung losreißen und an England übergeben. Aufs neue tobt Kampfgeschrei durch Korsika, heftig befehden sich Anglo- und Frankophilen. Die Paolisten wollen lieber dem Briten gehören, als dem Jakobiner; die demokratischen Elemente dagegen halten eisern fest an dem Treueid, den sie Frankreich geleistet hatten. Zu ihnen gehört auch die Familie Buonaparte.
Paoli versuchte natürlich, die jungen Freunde zu seinen Ansichten zu bekehren. Er stieß aber bei allen dreien auf den gleichen Widerstand. Nun wendete er sich an die Mutter, rief ihren starken Willen an und den Einfluß, den sie seiner Ansicht nach auf ihre Söhne ausübte. Er verhandelte mit ihr und ließ mit ihr verhandeln, wie mit einer politischen Persönlichkeit.
Es wäre aber ganz falsch, wenn man sich Lätitia als politische Persönlichkeit oder als eine, aus eigener Erkenntnis fanatische Parteigängerin vorstellen wollte. Dazu war sie viel zu einfach, zu ungelehrt, viel zu sehr Frau von altem Schrot und Korn. Sie hatte gegen Frankreich gestritten, als ihr Mann dagegen stritt; sie band sich an Frankreich, als ihr Mann sich band, und hielt jetzt dies Bündnis wie ein Vermächtnis des Verstorbenen fest. Wenn Paoli trotzdem mit ihr wie mit einer Gleichartigen und Gleichberechtigten verhandelte, so tat er es wohl, weil es ihm würdiger schien, wenn er die Meinung einer reifen Frau umwarb, als die von drei jungen Hitzköpfen, die mit dem ganzen Überschwang und der Phantasterei ihrer Rasse und ihrer Jahre auftraten. Er tat es wohl auch, weil der Familiensinn in Korsika sehr ausgeprägt war und man immerhin annehmen durfte, daß, sobald die Mutter gewonnen war, die Söhne bald von selber nachkommen würden. Von einem übergroßen Einfluß Lätitias auf ihre Söhne kann aber jetzt kaum die Rede sein, der Artillerieleutnant wenigstens war ihm nicht weiter zugänglich, als andere kluge und eigenwillige junge Leute dem Einfluß der Mutter eben zugänglich sind. Er war ihr herzlich zugetan, ließ sich, wenn er an Gemütsdepressionen litt, willig von ihr trösten und aufrichten, nahm sich's wohl auch zu Herzen, wenn sie ihm, dem rastlos nach Betätigung Drängenden, in ihrer gescheiten, zähen Bauernart sagte: »Warten können! Es ist nicht leicht, Napoleon, aber wer etwas erreichen will im Leben, muß warten können;« jedoch irgendwelchen positiven Einfluß, die Fähigkeit, seinen Willen zu lenken oder zu meistern, hat sie gewiß nicht besessen. Es hat sich das wenige Jahre später bei seiner Heirat und bei vielen anderen Gelegenheiten deutlich gezeigt. Ihre Gestalt mag vielleicht an Größe verlieren, da man ihr eine Macht abspricht, die ihr verliebte oder schmeichlerische Historiker angedichtet haben und an die auch vielleicht ihr Sohn glaubte, als er auf St. Helena sein Leben nur mehr zurückschauend betrachtete und erläuterte. Was sie an Größe verliert, gewinnt sie an Menschlichkeit, da sie, vom Piedestal der Heroenmutter herabgestiegen, das typische Schicksal der Mutter erwachsener Söhne erträgt.
Paoli wendete sich also an Frau Lätitia, um die Familie Buonaparte, die ja auf Korsika immer noch großes Ansehen genoß, zu gewinnen, stieß aber auf Widerstand. Sie war Ludwig XVI. herzlich ergeben gewesen und hat es ihm zeitlebens gedankt, daß er ihre Söhne in seinen Schulen erziehen ließ, aber das hinderte sie nicht, auf die neue Regierung, die ihn gemordet hatte, die alte Treue zu übertragen. Als echte Landbewohnerin war sie von konservativer Natur, Neuerungen schwer oder gar nicht zugänglich. Sie ließ sich auf gar keine Differenzierungen ein. Korsika gehörte zu Frankreich – basta: Wer daran rüttelte, war in ihren Augen ein Verräter. Als Paoli, der schon die Landung eines englischen Heeres erwartete, ihr klar machen wollte, daß es Verhältnisse gäbe, in denen die Untreue zum Gesetz wird, da fand Lätitia eines jener Worte, die wie aus Erz geschmiedet und noch von Römerzeiten her unvergessen in der Luft Ajaccios zu schweben scheinen: »Wir kennen keine anderen Gesetze als die der Pflicht und der Ehre.« Nach diesen Worten war jedes Band zwischen den Buonapartes und Paoli zerrissen. An Stelle der alten Freundschaft trat der Haß. Ein Haß, der um so grimmer wütete, weil er weniger aus Leidenschaften, denn aus Enttäuschungen aufgewachsen war. Paoli, maßlos in jedem Gefühl, sinnt jetzt nichts anderes, als die Buonapartes zu verderben. Er, der vergötterte Held, schämt sich nicht einmal, eine wehrlose Frau mit kleinen Kindern zu verfolgen. Den tüchtigsten ihrer Söhne, der inzwischen Hauptmann geworden war, hat er schon früher unter dem Vorwand dienstlicher Angelegenheiten von Ajaccio entfernt und nach Bonifazio geschickt. Bald ist Napoleon seines Lebens ebensowenig sicher, wie die Brüder Josef und Lucian, die sich in Verkleidungen und auf Schleichwegen unter tausend Gefahren den Verfolgungen der Paolisten zu entziehen versuchen. Denn Paoli, der Zornrasende, hat nicht nur die dürftigen Liegenschaften der Familie konfiszieren und ihren Namen auf die Proskriptionsliste setzen lassen, nein, er hat auch das abscheuliche Wort gesprochen: »Die Buonapartes müssen mir ausgeliefert werden, gleichviel ob lebendig oder tot!« – Eine Frau mit acht Kindern – gleichviel ob lebendig oder tot! – Man merkt, daß Paoli der rechte Sohn seiner Zeit war, die mit Menschenleben umging, als wären es Distelköpfe.
Frau Lätitia, die Starke, verliert auch jetzt die Fassung nicht. Sie beschwört die ältesten Söhne fast kniefällig, nicht um ihretwillen, zu ihrem Schutz in Ajaccio zu bleiben, sondern mit nach Frankreich zu entfliehen. Als sie die Söhne, wenn auch noch nicht in Sicherheit, so doch wenigstens nicht mehr in Ajaccio wußte, wurde sie ruhiger. Kampf und Verfolgung waren ihr ja nichts Neues, früher hatte man mit Paoli gestritten, nun gegen ihn, – das war der ganze Unterschied. Sie hoffte noch so lange unbehelligt zu bleiben, bis die Söhne einen sicheren Ort gefunden hatten, an dem die Mutter sich wieder mit ihnen vereinen konnte. Sie dachte einen Augenblick daran, ihr kleines Landhaus Milelli, das tief im Weingelände versteckt lag, zu beziehen, stand aber wieder davon ab, weil es ihr in seiner Einsamkeit und seiner Einfachheit doch gar zu wenig Schutz zu bieten schien. So wohnte sie denn noch immer in der Casa Buonaparte, glaubte wohl nicht recht daran, daß Paoli so sehr aller alten Freundschaft vergessen könnte, um der Witwe Karlos nach Freiheit und Leben zu trachten. Glaubte nicht recht daran, rechnete aber doch mit der Möglichkeit. Viele Nächte lang kommt Lätitia nicht mehr aus den Kleidern. Indes die Kinder den glücklichen Schlaf der Jugend schlafen und nicht daran denken, daß in eben dieser Stunde vielleicht schon der Feind die Hand nach ihnen ausstreckt, sitzt die Mutter wach auf, horcht spähend hinaus ins Dunkel, und wenn sie sich einmal von Müdigkeit übermannt für ein paar Stunden hinlegt, empfängt sie nur einen dämmernden Halbschlummer, wie ein Soldat, der jeden Augenblick bereit sein muß, aus dem Schlaf in die Schlacht zu gehen. Eines Nachts scheint sich dann das Gefürchtete zu vollenden – –
Lätitia fährt aus wirrem Traum empor und sieht ihr Gemach angefüllt mit düstern, vermummten Gestalten. Das Herz will ihr stillstehn, denn sie denkt, daß es Paolis Häscher seien. Der Schein einer Fackel aber beleuchtet das Gesicht des einen, und sie erkennt in ihm Costa, einen Freund der Buonapartes aus Bastia. Zusammen mit anderen Freunden aus zerstreuten Dörfern und Gehöften ist er gekommen, um die Familie zu retten, die sonst morgen schon der Rache Paolis verfallen soll. Da gibt es kein Besinnen, keinen anderen Gedanken mehr als den an das nackte Leben. Lätitia weckt die Kinder, die heiß geschlafen, noch vom Traum umfangen, die Mutter anstarren und kaum recht verstehen, was sie zu ihnen spricht. Nichts mit sich tragend als die Kleider, die sie sich in Eile überwerfen, schreiten Mutter und Kinder in tiefer Nacht zwischen Freunden dahin, begleitet von Abbé Fesch, dem Stiefbruder Lätitias, der ihr in all der harten Zeit schon beigestanden hat und ihr in allen künftigen bösen und guten Tagen eine unverbrüchliche Anhänglichkeit wahren wird.
Lätitia erlebt aufs neue, was sie schon vor fünfundzwanzig Jahren erlebt hat: flüchtig und verfolgt irrt sie in Wäldern und Gebirgen umher, nur grauer, trostloser scheint alles als damals. Damals war sie jung, hatte einen Gatten zur Seite und Heimatsboden fest unter den Füßen. Heute zieht sie mit fünf Kindern, abhängig vom guten Willen Fremder, aus der Heimat fort.
Die kleine Schar muß die größte Vorsicht aufwenden, um unbemerkt von Ajaccio nach dem Hafen von Capitello zu gelangen. Heerstraßen darf sie nicht betreten, bei jedem Dorfe, bei jedem Weiler, den sie in der Ferne erblicken, müssen sich die Flüchtlinge angstvoll fragen, ob dort wohl Freunde oder Paolisten wohnen. Einmal schaut Lätitia zurück auf Ajaccio, das scheinbar immer noch in tiefem Frieden der Nacht schläft. Scheinbar, – denn eine rauchige, glutende Säule, die aufsteigt, verkündet mit feurigem Zeichen, daß Menschen die heilige Stille mit ihrem Haß entweiht haben. Die Casa Buonaparte ist's, die da in Flammen aufgeht. Paoli hat sie dem Pöbel zur Plünderung, zur Vernichtung preisgegeben.
Die Kinder schreien laut auf, wollen weinen und jammern. Auch die schlichten Freunde aus den Bergen stehen empört und ergriffen. Lätitia aber vergießt keine Träne, findet kein Wort, das weich macht oder von Rührung zeigt. Sie ist nicht nur tapfer im landläufigen Sinn; sie gehört zu den schweren, kostbaren und dunklen Naturen, die vorbestimmt sind zum Ertragen, die wenig Talent haben für das Glück, aber mit jedem Schlag, der sie trifft, größer werden, bis sie ins Heldenhafte gewachsen sind. Da Lätitia ihr Haus brennen sieht, da sie die erbärmliche Rache Paolis erkennt, steift Trotz ihr den Nacken, und sie, die all ihr Leben lang fester an das Unglück als an das Glück ihrer Familie geglaubt hat und glauben wird, sie sagt den Kindern ein Trostwort, das prophetische Bedeutung gewinnen soll: »Laßt doch, wir bauen uns das Haus später viel schöner wieder auf!«
Es bleibt übrigens keine Zeit, um sich Empfindungen oder Reflexionen hinzugeben. Die Freunde drängen weiter, jede Minute ist kostbar. Wie vor fünfundzwanzig Jahren schleicht Lätitia durch unheimliche Forste, klettert über Felsschroffen und schwindelerregende Schluchten. Die halbwüchsige Marie-Anne, die sich in Saint-Cyr nichts mehr von den Rauheiten solcher Pfade hatte träumen lassen, läuft sich auf den Steinen die Füße wund. Dornen und Gestrüpp reißen den kleineren Kindern die Kleider in Fetzen, die Händchen blutig. Leise schluchzend, zu Tode erschöpft, wanken sie neben der Mutter und dem geistlichen Oheim einher, der, wenn es der Weg gestattet, abwechselnd eins oder das andere von ihnen trägt. Man nächtigt in Felshöhlen oder in unwegsamen Waldwinkeln, mit ein paar Lumpen deckt man die Kinder zu, die wieder ihren glückseligen Jugendschlaf finden, kaum, daß sie sich hingelegt haben. Lätitia aber bleibt wach, bedrängt von Sorgen, die jeden Schlaf verscheuchen. Die fünf hier bei ihr sind in Sicherheit, oder wenigstens weiß sie, daß sie da neben ihr schlafen, wo aber sind die anderen drei? Wo sind die erwachsenen Söhne, die der bedrängten Familie späterhin einen Halt geben sollen? Wo ist ihr Ältester, Josef, der brave Junge, der zwar an Begabung nicht hervorragt, aber der Mutter so unbedingt ergeben und anhänglich ist? Wo ist Napoleon, ihr Sorgenkind, ihr Stolz, ihr am meisten ähnlich an Wesen und Willen? Wo ist Lucian, der wohl, wenn sie's auch nie eingestanden hat, ihrem Herzen immer am teuersten war, vielleicht gerade weil seine weichere, sonnigere Art von der ihren und der ihres besten Sohnes so verschieden ist? Wo sind sie? Die Mutter weiß es nicht, sie hofft nur, Napoleon in Capitello zu treffen, wo sie die französische Flotte erreichen wollen. Hofft es und muß doch immer wieder fürchten, daß vielleicht alle drei schon der Rache Paolis erlegen sind.
Nach unsäglich mühevollen Märschen nähert man sich endlich Capitello, dem nicht fern Milelli, das Landhaus der Buonapartes, liegt. Schon will ein süßes Gefühl nahender Sicherheit die Gehetzten beschleichen, da bietet sich ein neues Hindernis, das die Flucht verzögert, vielleicht die Frucht all der erlittenen Mühsale vernichtet. Es gilt, einen Fluß zu überschreiten. Aber er ist angeschwollen, ist so reißend, daß wohl starke Männer ihn durchwaten können, nicht aber eine schmächtige Frau und Kinder. Auch dem einzigen Pferdchen, dem man allerlei Proviant aufgepackt hat, kann man die Strapaze der Überquerung nicht zumuten. Es hat all die Zeit brav genug gearbeitet, hat nicht nur die Mundvorräte geschleppt, sondern zeitweise auch drei, vier erschöpfte Kinder. Den Weg durchs Wasser ist es nicht gewöhnt. Man kann es also nicht wagen, ihm eine menschliche Last über die Stromschnelle weg anzuvertrauen. Dazu muß schon ein sicherer, vierfüßiger Fährmann her, der die Tücken des Wasserweges kennt.
Glücklicherweise erinnert sich einer der Freunde, daß in der Nähe ein Bauer haust, dessen Pferd gewöhnt ist, den Fluß zu überqueren. Es wird nicht schwer, das Pferd auszuleihen: auf seinem Rücken schwimmen zuerst Lätitia und zwei ihrer Töchter, dann der Abbé Fesch mit den anderen Kindern hinüber. Tropfnaß, blaß vor Erregung und Angst über den seltsamen Ritt, lagern sie dann an einem Abhang, um sich zu erholen und ihre Kleider ein wenig zu trocknen. Neben ihnen grast friedlich das rettende Pferd …
Da horch! Unfern von ihnen, die ein barmherziges Gebüsch versteckt, werden rauhe Männerstimmen laut. Ein Trupp Bauern nähert sich, Paolisten, die nach Ajaccio wollen. Sie malen sich's in Worten schon aus, wie sie in der Casa Buonaparte mitplündern werden. Wenn sie ahnen könnten, daß hier, keine drei Schritte von ihnen entfernt, die ganze Familie beisammen kauert!
Sekunden, die sich zu Stunden, Minuten, die sich zu Jahren dehnen, eine jener fürchterlichen Viertelstunden, wie jeder Mensch sie nur ein- oder zweimal erlebt, weil er sie nicht öfter zu überdauern vermöchte, Herzschläge, die stocken und erst wieder anheben, wenn mit der drohenden Gefahr auch Jahrzehnte vergangen zu sein scheinen …
Lätitia macht ihren Kindern ein warnendes Zeichen. Alle bleiben still, halten den Atem an. Lätitias Augen hängen in wahnsinniger Angst an dem Pferd. Wird es die Gefahr wittern? Wird es regungslos bleiben wie die Kinder oder durch eine einzige, fatale Bewegung, durch einen Huf- oder Schweifschlag, durch ein hörbares Mähnenschütteln sie alle verraten?
Näher und immer näher kommen die Bauern. Friedlich, lautlos grast der Gaul weiter, bis die Stimmen der Verfolger verhallen. Von allem, was sie damals erlitten, ist Lätitia nichts so deutlich im Gedächtnis geblieben, als die Not und die Dankbarkeit, die sie in jenen Minuten empfand, da ihr Schicksal von einem Tier abhing, das, seiner angeblichen Unvernunft zum Hohn, doch klug und vorsichtig war wie ein Mensch.
Endlich ragen die weißen Türme von Capitello auf. Erschöpft, struppig, in zerlumpten Kleidern, mit fahlen, übernächtigen Gesichtern, wanken die Geretteten am Meeresstrand hin. Der Anblick der französischen Schiffe allein genügt, um sie mit Hoffnung und Freude zu erfüllen. Dann löst sich von einer der Fregatten eine Schaluppe, ein kleiner, magerer Artillerist sitzt darin, der hastig dem Ufer zusteuert und ans Land springt, noch ehe sie verankert ist – Napoleon.
Ein französisches Kauffahrteischiff nimmt Lätitia Buonaparte und ihre fünf Kinder auf, um sie nach Marseille zu bringen. Hinter ihnen liegt Korsika, die Heimat, das Glück. Vor ihnen liegt Frankreich, die Fremde, das Elend. – – –