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XII.
Einer aus der neuen Gesellschaft.

Sechs Monate waren vergangen seit dem 17. October 1797, dem Tage an welchem der junge republikanische Held Bonaparte, nach einer unvergleichlichen Siegeslaufbahn in Italien, den für Frankreich so ruhmvollen, für Oesterreich demüthigenden Frieden von Campo Formio abgeschlossen hatte. In der Republik erblühte überall neues Leben; nur die Lage des Adels änderte sich nicht zum Bessern, wie ihm selber schien; kamen doch bis dahin ganz unbekannte bürgerliche Namen plötzlich zu Ruhm, Ehren und Reichthum.

In den Verhältnissen der Marquise von Neuville war keine Aenderung vor sich gegangen. Sie blieb arm, von den Glücklichen vergessen, das Schutzkind eines Greises, sie selbst die Beschützerin eines Kindes. Von dem Marquis hatte man auch jetzt noch keine Nachricht erhalten. Delphinens ganzes Leben schien der Einsamkeit, dem Witthum und der Arbeit anheimfallen zu sollen. Mit diesem Gedanken aber konnte die Marquise sich nicht versöhnen.

Der Abend dämmerte herein, nicht anders als die frühern, welche alle einer dem andern glichen. Delphine hatte eine Nadelarbeit vor sich, während Vincenz in einem Erbauungsbuche las und Charlotte auf einem kleinen Klavier, das Herr Durval ihr geliehen hatte, eine leichte Sonate spielte. Von der Küche her hörte man das Hin- und Herwirthschaften des Dienstmädchens. Nach der ausnahmslosen Tagesordnung hatte man über eine Stunde den Musiklehrer Durval zu erwarten, der Charlotten alsdann eine kleine Lection in Spiel und Gesang gab und nach derselben die ihm zu Ohren gekommenen Tagesneuigkeiten erzählte. War er fort, so nahm Vincenz seine Schreibarbeiten wieder auf; Delphine copirte allenfalls eine, oder wenn es ganz gut ging, auch zwei Seiten Noten, und Charlotte legte sich schlafen. Das war der gewöhnliche Verlauf der Dinge. Nichts unterbrach die Einförmigkeit der Tage, die freilich ohne große Last und Hitze, aber auch ohne Zerstreuungen verflossen, zu ruhig, als daß man sie unglücklich, und so monoton, daß man sie nicht glücklich nennen konnte.

Die Marquise glaubte eben wieder »vor Langweile vergehen« zu sollen, als unerwartet und heftig die Thürklingel gezogen wurde.

Vincenz fuhr von seinem Stuhle auf und rief: »So lärmt Professor Durval nicht; was kann es sein?«

Die Thüre wurde aufgerissen; ein Mann von hohem Wuchs und in Uniform stürmte in das Gemach und warf sich dem Alten um den Hals. »Mein Oheim, mein guter Oheim, endlich sehe ich dich wieder!« sagte er zärtlich.

Vincenz machte sich einen Augenblick lang von dem Offizier los, um ihn ordentlich betrachten zu können. Dann umarmte er ihn um so leidenschaftlicher wieder und stieß mit thränenerstickter Stimme hervor: »Mein guter Marcel, du bist es wirklich!«

Sie betrachteten sich eine Zeit hindurch schweigend. Aus Marcel, den sein Adoptivvater als jungen Burschen zu den Fahnen hatte abziehen sehen, war ein Mann geworden; seine Stirne war gebräunt und mit Narben bedeckt, die der stattlichen Figur nicht nur keinen Eintrag thaten, sondern ihr männlich schönes Aussehen noch erhöhten. Der Degen und die Epauletten mit Goldtroddeln standen dem jungen Offizier vortrefflich.

Während Oheim und Neffe sich begrüßten, hatte Delphine sich in einen düstern Winkel des Zimmers zurückgezogen, und Charlotte war ihrer Mutter dorthin gefolgt. Marcel aber gewahrte sie bald. Einen Schritt näher tretend, verbeugte er sich tief und in einer Weise vor ihr, welche das Wort La Bruyère's rechtfertigte: »Bürgerliche Abkunft verräth sich nicht selten am Hofe, selten im Offiziersrock.«

Vincenz beeilte sich, seine Schützlinge vorzustellen. Er that es mit den Worten: »Die Frau Marquise und Fräulein Charlotte, die Tochter unseres guten Herrn, des Marquis von Neuville.«

Marcel grüßte aufs neue, aber dies Mal weniger tief; das Wort »Herr« übte augenscheinlich Einfluß auf seine Höflichkeitsbezeugungen.

Delphine richtete einige verbindliche Worte an ihn, welche zugleich dem Gefühle der Dankbarkeit gegen Vincenz Ausdruck gaben.

Nachdem hiermit der Etiquette Genüge geschehen war, nahm Marcel seine ungezwungene Heiterkeit wieder an. Er setzte sich an die Seite seines Oheims, und da hatten sie denn Beide genug mitsammen zu plaudern. Die Fragen durchkreuzten sich förmlich, wie das nach mehrjähriger Trennung leicht erklärlich ist. Vincenz kam mit kurzen Antworten davon, da die Erkundigungen Marcel's sich nur auf Verwandte und Freunde, welche daheim geblieben waren, bezogen. »Er ist todt« – »sie hat sich verheirathet« – »der ist wie du, Soldat geworden, aber noch nicht wieder zurück«, – weitere Auskunft hatte Vincenz nicht zu geben. Seine Fragen hingegen mußten meist mit langen Erzählungen beantwortet werden. Der Alte wollte wissen, wie sein Neffe, der als einfacher Soldat fortgezogen, stellvertretender Hauptmann geworden, auf welchen Staffeln er zum Ruhme emporgestiegen war, wo er seine Schmarren erhalten, wie oft er dem Tode in's Auge geschaut hatte. Die Stimme des Blutes war stärker, als die Kraft hergebrachter Ueberzeugungen: der alte Royalist bemerkte zu seiner eigenen Ueberraschung, daß er dem republikanischen Soldaten mit Sympathie zuhörte und mit ihm den jungen Helden von der Brücke von Arcole und von Marengo fast bewunderte.

Marcel unterbrach sich selbst. In ehrerbietigem Tone erkundigte er sich bei seinem Oheim über das Schicksal des Marquis von Neuville.

»Wir haben seit lange keine Nachrichten über ihn,« antwortete Vincenz. »Aber ich rechne auf dich, um für den Exiliirten einige Schritte zu thun. Wir sprechen nächstens mehr darüber.«

Die Pendule zeigte elf Uhr; so spät hatte man sich in der Einsiedelei des botanischen Gartens noch nie zur Ruhe begeben. Charlotte schlief bereits; ihre Mutter aber wachte noch lange und konnte nicht begreifen, wie so rasch die vorhergehenden Abendstunden entflohen waren.

Marcel kam am andern Morgen und beinahe an allen folgenden Tagen wieder. Die zärtliche Zuneigung, welche er von Kindsbeinen an für seinen Oheim gehegt hatte, schien sich während der langen Trennung noch vermehrt zu haben; und obwohl die Beiden zwei ganz entgegengesetzte Principien vertraten – das alte Régime und die Neuzeit, das Recht und die Gewalt, die Religiösität der Vergangenheit und die leidenschaftliche Hingabe an die Zukunft, – trotz diesen Widersprüchen des Geistes, verstanden sich ihre Herzen.

Nach Verlauf einiger Tage war Vincenz nicht mehr in dem Grade wie anfangs der Bewunderer des jungen Heldengenerals, der seinen Neffen zum Hauptmann erhoben hatte; die Ueberzeugungen und Traditionen seines langen Lebens kamen wieder zur Geltung, und sehr oft gestalteten sich die Abendunterhaltungen zu Discussionen, welche zwar sehr freundschaftlichen Tones, aber auch sehr lebhafter Art waren. Delphine nahm keinen directen Antheil daran; sie hörte bloß zu, ohne ein Wort einzumischen. Marcel, voll jugendlichen Uebermuthes, ein Kind seiner eigenen Thaten und stolz darauf, es zu sein, richtete seine Angriffe ohne Rückhalt gegen die Monarchie, den Klassenunterschied, die Privilegien, die sogenannten Rechte des Adels, den weltlichen Besitz des Klerus. Vincenz setzte gegen diese Angriffe alle Waffen aus dem Arsenal seiner geschichtlichen Kenntnisse in Thätigkeit, indem er sich in Lobpreisungen der alten Zeit erging, die Frankreich civilisirte. Für alle die vielen Mißbräuche der letzten Jahrhunderte, deren maßgebende Kreise die antiquirten Formen jener frühern Zeiten ausgebeutet hatten, ohne ihren Geist und ihr Wesen zu verstehen und zu besitzen, war er nicht blind, aber doch nachsichtig. Dabei kam es ihm trefflich zu Statten, daß er gegen die Greuel, durch welche die Neuzeit in Frankreich sich eingeleitet hatte, seinerseits die Offensive ergreifen konnte, indem er die Revolution ausmalte, wie er sie mit eigenen Augen angesehen hatte, – diese Revolution, welche »das schönste Königreich nächst dem Himmel« dem niederträchtigsten Auswurfe der Menschheit überantwortete, – ein reißender Kothstrom, der nur abgehauene Menschenköpfe auf seinen blutigen Wogen schwemmte, und an dessen stinkenden Ufern nichts als rauchende Ruinen standen. Aber solchen Unheilsnamen wie Robespierre, Couthon, Marat, Lebon, Schneider, Carrier setzte der junge Offizier andere entgegen, welche auf dem Ruhmesbanner strahlten, das wie ein glänzender Schleier das Unglück und die Greuel Frankreichs bedeckte. Wenn Vincenz die Tyrannen nannte, zählte er die Helden auf; war von Ruinen und Trümmern die Rede, so wies er auf die Zukunft hin, die das Niedergebrochene wieder aufbauen werde. Sein jugendlicher Enthusiasmus machte ihn beinahe beredt. Dann und wann, wenn er sich bewußt wurde, daß die Lebhaftigkeit der Discussion ihn zu weit fortgerissen hatte, unterließ er nicht, sich bei der Marquise zu entschuldigen in Phrasen wie diese: »Verzeihung, gnädige Frau! Hätten alle Adeligen Ihrer würdigen Familie geglichen, so würde das Volk sie gesegnet und geliebt haben. Aber, aber!« Darauf pflegte Vincenz etwa zu bemerken: »Du bist ein Schwätzer, Neffe, dessen Evangelium das Lügengewebe der Demagogen ist. Es kommt mir dies gerade so vor, wie wenn der Wolf im Processe gegen das Lamm das Protokoll führt.« Und nun entspann sich der Disput von neuem.

Merkwürdige Dinge gingen dabei mit der Marquise vor sich. Die hitzigsten Tiraden des jungen Republikaners gegen die Kaste, welcher sie selber angehörte, beleidigten sie keineswegs, und hinwiederum ließen die Entgegnungen des am Alten hangenden Vincenz sie kalt; sie gab diesem nicht einmal immer Recht und fühlte sich öfters geneigt, Marcel's Worten beizustimmen. Lächelnd gedachte sie der Zukunft des Ruhmes und der Macht, die er Frankreich und den Offizieren des jungen Helden prophezeite, dessen Genie alles erlittene Ungemach wieder ausgleichen werde.

Delphine wurde mit jedem Tage verschlossener und launenhafter; bisweilen verleugnete sie ganz ihren sanften Charakter. So schalt sie eines Abends heftig ihre Tochter, als diese naiv sagte: »Mama, mir gefällt Herr Marcel gar nicht, weil er immer auf die Geistlichen und die armen Adeligen schimpft.« Charlotte weinte wegen der erhaltenen Rüge; die Marquise schloß sich in ihr Schlafzimmer ein und weinte dort ebenfalls, – sie ließ sich den ganzen Abend nicht mehr sehen.

Auf das Drängen seines Oheims hin hatte Marcel beim Ministerium des Aeußern wiederholte Schritte gethan, um über das Schicksal des Herrn von Neuville Näheres zu erfahren. Aber vergebens; der Marquis war verschollen. »Frau von Neuville ist Wittwe,« sagte der Offizier endlich zu Vincenz.

»Ich glaube es so noch nicht,« erwiderte dieser. »Es fehlt jeder Beweis dafür. Kommen nicht tagtäglich Ausgewanderte von America, aus dem Innern Rußlands, selbst aus Indien zurück, welche ihren Anverwandten eben so wenig Nachrichten über sich hatten zukommen lassen? Nein, der Herr Marquis ist nicht todt; eine innere Stimme sagt es mir!«

»Bester Oheim, mache dir keine Illusionen! Bedenk' doch, wie alt der Herr von Neuville schon war!«

»Sechszig Jahre,« versetzte Vincenz. »Das will nichts heißen; sein Vater ist volle achtzig, sein Großvater neunundachtzig Jahre alt geworden, und ein Blick in das Familienbuch sowie auf die Grabschriften des Hauses zeigt, daß die Neuville ein fester Stamm sind. Er wird wiederkehren, sag' ich dir.«

Marcel schüttelte den Kopf; die Unterredung nahm ihren gewöhnlichen Ausgang: Keiner hatte den Andern zu seinen Ansichten bekehrt.


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